Krieg gegen Frauen
Eine feministische Perspektive auf den IGH-Beschluss im Verfahren Südafrika v. Israel
Die Beschlüsse des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zur israelischen Militäroperation in Gaza sind inzwischen aus zahlreichen Perspektiven diskutiert worden (siehe etwa hier, hier und hier). Wenig Beachtung hat dabei jedoch ein Aspekt erhalten, der sich im Kontext von Deutschlands „feministischer Außenpolitik“ geradezu aufdrängen müsste, namentlich die geschlechtsspezifischen Auswirkungen (gendered impacts) des Gaza-Krieges.
Die feministische Völkerrechtswissenschaft untersucht die geschlechtsspezifischen Ursachen, Modalitäten und Auswirkungen von völkerrechtsrelevanten Ereignissen. Wenn man den Beschluss des IGH im Verfahren Südafrika gegen Israel vom 26.1.2024 sowie die zugrunde liegende israelische Militäroperation in Gaza seit dem 09.10.2023 aus einer feministischen Perspektive betrachtet, stößt man u.a. auf folgende Kategorien: Erstens, die geschlechtsspezifischen Auswirkungen (gendered impact) der israelischen Militäroperation, der Vertreibung, der angeordneten Totalblockade und dem damit verbundenen unzureichenden Zugang zu humanitärer Hilfe. Zweitens, die geschlechtsspezifische Tatbestandsvariante des Völkermordes „Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind“, Artikel II lit. d der Völkermordkonvention. Dieser Beitrag zielt darauf ab, diese Dimension zu beleuchten und argumentiert, dass die fehlende mediale und juristische Berücksichtigung im Hinblick auf die zunehmend wachsende internationale Anerkennung reproduktiver Gewalt als Teil internationaler Straftaten sowie im Kontext der deutschen feministischen Außenpolitik besonders kritikwürdig ist.
Geschlechtsspezifische Auswirkungen (gendered impact)
Frauen, Mädchen und Kinder gehören zu den am stärksten gefährdeten Gruppen in diesem Konflikt. Die israelische Militäroperation in Gaza hat bis zum 29.04.2024 zu insgesamt 34.488 getöteten Palästinenser:innen geführt, davon 14.500 Kinder und 9.500 Frauen, mithin 70% Frauen und Kinder. Im Durchschnitt wurden täglich 63 Frauen, darunter 37 Mütter, getötet. Seit Beginn des Krieges in Gaza wurden geschätzt 17.000 palästinensische Kinder zu Waisen. Von den über 77.000 verletzten Palästinenser:innen sind geschätzt 75% weiblich. Im Lichte dieser drastischen Zahlen spricht UN Women gar von einem „Krieg gegen Frauen“.
Auch die zunächst geschlechtsneutral erscheinende Vertreibung von 1,7 Millionen Palästinenser:innen hat im Ergebnis geschlechtsspezifische Auswirkungen. Palästinensische Frauen auf der Flucht waren Berichten zufolge der Gefahr willkürlicher Inhaftierung und Belästigung ausgesetzt. In Familien mit Angehörigen, die sich aufgrund ihres Alters, aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht selbst bewegen können, bleiben überproportional oft Frauen als Caretaker zurück. Nach Angaben von UNFPA und UN Women leben nahezu eine Million Frauen und Mädchen in überfüllten Notunterkünften, denen es an angemessener Wasser-, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen sowie Raum für Privatsphäre mangelt. Das führt zu einem erhöhten Gesundheitsrisiko, insbesondere für die geschätzten 155.000 schwangeren, gebärenden, post-partum oder stillenden Frauen. Zudem erhöht der Mangel an Menstruationshygieneartikeln das Infektionsrisiko für Frauen und Mädchen.
Frauen und Kinder sind insbesondere durch die Trennung von ihrer Familie und dem damit verbundenen Verlust von Schutz inmitten der zunehmenden Präsenz israelischer Streitkräfte und weitverbreiteter geschlechtsspezifischer Gewalt einem verschärften Risiko ausgesetzt. Dieses ist vor dem Hintergrund des völligen Zusammenbruchs des Rechtssystems in Gaza nicht zu unterschätzen.
Ebenso hatte die vom israelischen Premierminister Netanyahu angeordnete Totalblockade und der damit verbundene unzureichende Zugang zu humanitärer Hilfe geschlechtsspezifische Auswirkungen. 1,1 Millionen Menschen in Gaza sind von einem „katastrophalen Level von Ernährungsunsicherheit“ betroffen, davon stehen 677.000 Menschen am Rande der Hungersnot. Eines von drei Kindern unter zwei Jahren leidet unter akuter Mangelernährung. Frauen sind typischerweise stärker betroffen von Hungersnot, da sie dazu neigen, ihre Nahrungsaufnahme stark zurückzustellen, wenn der Zugang zu Lebensmitteln eingeschränkt ist. Zudem sind schwangere, gebärende, post-partum oder stillende Frauen von Unterernährung, fehlender medizinischer Versorgung und Medikamenten schwerer betroffen, da ihr Bedarf erheblich höher ist.
Geschlechtsspezifische Tatbestandsvariante des Völkermordes
Aufgrund dieses „gendered impacts“ des Krieges kann es nicht erstaunen, dass Südafrika in seiner Klageschrift einen Schwerpunkt auf die geschlechtsspezifische Tatbestandsvariante des Völkermordes des Artikel II lit. d der Völkermordkonvention gelegt hat. Darin heißt es:
„In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
(…)
d. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind“.
Diese Form des Völkermordes zählt zur Kategorie der weitgehend verkannten reproduktiven Gewalt, die darauf gerichtet ist, die reproduktive Selbstbestimmung zu schützen. Das Büro der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) erließ im Dezember 2023 eine Richtlinie zu geschlechtsbasierten Verbrechen, in der erstmals eine Definition des Begriffs der reproduktiven Gewalt versucht wurde. Danach verletzt die reproduktive Gewalt die reproduktive Autonomie und/oder richtet sich gegen Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen oder potenziellen reproduktiven Fähigkeit oder der Wahrnehmung dieser Fähigkeit.
Während andere Formen reproduktiver Gewalt mittlerweile als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen verfolgt werden, ist bisher ein erfolgreiches Urteil vor dem IGH, IStGH oder den ad hoc-Strafgerichtshöfen aufgrund des geschlechtsspezifischen Tatbestands des Völkermordes ausgeblieben. Einzig das ad hoc-Straftribunal für Ruanda hat in einem obiter dictum im Urteil gegen Jean-Paul Akayesu festgestellt, dass Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb einer Gruppe zu verhindern, sowohl physischer als auch psychischer Natur sein können. Unter physischen bzw. direkten Maßnahmen seien sexuelle Verstümmelung, Sterilisationspraktiken, erzwungene Geburtenkontrolle, Geschlechtertrennung und Eheverbote zu verstehen (para. 507). Psychische bzw. indirekte Maßnahmen können zum Beispiel Vergewaltigung zur Verhinderung von Geburten darstellen, wenn die vergewaltigte Person anschließend die Fortpflanzung verweigert, ebenso wie Mitglieder einer Gruppe durch Drohungen oder Traumata dazu gebracht werden können, sich nicht fortzupflanzen (para. 508).
Südafrika führt in seiner Klageschrift vom 29.12.2023 unter anderem aus, dass Israel Mitglieder der palästinensischen Nation im Gazastreifen Maßnahmen auferlegt, die darauf abzielten, Geburten innerhalb der palästinensischen Nation in Gaza zu verhindern. Hierzu führte Südafrika folgende Sachverhalte an: Berichten von Al Jazeera und The New Arab zufolge wurden schwangere Frauen von israelischen Soldaten getötet, einschließlich während des Versuchs, Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen (para. 95). Der WHO nach gebären schätzungsweise 5.500 schwangere Frauen in Gaza jeden Monat unter unsicheren Bedingungen ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, was mit einem erheblichen Risiko von Infektionen und medizinischen Komplikationen einhergeht (para. 96). Nach Angaben der UN werden aufgrund des Mangels an medizinischen Versorgungsgütern schwangere Frauen ohne Anästhesie Kaiserschnitten unterzogen und Ärzte seien gezwungen, nicht erforderliche Hysterektomien an jungen Frauen vorzunehmen, um ihr Leben zu retten, wodurch sie keine weiteren Kinder bekommen können (paras. 96-97). Berichten von Oxfam zufolge stiegen Frühgeburten um 25-30 Prozent, und Fälle von Plazentaablösungen haben sich mehr als verdoppelt (para. 98). OCHA berichtete, dass die Todesrate frühgeborener Säuglinge aufgrund des Mangels an notwendiger medizinischer Ausrüstung, insbesondere Brutkästen und Treibstoff für Krankenhausgeneratoren, rasant ansteigt und dass Neugeborene mangels vorhandener Medikamente an vermeidbaren Ursachen wie Durchfall oder Unterkühlung sterben (para. 99). Zusätzlich warnte die WHO davor, dass die mangelhafte Versorgung sowohl zu einer erhöhten Müttersterblichkeit als auch zu stressbedingten Fehl-, Tot- und Frühgeburten führte (para. 100).
Die gezielten Angriffe auf Krankenhäuser, die Lahmlegung des Gesundheitssystems und die Beschränkung von humanitärer Hilfe verwehren Palästinenser:innen den Zugang zum reproduktiven Gesundheitssystem. Dies stellt eine Form indirekter Maßnahmen zur Geburtenverhinderung dar. Obwohl es nach Artikel II lit. d der Völkermordkonvention nicht erforderlich ist, dass tatsächlich eine Reduktion von Geburten eintritt, weil darin nur von der Verhängung von Maßnahmen, die auf Geburtenverhinderung gerichtet sind, die Rede ist (hierzu auch Prof. Dr. Kress), haben die dargestellten Maßnahmen Israels dennoch zu einer Geburtenverhinderung in Gaza geführt. Im Januar 2024 wurde berichtet, dass die Fehlgeburtenrate in Gaza um 300% angestiegen sei, und bereits im November 2023 stellte die WHO einen Anstieg von Müttersterblichkeit und stressbedingten Fehl-, Tot- und Frühgeburten in Gaza fest.
Im Rahmen des Hauptverfahrens muss Südafrika den IGH davon überzeugen, dass Israel die zuvor genannten Maßnahmen zur Geburtenverhinderung vorsätzlich vorgenommen hat und diese darauf abzielten, die Gruppe der Palästinenser:innen als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren hat der IGH im Rahmen seiner Plausibilitätsprüfung u.a. auch den erforderlichen genozidalen Vorsatz seitens Israels geprüft und dabei auf folgende Aussagen verwiesen: Verteidigungsminister Gallants Anordnung der vollständigen Belagerung von Gaza ohne Strom, Essen oder Treibstoff (“complete siege” of Gaza City with “no electricity, no food, no fuel”), seine Bezeichnung der Gegner als menschliche Tiere (“I have released all restraints . . . You saw what we are fighting against. We are fighting human animals […]”); Präsident Herzogs Aussage, dass alle Palästinenser:innen für die Angriffe der Hamas mitverantwortlich seien und dass Israel kämpfen würde, bis den Gegnern das Rückgrat gebrochen werde (“[…] It is an entire nation out there that is responsible. It is not true this rhetoric about civilians not aware, not involved. It is absolutely not true. They could have risen up. They could have fought against that evil regime which took over Gaza in a coup d’état. But we are at war. […] And we will fight until we’ll break their backbone.”); und Energieminister Katz’ Aussage, sie würden keinen Tropfen Wasser oder eine einzige Batterie erhalten, bis sie die Welt verlassen haben (“We will fight the terrorist organization Hamas and destroy it. All the civilian population in [G]aza is ordered to leave immediately. We will win. They will not receive a drop of water or a single battery until they leave the world.”) (IGH Beschluss, Abs. 52-53).
Interessanterweise hat der Aspekt der reproduktiven Gewalt in Südafrikas Klage kaum Aufmerksamkeit erlangt, obwohl der Beschluss selbst auf breite öffentliche Resonanz gestoßen ist.
Fazit
Obgleich dieser erschütternden Faktenlage wird dieses ganz spezifisch auf das Geschlecht ausgerichtete Leid der Palästinenser:innen in Gaza bis auf wenige Ausnahmen (i.e. Fionnuala Ni Aolain, or Ruby Mae Axelson) weder von westlichen Feminist:innen noch von der Allgemeinheit anerkannt oder gar beklagt.
Die Gründe für das ohrenbetäubende Schweigen westlicher Feminist:innen können vielfältig sein: Zum einen führt die einseitig verstandene deutsche historische Verantwortung angesichts des Holocausts zu einem oft blinden Schulterschluss mit Israel, weshalb Kritik an Israel häufig als Verrat an den Lehren aus der deutschen Geschichte gesehen wird. Zudem führt die Angst vor Antisemitismus-Vorwürfen dazu, dass viele Feminist:innen sich nicht äußern. Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich einige Feminist:innen dem Narrativ anschließen –ähnlich der US-Invasion im Irak oder in Afghanistan– Israel befreie palästinensische Frauen von patriarchalischen Strukturen, wodurch Kritik an Israel vermieden wird, um nicht als Unterstützung patriarchaler Strukturen wahrgenommen zu werden. Zudem privilegiert die mediale Berichterstattung in westlichen Medien bestimmte Narrative und marginalisiert andere, wodurch die geschlechtsspezifischen Auswirkungen des Konflikts weniger sichtbar sind. Dass eine Verurteilung von geschlechtsspezifischer Gewalt in diesem Konflikt grundsätzlich möglich ist, zeigt die Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbunds, jedoch abermals einseitig zugunsten Israels.
Besonders widersprüchlich erscheint dieses Schweigen im Kontext von Deutschlands feministischer Außenpolitik, die auf die Überwindung von Unterdrückungs- und Diskriminierungsmechanismen in internationalen Herrschaftsverhältnissen abzielt und insbesondere die Relevanz von reproduktiven Rechten hervorhebt. Vor dem Hintergrund, dass feministische Außenpolitik Friedenspolitik ist, kann z.B. die Enthaltung zur Abstimmung von Resolutionen zwecks eines Waffenstillstandes in der VN-Generalversammlung nur verwundern. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Faktoren ist notwendig, um das Schweigen zu durchbrechen und eine solidarischere feministische Haltung zu finden.
Nora Salem holds the position of Assistant Professor and serves as the Head of the Public International Law Department at the German University in Cairo, Egypt. She has held a number of consultancies with the UN, most recently at the UN Office of Counter-Terrorism on issues related to Human Rights in Counter-Terrorism.