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Brexit means Brexit!?

Zum möglichen Fortgang der Brexit-Odyssee nach der Absage der Abstimmung im britischen Unterhaus

10.12.2018

“Brexit means Brexit!“ So lautete das Mantra, das von der britischen Premierministerin im Nachklang zur Brexitentscheidung immer wieder vorgetragen wurde. Das offenbarte nicht nur eine gewisse Hilflosigkeit, sondern zeigte zugleich, dass die noch von David Cameron vornehmlich aus innenpolitischen Gründen initiierte (unverbindliche) Volksbefragung auch aus demokratietheoretischer Sicht keine Meisterleistung war: Nicht weil das Ergebnis „falsch“ gewesen wäre, sondern weil keine Ja-/Nein-Frage gestellt worden war. Formal stand zwar die Entscheidung zwischen Austritt oder Verbleib auf dem Stimmzettel. Entscheidend war aber stets das „Wie“ eines möglichen Brexit und in dieser Frage bestand weder auf Seiten der Brexiteers Einigkeit, noch hätte man diese erst auszuhandelnden Modalitäten zu diesem Zeitpunkt überhaupt kennen können.

Ein umfangreicher Austrittsvertrag steht nun gemeinsam mit einer politischen Zukunfts-Erklärung zur Ratifikation im britischen Unterhaus an. Nach einer fünftägigen, beeindruckenden Debatte im „House of Commons“, die noch einmal belegt hat, dass die demokratische Kultur des ehemaligen Empire überaus lebendig ist, ist aber weiterhin unklar, wie es weitergehen wird. Die Premierministerin hat die Abstimmung über das Abkommen vertagt, um einer drohenden (krachenden?) Niederlage im Parlament (vorerst) zu entgehen.

Unbeeindruckt von diesen Vorgängen tickt im Hintergrund freilich die „Brexit-Uhr“: Kommt es zu keiner anderen Lösung wird Großbritannien mit Ablauf des 29. März 2019 die Europäische Union verlassen. Ein solcher Hard-Brexit wird zwar von allen Beteiligten als (euphemistisch gesprochen) unglücklichste Option gesehen. Was aber sind die Alternativen? Und wie realistisch scheinen diese angesichts der politischen Situation in Großbritannien und der EU? Diese Fragen sollen im Folgenden in aller Kürze beleuchtet werden.

Neuverhandlungen in Brüssel

Große Teile der Brexiteers wollen zwar ein Abkommen mit der EU schließen, allein: Nicht dieses Abkommen. Sie empfinden es in vielerlei Hinsicht als missglückt und pochen auf Nachverhandlungen. Ziel müsse ein „besseres“ Abkommen sein, das die Souveränität Großbritanniens wahrt und die Ziele des Austritts zügig verwirklicht. Den von europäischen Spitzenpolitikern immer wieder betonten Ausschluss von Nachverhandlungen halten die Brexiteers schlicht für einen Bluff und appellieren hier damit zweifellos auch an das Selbstbewusstsein des Parlaments.

Bei näherem Hinsehen spricht freilich wenig für einen solchen Bluff, auch weil die britische Verhandlungsposition tatsächlich sehr viel schwächer ist, als Boris Johnson und andere wahrhaben wollen. Risiken im Falle eines Hard-Brexit bestehen zwar auf Seiten der EU durchaus, es kann aber kaum ein Zweifel bestehen, dass die britische Wirtschaft und Gesellschaft (!) den weit größeren Schaden nehmen würden – entsprechende Berechnungen einfach als Elemente einer politischen Verschwörung abzutun („project fear“), erweist sich als ebenso einfach wie verfehlt.

Denkbar erscheint allenfalls, dass sich die EU auf eine Nachverhandlung gewisser Details einlässt. Der Vertrag bietet bei mehr als 585 Seiten hier durchaus Möglichkeiten. Das aber ist offenkundig nichts, was die konservativen Abgeordneten umstimmen könnte. Wenn diese von Nachverhandlungen sprechen, geht es ihnen ja insbesondere um zwei grundlegende Fragen: Einerseits die Backstop-Regelung für Nordirland und andererseits die Ausgestaltung der zukünftigen Beziehungen. In beiden Fällen scheint es aber ausgeschlossen, dass die EU zu Änderungen bereit ist. So soll der Backstop sicherstellen, dass es zu keiner harten Grenze zwischen Nordirland und Irland kommt. Dazu ist vorgesehen, dass Großbritannien zunächst als Ganzes in der Zollunion verbleibt, bis das Abkommen über die zukünftigen Beziehungen in Kraft ist. Ein Enddatum ist für diesen Zustand nicht vorgesehen, er endet erst, wenn sich beide Seiten darauf einigen sollten. Damit hat die EU mithin eine Art Vetorecht, ein für die Brexiteers nicht hinzunehmender Zustand. Tatsächlich hat auch ein von der Regierung nur widerwillig veröffentlichtes Rechtsgutachten festgestellt, dass durch diese Bestimmung die Gefahr endloser Verhandlungen über ein zukünftiges Abkommen droht. Gerade hier wird sich die EU aber schon aus Rücksicht auf die Situation in Irland nicht bewegen. Hinsichtlich der politischen Absichtserklärung besteht eventuell größerer Spielraum auch auf Seiten der EU. Indes hat der zuständige britische Parlamentsausschuss zuletzt deutlich gemacht, was ihn an der bestehenden Erklärung stört: Sie „fails to offer sufficient clarity or certainty about the future“. Das ist allerdings ebenso richtig wie letztlich unvermeidlich. Wenn das Parlament also Rechtssicherheit in einem erheblichen Ausmaß verlangt, ist das mit einer politischen Absichtserklärung schon im Grundsatz nicht zu haben. Dass es in den nächsten Wochen zu signifikanten und die britischen Konservativen befriedigenden Vertragsänderungen kommt, scheint mithin sehr unwahrscheinlich.

Ratifikation des bestehenden Austrittsvertrags

Mit gescheiterten Nachverhandlungen kommt aber der bereits existierende Austrittsvertrag wieder ins Spiel. Die Absage der ersten Abstimmung und die versuchte Nachverhandlung könnten sich insofern als durchaus geschickt erweisen: Denn einerseits haben sich die Abgeordneten dadurch noch nicht formal gegen dieses Abkommen gestellt, so dass eine Zustimmung leichter fallen könnte. Und andererseits strafen gescheiterte Nachverhandlungen diejenigen Stimmen des Irrtums, die zuvor großspurig anderes behauptet hatten – wobei das auch davon abhängen dürfte, inwieweit Theresa May glaubwürdig vermitteln kann, „alles“ in Brüssel versucht zu haben. Freilich bestünde hier unter Umständen auch die Gefahr einer gewissen Trotzreaktion. Das durchaus selbstbewusste britische Parlament könnte die Brüsseler Zurückweisung als Affront interpretieren, aus dem sich eine „Jetzt-erst-recht“-Haltung ergibt: Dann lieber stolz den Hard-Brexit ertragen, als sich von der EU vorschreiben zu lassen, wie man abzustimmen hat. Insofern wäre auch dieser Weg mit Risiken behaftet, die eine Eigendynamik entwickeln und geradewegs in den ungeregelten Austritt münden könnten.

Verlängerung der Verhandlungsphase

In Art. 50 EUV selbst vorgesehen ist die Verlängerung der Verhandlungsphase. Diese setzt zwar Einstimmigkeit im Europäischen Rat voraus, es ist aber eher unwahrscheinlich, dass sich die Mitgliedstaaten einem entsprechenden Verlangen widersetzen würden. Da die Entscheidung für den Brexit generell bereits getroffen wurde und es allein um eine Suspendierung dieser Entscheidung geht, spricht vieles dafür, dass die britische Regierung eine solche Verlängerung aus eigenem Recht (gestützt auf die Royale Prärogative), also ohne das Parlament einleiten könnte. Allerdings hat Theresa May bereits mehrfach betont, dass an dem Austrittstermin an sich nicht zu rütteln sei. Sie könnte einer Verlängerung daher kaum ohne Gesichtsverlust zustimmen, gerade weil eine endgültige Lösung dann nicht nur aus Sicht der Brexiteers, sondern auch der Remainer erneut in weite Ferne rücken würde.

Einseitiger Rücktritt vom Brexit (und zweites Referendum)

Diese letzte Option ist vom EuGH am 10.12.2018 zumindest für rechtlich möglich erklärt worden. Danach ist es zulässig, das einseitig erklärte Austrittsverlangen ebenso einseitig bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Austrittsabkommens bzw. bis zum Ablauf der Zwei-Jahres-Frist wieder zurückzunehmen. In der deutschen Rechtswissenschaft ist diese Entscheidung bisweilen zwar als politisch richtig, aber rechtlich wenig überzeugend angesehen worden. Ein näherer Blick zeigt freilich, dass diese Frage schon länger kontrovers diskutiert wird. Ein erheblicher Teil der Rechtswissenschaftler bejaht dabei eine einseitige Rücknehmbarkeit des Austrittsverlangens, wie eine Studie aus dem Jahre 2017 belegt. Mit dem Vorwurf eines rein politischen Urteils an den EuGH sollte man daher zumindest vorsichtig sein – zumal in diesem Fall das Plenum des Gerichts, also alle 28 Richterinnen und Richter, die Frage entschieden haben.

Entscheidend ist vorliegend jedoch, ob sich die rechtliche Möglichkeit nunmehr auch als eine realistische politische Option darstellt. Noch vor wenigen Monaten hätte man diese Frage verneinen müssen und auch aktuell erscheint es unwahrscheinlich, dass Großbritannien ohne Weiteres die Rücknahme erklärt. Ohnehin dürfte hier wiederum das Parlament zu involvieren sein. Die Regierung könnte diese Entscheidung also nicht aus eigenem Recht treffen, was man hier zumindest mit dem actus contrarius-Gedanken begründen könnte.

Politisch denkbar wäre eine solche Rücknahme, sofern ihr ein zweites Referendum vorangegangen wäre. Ein solches zweites Referendum wurde von der Regierung bisher stets mit dem Verweis abgelehnt, dass der Wille des Volkes mit dem ersten Referendum feststehe. Insofern zeigt sich beim Brexit ein generelles Problem von Volksbefragungen: Obwohl nämlich die Reversibilität von Entscheidungen geradezu ein Wesensmerkmal demokratischer Entscheidungen darstellt, fällt sie bei Volksbeteiligungen schwer. Da mit dem Volk das Legitimitätsendsubjekt bereits direkt beteiligt wird, wirkt jede erneute Befragung unnötig oder sogar fragwürdig. Einer zweiten Abstimmung haftet damit stets der Vorwurf an, allein deshalb zu erfolgen, weil das Parlament mit der ersten Antwort des Volkes nicht zufrieden war.

Gerade im Falle des Brexit sprechen allerdings zwei Gründe für die erneute Befassung des Volkes: Erstens ist erst seit dem Austrittsabkommen klar, was mit Brexit tatsächlich gemeint ist. Streng genommen findet damit keine zweite, sondern eine erste Abstimmung zur Frage eines konkretisierten Austritts statt. Und zweitens haben erst die letzten zwei Jahre und die damit einhergehenden Verhandlungen zeigen können, welche Konsequenzen mit einem Brexit insgesamt verbunden sind. Damit soll keineswegs insinuiert werden, dass die Teilnehmer der ersten Abstimmung sämtlich uninformiert oder intellektuell nicht in der Lage waren, diese Auswirkungen zu erkennen. Richtigerweise konnte niemand sämtliche Konsequenzen vorhersehen. Gleichwohl ist fraglich, ob es zu einem zweiten Referendum kommen wird. Zu beachten ist zudem, dass der Ausgang eines solchen Referendums keineswegs klar ist. Die britische Gesellschaft scheint gespaltener denn je. Ob sich mit einem Referendum diese Spaltung überwinden ließe ist – gerade bei einem sehr knappen Ausgang – ungewiss.

Und nun?

Die hier skizzierten Optionen sind bislang nur Gedankenspiele eines externen Beobachters. Viel wird auch davon abhängen, ob Theresa May als bisherige Premierministerin überhaupt im Amt verbleibt. Am Ende könnte mit einem neuen Premierminister und eventuell vorgezogenen Neuwahlen mithin alles auch ganz anders kommen. Wir werden weiterhin abwarten müssen.

 

Alexander Thiele ist Privatdozent an der Universität Göttingen und vertritt zur Zeit einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Hannover.

 

Cite as: Alexander Thiele, “Brexit means Brexit!? Zum möglichen Fortgang der Brexit-Odyssee nach der Absage der Abstimmung im britischen Unterhaus”, Völkerrechtsblog, 10. Dezember 2018, doi: 10.17176/20181210-185908-0.

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Alexander Thiele
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3 Comments
  1. Haben das Datum korrigiert! Besten Gruß, die Völkerrechtsblog-Redaktion

  2. Danke für den Hinweis. In der Tat ein ärgerlicher Tippfehler…

  3. *29. März 2019 ist der Hard-Brexit; nicht am 23. März 2019 – oder bin ich falsch informiert?
    Dennoch: Sehr interessanter Artikel!

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