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Die Ukraine, das Recht auf Selbstverteidigung und die Menschenrechte

25.07.2022

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist zu einem Zermürbungskrieg im Osten des Landes geworden. Seine Fortdauer kostet jeden Tag unzählige Menschenleben. Dennoch zeigt sich gerade in Hinblick auf die Menschenrechte, weshalb die Selbstverteidigung der Ukraine vollumfänglich zu unterstützen ist. In Debatten seitens der westlichen Unterstützerstaaten der Ukraine, ab welchem Zeitpunkt Friedensverhandlungen zu priorisieren seien, sucht man nach einer menschenrechtlichen Perspektive oft vergebens. An einigen Stellen wird der Diskurs gar ohne Beteiligung der Ukraine geführt und in Deutschland hat die Debatte teilweise einen besonderen Ton angeschlagen. Es scheint weniger um Sicherheitsinteressen als um den Schutz von Menschenleben und Menschenrechten zu gehen. Diese werden jedoch als moralischer und politischer Grund angeführt, weshalb die Ukraine möglichst schnell auf ein Ende des Konfliktes hinwirken solle, auch wenn dies mit erheblichen Gebietsverlusten einherginge. Solch eine Argumentation ist jedoch zu kurz gedacht.

Der Schutz von Menschenleben und Menschenrechten spricht im Gegenteil dafür, auch weiterhin ein vollumfängliches Selbstverteidigungsrecht der Ukraine zu unterstützen. Das folgt nicht nur aus der realen Brutalität russischer Besatzung, wie sie in Butscha und andernorts deutlich wurde, sondern auch aus grundlegenden Konzepten des Menschenrechtssystems. Dieser Beitrag skizziert, weshalb das Recht zur vollumfänglichen Verteidigung der Ukraine nicht nur der Souveränität des Staates entspricht, sondern auch dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Würde des Individuums. Damit wird zum einen untermauert, dass eine westliche Unterstützungspolitik, die den normativen Kern dieser völkerrechtlichen Konzepte ernst nimmt, solange aufrecht zu halten ist, wie die Ukraine ihre Selbstverteidigung ausübt. Zum anderen vergegenwärtigt der Blick auf die Ukraine, dass die Konzepte der Staatensouveränität, des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Menschenwürde, die im völkerrechtlichen Diskurs häufig als eher antagonistisch positioniert werden, in ihrem Kern eng verbunden sind.

Das Recht auf Selbstverteidigung des ukrainischen Staates

Mit Blick auf die Staatensouveränität ist der Umfang der Verteidigung der Ukraine eindeutig zu bewerten. Der russische Angriffskrieg verstößt gegen das Gewaltverbot aus Artikel 2(4) der Charta der Vereinten Nationen und verletzt den ukrainischen Staat in seiner territorialen Unversehrtheit sowie seiner politischen Unabhängigkeit. Gleichzeitig stellt die russische Invasion einen bewaffneten Angriff im Sinne des Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen dar, dessen Abwehr vom Recht auf Selbstverteidigung der Ukraine gedeckt ist. Dieses erfasst eine vollumfängliche Verteidigung der territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in mehreren Entscheidungen betont, dass das Selbstverteidigungsrecht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt wird (z.B. Nicaragua Urteil para. 176, Nuklearwaffen Gutachten para. 41). Die im Selbstverteidigungsrecht beinhaltete Kontinuität eines Bruchs des internationalen Friedens ist nur insoweit gestattet, wie die Verteidigung notwendig und angemessen ist, um den Angriff abzuwehren. Das wäre wohl beispielsweise nicht mehr der Fall, sollte die Ukraine im Gegenangriff zu einer vollständigen Eroberung Russlands ansetzen. Die Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigung geht aber immer davon aus, dass der Angriff abgewehrt und die Souveränität des angegriffenen Staates wieder vollständig durchgesetzt werden kann. In der Praxis erfasst das insbesondere die Befreiung jeden Meters des ukrainischen Territoriums von russischer Besatzung. Dazu zählen nach wie vor auch der Donbass sowie die Krim. Bestandteil der durch das Selbstverteidigungsrecht geschützten Staatensouveränität ist auch die Freiheit, auf einen Teil des Staatsterritoriums zu verzichten. Völkerrechtlich muss dies jedoch eine souveräne Entscheidung des Staates sein und darf diesem weder durch einen Angreifer noch durch seine Verbündeten aufgezwungen werden.

Eine menschenrechtliche Begründung der ukrainischen Selbstverteidigung

Eine klassische völkerrechtliche Argumentation könnte mit dem Selbstverteidigungsrecht des ukrainischen Staates enden. In Anbetracht des Fokus der öffentlichen Debatte auf den Schutz von Menschenleben ist es jedoch von Interesse, die menschenrechtliche Perspektive mit in die Frage nach der Reichweite der Verteidigung der Ukraine einzubeziehen. Der Blick auf zwei grundlegende Konzepte der Menschenrechte – das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Menschenwürde – zeigt, dass gerade nach einer menschenrechtlichen Logik die Reichweite der Landesverteidigung nicht von außen zu begrenzen ist. Ihre Ausübung kann nur durch die Träger:innen der Menschenrechte selbst entschieden werden.

Das Recht auf Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes

Das Recht auf Selbstverteidigung ist im Völkerrecht primär mit dem Staatskonstrukt verknüpft. Es lässt sich jedoch auch in Verbindung mit einem anderen Kollektivrecht betrachten, dem Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Das Selbstbestimmungsrecht wird häufig als Fundament und Voraussetzung individueller Menschenrechte betrachtet, eine Stellung, die durch seine Verankerung in Artikel 1 beider UN-Menschenrechtspakte unterstrichen wird. Die Bedeutung und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts ist in vielen Fällen umstritten. Häufig ohne große praktische Bedeutung und daher wenig besprochen ist jedoch, dass nicht nur nationale Minderheiten und unterdrückte oder staatenlose Völker ein Selbstbestimmungsrecht tragen, sondern auch das Volk eines bestehenden Staates. Nach dem Selbstbestimmungsrecht kann ein Staatsvolk sein eigenes politisches System ohne äußere Intervention bestimmen. Das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Staatsvolkes überschneidet sich insofern mit der Souveränität des ukrainischen Staates und beide werden durch die russische Intervention beeinträchtigt. Es ist naheliegend, dass auch das Recht des ukrainischen Staates, seine Souveränität gewaltsam zu verteidigen, eine Entsprechung im Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Staatsvolkes findet.

Die gewaltsame Durchsetzung eines äußeren Selbstbestimmungsrechts wurde historisch primär im Kontext antikolonialer Befreiungskriege diskutiert, beispielsweise bezüglich der Klassifizierung dieser als internationale bewaffnete Konflikte. In einer Betrachtung der (vermeintlich) zu schützenden Rechtsgüter stand in diesen Fällen das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf der einen Seite, die Souveränität von (kolonialen) Staaten und der Frieden der internationalen Ordnung auf der anderen Seite. Im Falle der Ukraine besteht eine solche Spannung jedoch von vornherein nicht. Das Recht auf Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes ist kongruent mit der Souveränität des ukrainischen Staates. Und auch die internationale Friedensordnung wird nicht erst durch eine gewaltsame Ausübung der Selbstbestimmung in Form einer Selbstverteidigung gebrochen. Im Gegenteil, die gewaltsame Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts ist, zusammen mit der des Selbstverteidigungsrechts, eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg. Die Rechtfertigung der militärischen Verteidigung der Ukraine lässt sich daher nicht nur auf das Selbstverteidigungsrecht des ukrainischen Staates, sondern auch auf das Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Bevölkerung zurückführen. Konzeptionell stehen diese beiden Dimensionen wohl nicht nur parallel zueinander, sondern sind eng verbunden.

Die Menschenwürde des Einzelnen

Das Recht auf Landesverteidigung und die unabhängige Entscheidung über ihre Ausübung kann neben der kollektiven auch in einer individuellen Dimension verstanden werden. Wo politische Selbstbestimmung geschützt wird, liegt auch ein Bezug zu individueller Selbstbestimmung und damit der Menschenwürde als Grundidee aller Menschenrechte nahe. Auch wenn die Menschenwürde im internationalen Menschenrechtssystem eine weniger eindeutige Rolle innehat als im deutschen Verfassungsrecht, so ist sie doch Grundidee und Leitmotiv. Die Präambeln beider UN-Menschenrechtspakte verkünden, dass sich die festgelegten „Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“. Die Verknüpfung der Menschenwürde mit dem Schutz bestimmter Menschenrechte macht ferner deutlich, dass der Kern der Menschenwürde auch im internationalen Menschenrechtssystem durch Respekt und Schutz von Autonomie und Selbstbestimmung des Individuums gekennzeichnet ist. Die Wahrnehmung und der Schutz von Menschenrechten ist somit durch ein Element individueller Selbstbestimmung geleitet.

Eine Einschränkung der Verteidigung der Ukraine zu forcieren, um das Recht auf Leben der Ukrainer:innen zu schützen, ist somit zu kurz gedacht. In der Entscheidung zur (Fortsetzung der) Verteidigung von nationaler Selbstbestimmung und staatlicher Souveränität kommt gerade auch die Menschenwürde als Grundlage aller Menschenrechte zum Ausdruck. Das gilt auch trotz der Realität, dass diese Verteidigung viele Menschenleben kostet. Das Menschenrecht auf Leben ist nicht als absoluter Schutz des Lebens misszuverstehen, es schützt vielmehr vor einer willkürlichen Beraubung des Lebens. Die Entscheidung, das Leben zur Verteidigung der Ukraine einzusetzen, ist hiervon nicht ausgeschlossen und muss als solche respektiert werden. Dass der Schutz von Menschenrechten ein schwaches Argument für die Aufgabe der Landesverteidigung ist, wird dadurch unterstrichen, dass nicht nur ein abstraktes Konstrukt verteidigt wird, sondern auch die staatliche Entität, die letztlich zur Wahrung und zum Schutz aller Menschenrechte der ukrainischen Bevölkerung verpflichtet ist.

Fazit

Die Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg ist völkerrechtlich nicht nur im Selbstverteidigungsrecht des Staates, sondern auch im Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes und in der Menschenwürde des Individuums verankert. Die Entscheidung, wie lange die Verteidigung fortzuführen ist, steht damit alleine der Ukraine und den Ukrainer:innen zu. Der Schutz von Menschenleben und Menschenrechten sollte ein wichtiger Beweggrund in dieser Entscheidung sein. Jedoch ist der normative Kern dieser Schutzgüter missverstanden, wenn auf seiner Basis von außen, über die ukrainische Bevölkerung hinweg, ein Ende der Landesverteidigung gefordert wird. Die Grundlagen des Menschenrechtssystems zeigen, dass diesem auch das Recht zugrunde liegt, sein Leben in Wahrnehmung und Verteidigung von kollektiver und individueller Selbstbestimmung einzusetzen. Darüber hinaus verdeutlicht die Selbstverteidigung der Ukraine, dass die völkerrechtlichen Konzepte der staatlichen Souveränität und der Menschenrechte, welche gerade im Kontext von bewaffneten Konflikten häufig eher in einem antagonistischen Verhältnis wahrgenommen werden, eine enge Verbindung teilen.

 

The “Bofaxe” series appears as part of a collaboration between the IFHV and Völkerrechtsblog.

Autor/in
Niklas Reetz

Niklas S. Reetz is a Ph.D. researcher in international law at the European University Institute in Florence, Italy. His research focuses on the use of force, armed conflicts, and climate change.

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