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Take It or Break It?

Wie handelsrechtliche Vereinbarungen den irischen Frieden sichern sollten und diesen nun gefährden

28.09.2022

Vor gut sechs Jahren hat das britische Volk per Referendum für den Austritt des Vereinigten Königreichs (VK) aus der Europäischen Union (EU) gestimmt (Brexit). Dystopien wie ein frequenter Gebrauch von Art. 50 Vertrag über die Europäische Union (EUV) oder gänzlich ungleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen den Parteien haben sich nicht bewahrheitet. Dafür scheinen die Auswirkungen auf die Konfliktquelle Nordirland umso realer. Die vereinbarte Lösung über handelsrechtliche Regelungen missfällt vor allem der britischen Regierung. Deswegen Schutzmaßnahmen zu ergreifen oder unilaterale Änderungen anzustreben, ist jedoch dem Handel nicht zuträglich und könnte den irischen Friedensprozess zum Kollateralschaden politischer Diskrepanzen zwischen London und Brüssel werden lassen.

Das Karfreitagsabkommen – Frieden per Vertragsschluss

Der innerirische Konflikt besteht seit Jahrhunderten und hat seine Ursprünge im religiösen Kolonialismus. Seitdem ist die Insel je nach Kriterium in zwei Lager geteilt: Geografisch in Nord und Süd. Konfessionell in protestantisch und katholisch. Ideologisch in Unionismus und Nationalismus. Inhaltlich geht es stets um Identitäts- und Machtkämpfe zwischen den Parteien. Die seit den späten 1960er-Jahren in Nordirland zunehmende Gewaltspirale zwischen den vielfach diskriminierten Katholiken und den pro-britischen Unionisten konnte erst mit Abschluss des Good Friday Agreements(GFA) 1998 beendet werden.

Der zwischen den Regierungen des VK und Irlands sowie einem Großteil der nordirischen Parteien geschlossene Friedensvertrag sieht unter anderem die „vollständige Entwaffnung aller paramilitärischen Organisationen“ (7.3) sowie eine Neustrukturierung der regelmäßig in die Gewaltausschreitungen involvierten Polizeibehörden vor (9.). Den entscheidenden Mehrwert, sowohl zur Friedenssicherung als auch gegenüber der ersten vertraglichen Verständigung in Form des Anglo-Irish Agreement von 1985, brachte das GFA jedoch durch seine Institutionalisierung. Die Errichtung gemeinsamer Gremien sorgte für politische Verflechtungen und grenzübergreifende Kooperationen. Insbesondere durch den Nord-Süd Ministerrat konnte die infrastrukturelle inländische Grenze überwunden werden, indem die gezielte Zusammenarbeit und Durchführung gesamtirischer Belange angestrebt wurde.

Die verhandlungspolitische Quadratur des Kreises

Mit dem Austritt des VK aus der Europäischen Union hat sich ein geopolitisches, als für zufriedenstellend gelöst erachtetes Problem neu aufgetan: Zwischen dem ebenfalls austretenden Nordirland und dem in der Union verbleibenden Irland würde eine harte Grenze entstehen, die jene blutig erkämpften Vereinbarungen des GFA torpedieren würde. Gleichzeitig galt es, die Integrität der Union hinsichtlich des Binnenmarktes sowie die des VK hinsichtlich des eigenen Territoriums in einen schonenden Ausgleich zu bringen. Auch wenn sich die Verhandlungsführer:innen aus Brüssel und London früh dieser besonderen Umstände auf der irischen Insel bewusst waren, scheint eine alle Problempunkte gleichermaßen zufriedenstellende Lösung dieses Dilemmas nach wie vor nicht gefunden. Untergrenze ist der von beiden Verhandlungsseiten als rote Linie ausgerufene Backstop gewesen: Sollte eine Nord-Süd-Kooperation nicht garantiert und mithin eine harte Grenze nicht vermieden werden können, werde das VK als Notlösung sämtliche Binnenmarkt- und Zollregelungen, die dem Schutz des GFA dienen, beibehalten.

Unumgänglichkeit einer Grenze

Dieser Auffanglösung bedurfte es letztlich nicht, da ein Ergebnis in Form des Nordirland-Protokolls (NIP) gefunden wurde. Das NIP befindet sich im Anhang des nach Vorgabe der Art. 50 EUV, 218 AEUV geschlossenen Austrittsabkommens (AK) und ist über Art. 182 AK integraler Bestandteil desselben. Art. 4 NIP stellt zunächst klar, dass Nordirland Teil des Zollgebietes des VK ist. De facto verleiht das Protokoll Nordirland jedoch einen Sonderstatus als Teil des europäischen Binnenmarktes. So sieht Art. 5 Abs. 3 NIP die Fortgeltung des Europäischen Zollkodex im VK in Bezug auf Nordirland vor. Bestimmte Waren, die aus einem anderen Teil des VK nach Nordirland gelangen, unterliegen damit nach Vorgabe des Protokolls Kontrollen an der dortigen Grenze. Die Vermeidung einer inneririschen Grenze lässt mithin eine Grenze innerhalb des VK, präziser eine Seegrenze in der Irischen See, entstehen. Für die Durchführung der dortigen Kontrollen sind ferner die britischen Behörden zuständig (Art. 12 Abs. 1 NIP). Ein Mehr an bürokratischem Aufwand, dem sich das VK trotz erfolgter Zustimmung entledigen möchte.

Art. 16 NIP – Backstop 2.0?

Für den Fall, dass bestimmte Interessen einer Vertragspartei gefährdet sind, enthält Art. 16 NIP eine Schutzklausel. Die mit auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen gespickte Bestimmung sieht in Absatz 1 auf Tatbestandsebene zwei verschiedene Szenarien vor: Entweder muss die Anwendung des Protokolls zu „schwerwiegenden und voraussichtlich anhaltenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder ökologischen Schwierigkeiten“ oder alternativ „zur Verlagerung von Handelsströmen“ führen. Auf Rechtsfolgenseite sind die Union respektive das VK dann berechtigt, einseitig „geeignete Schutzmaßnahmen“ zu ergreifen. Im Sinne einer Verhältnismäßigkeit sind die Maßnahmen auf ein erforderliches Maß zu beschränken und Vorrang ist grundsätzlich solchen das Protokoll weniger beeinträchtigenden Maßnahmen zu geben. Anhang 7 des Protokolls enthält ferner prozessuale Anforderungen.

In der Praxis hat die Existenz von Art. 16 NIP wiederholt als politisches Druckmittel fungiert. Sowohl die EU als auch das VK haben mit der Ingebrauchnahme gedroht. Beidseitig scheint die Norm dabei als Notlösung interpretiert zu werden, um Umstände, in denen die eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen und die sich daraus ergebenden rechtlichen Folgen mit Unannehmlichkeiten einhergehen, abwenden zu können.

Fragen der Auslegung 

Um etwaige praktische Anwendungsfälle des Art. 16 NIP bestimmen oder ausschließen zu können, ist die Norm zu kontextualisieren: Die Klausel ist Teil des Protokolls zu Irland/Nordirland. Dessen Zweck mit Blick auf die Präambel sowie Art. 1 NIP („Ziele“) alternativlos in der Sicherung des irischen Friedens durch Aufrechterhaltung der Nord-Süd-Kooperation und Vermeidung einer harten Grenze besteht. Um dieses Ziel wiederum zu erreichen, haben die Parteien handelsrechtliche Bestimmungen vereinbart.

Wenn die Kommission nun (kurzzeitig) plante Art. 16 NIP zu nutzen, um eine aus ihrer Sicht unrechtmäßige Ausfuhr von Covid-19-Impfstoffen in das VK zu verhindern, mag das aus pandemie-politischen Gesichtspunkten „gesellschaftliche Schwierigkeiten“ abwenden können. Müssen dafür aber Kontrollen an der inneririschen Grenze durchgeführt werden, konterkariert dies die ganze Sinnhaftigkeit des NIP und würde eine Anwendung der „Schutzklausel“ zu diesem Zweck ad absurdum führen.

Selbiges gilt in anderer Konstellation auch für das VK: Der bemängelte Rückgang an Handelsaktivitäten zwischen Nordirland und dem restlichen VK, bei gleichzeitigem historischen Anstieg der Exporte von Irland nach Nordirland, ist unter das Merkmal „Verlagerung von Handelsströmen“ zu subsumieren. Aufgrund der dargestellten zollrechtlichen Regelungen ist auch die erforderliche Kausalität gegeben. Die Kontrollen in der Irischen See, und mit ihr ihre wirtschaftlichen Folgen, sind jedoch Kernelement des Protokolls und existenziell zur Zweckförderung der Friedenssicherung durch Vermeidung einer inneririschen Grenze. Ergibt sich die Problematik aus der Logik des Protokolls selbst, kann das gerade nicht zu einer Anwendung von Art. 16 NIP führen. Der weit formulierte Tatbestand des Art. 16 NIP ist teleologisch zu reduzieren. Handelsrechtliche Schutzmaßnahmen lassen sich somit dann nicht über Art. 16 NIP rechtfertigen, wenn sie den Schutz des irischen Friedens gefährden oder das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals, wie beispielsweise die „Verlagerung von Handelsströmen“, unausweichliche Folge der vereinbarten Zweckerreichung ist. Die Vorschrift ist daher als ultima ratio zu qualifizieren, deren Anwendung nur in Betracht kommt, wenn gleichzeitig eine Zweckaufgabe des ganzen Protokolls billigend in Kauf genommen wird.

Britischer Plan-B: Der Northern Ireland Protocol Bill

Die britische Regierung hat jüngst eine alternative Maßnahme ergriffen, um sich der unliebsamen Handelsregelungen zu entledigen: Mit der 26 Klauseln umfassenden Gesetzesinitiative Northern Irleand Protocoll Bill (NIPB) sollen unilateral weite Teile des bilateral verhandelten NIP abgeändert werden. Der Gesetzesentwurf ist aktuell in der zweiten Lesung des Oberhauses. Die dogmatische Herangehensweise liegt in der Änderung des European Union (Withdrawal) Act 2018 (EUWA). Dabei handelt es sich um ein nationales Gesetz, das dem AK und damit der NIP innerstaatlich rechtliche Geltung verleiht (7A (1) EUWA). Der NIPB deklariert nun bestimmte Regelungen des NIP, unter anderem jene Zollregelungen aus Art. 5, als „excluded provisions“ (4 (2) NIPB). Dadurch soll Abschnitt 7A EUWA nicht mehr auf jene ausgenommenen Bestimmungen anwendbar sein: Ihre innerstaatliche Rechtsverbindlichkeit entfällt. Stattdessen soll Minister:innen der Krone die Legislativmacht für Alternativregelungen gegeben werden.

Streitbeilegungsmechanismen

Sowohl im Falle einer Ingebrauchnahme von Art. 16 NIP als auch bei einseitiger Protokolländerung durch Verabschiedung der NIPB, stünde der im Austrittsabkommen vorgesehene Streitbeilegungsmechanismus zur Verfügung. Nach Durchlaufen des Verfahrens eröffnet Art. 178 NIP die Möglichkeit für „einstweilige Abhilfemaßnahmen“. Diese liegen insbesondere in der Aussetzung zugesicherter Verpflichtungen, wodurch die Erhebung von Zöllen möglich wäre. Interessant ist hier vor allem, dass Art. 178 Abs. 2b NIP eine solche Aussetzung auch für Verpflichtungen aus anderen zwischen den Parteien geschlossenen Abkommen nach den dortigen Bestimmungen eröffnet. Damit ist grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, auch Verpflichtungen aus dem umfangreichen Handels- und Kooperationsabkommen (HKA) auszusetzen.

Art. 749 (4) HKA als dann einschlägige Bestimmung lässt nach dem Grundsatz lex posterior derogat legi priori einen Rückgriff auf die HKA-Bestimmungen zwar unwahrscheinlich erscheinen. Nichtsdestotrotz gilt, dass die Aussetzung von Handelsverpflichtungen, ob nun im AK oder im HKA, einen Rückschlag für den Handel insgesamt darstellt und nicht im Interesse der Parteien sein kann.

Fazit

Der tief verwurzelte innerirische Konflikt droht(e) durch den Brexit neu aufgerissen zu werden. Zur Friedenswahrung haben sich die Parteien auf handelsrechtliche Sonderregelungen geeinigt, deren Durchführung erwartbare logistische und wirtschaftliche Konsequenzen mit sich bringen. Deswegen auf Art. 16 NIP zurückzugreifen oder unilateral per Gesetz Änderungen anzustreben, ist jedoch weder der Friedenssicherung noch dem Handel zuträglich. Eine Lösung muss daher auf diplomatischem Weg gesucht werden. Inwieweit sich die verhärteten Fronten unter der neuen Premierministerin Liz Truss aufweichen lassen, darf ob bisheriger Äußerungen bezweifelt werden. Vielleicht orientiert sie sich jedoch an ihrem politischen Vorbild Margaret Thatcher. Die „Eiserne Lady“ unterzeichnete 1985 das Anglo-Irish-Agreement und legte damit trotz zahlreicher Kontroversen einen Grundstein für die heute wieder gefährdete Kooperation.

Autor/in
Louis Valentino Kolkmeyer

Louis Valentino Kolkmeyer is a PhD student and research assistant at the Institute of International and European Law (Department of International Economic and Environmental Law) at the Georg-August-University of Göttingen.

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