In seinem Beitrag „Neues Tribunal, neues Glück?“ vom 12. Juni 2019 stellt Simon Gauseweg umfassend die Möglichkeiten einer völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung des „Islamischen Staats“ dar. Es geht ihm dabei nicht nur um eine reine Darstellung, sondern auch um eine Bewertung, „ob das Völkerstrafrecht von der Aufarbeitung des Konflikts (…) profitieren kann oder ob die Gefahr eines Rückschritts besteht.“ In eine ähnliche Richtung zielt der Beitrag „Endlich! Erster Haftbefehl gegen einen ranghohen Vertreter des syrischen Assad-Regimes“ von Boris Burghardt, wenn er die Durchbrechung der Straflosigkeit des Assad-Regimes zelebriert. Beiträge dieser Art nehmen eine besondere Stellung in der (Völker-)Rechtswissenschaft ein: Sie sind weder rechtsdogmatischer noch rechtstheoretischer oder rechtsphilosophischer Art, sondern praktischer Natur. Sie untersuchen lediglich, wie (und wodurch) das Völkerstrafrecht profitieren und sich stärker ausbreiten kann. Dabei geht es nicht darum, wie das Rechtsgebiet an Tiefe und Differenziertheit gewinnen kann oder darum, einzelne Rechtsfragen zu erörtern. Diese Beiträge haben vielmehr zum Ziel, die Schlagzahl internationaler Strafverfolgung zu erhöhen. So schreiben beispielsweise Wolfgang Kaleck und Andreas Schüller: „Countless international crimes have been committed in Syria (…). This tragedy can contribute to a further development and strengthening of international-crime prosecutions (…).“
Es stellen sich bezüglich der völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung der Geschehnisse in Syrien und im Irak eine Menge Fragen: Welche Verbrechen wurden begangen? Welche Auswirkungen hätte ein internationales Tribunal auf die „transitional justice“ im Land? Wie lässt sich aus vergangenen Fehlern lernen? Wie können die Opfer dieses Konflikts erreicht werden? Was bietet die nationale Aufarbeitung dabei für Vor- oder Nachteile? Zahlreiche völkerstrafrechtliche Beiträge begnügen sich jedoch damit, zu untersuchen, wie ein Konflikt internationalen Aufsehens genutzt werden kann, möglichst schnell und umfassend möglichst viele potenzielle Verbrecher*innen vor Gericht zu bringen und damit das Völkerstrafrecht als Institution zu stärken. Meist folgt darauf Frustration ob der entgegenstehenden Umstände. Daran schließt sich die Forderung an, dass es nun endlich Zeit sei für mehr Völkerstrafrecht: „mehr davon“! Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) müsse erstarken, Staaten müssten ihre komplementäre Funktion ernst nehmen und im Zweifel müsse ein ad-hoc Tribunal errichtet werden.
Zwar ist diesen Stimmen zuzugeben, dass das Völkerstrafrecht ein praxisorientiertes Gebiet ist und seine noch junge Geschichte und die erhebliche politische Ablehnung, die dem ICC entgegengebracht wird, eine konsequente, proaktive Gangart erforderlich machen. Dennoch gilt es, sich der Zweckmäßigkeit der völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung auch im konkreten Fall zu vergewissern. Ist dies nicht geschehen, verkommt der Aktivismus zum Selbstzweck ohne Referenzpunkt. Gerade weil die Geschichte des Völkerstrafrechts so jung ist, gilt es, sie besonders kritisch zu hinterfragen und aus ihr zu lernen. Dies tut seit einigen Jahren beispielhaft das „Critical Approaches to International Criminal Law Research Network“, indem es die Strukturen des Völkerstrafrechts hinterfragt und dabei mögliche Ungerechtigkeiten und Spannungsverhältnisse herausarbeitet.
Nun wäre es von Völkerstrafrechtler*innen viel verlangt, permanent ihr eigenes Wirkungsgebiet grundlegend in Frage zu stellen. Dies gilt insbesondere für Einrichtungen wie das ECCHR, das sich explizit dem „fight against impunity“ verschrieben hat. Allerdings wäre zu erwarten, dass die Ineffizienz des Völkerstrafrechts im Sinne seiner Undurchsetzbarkeit nicht als alleiniges Problem identifiziert wird. Die Aufarbeitung des Syrien-Konflikts bietet eine Fülle an Neuartigkeiten, die untersucht und verstanden werden wollen. Dabei ist es nicht zwingend, gleich das gesamte Völkerstrafrecht in Frage zu stellen. Insbesondere für deutsche Völkerstrafrechtler*innen wäre jedoch interessant: Was könnte die nationale gerichtliche Aufarbeitung eines internationalen Konflikts wie dem Syrien-Konflikt für Auswirkungen auf die gesellschaftliche Integration von Geflüchteten aus dieser Region haben? Inwiefern ließe sich dabei gar ein neuer theoretischer Ansatz jenseits des üblichen Spannungsfelds von „global enforcer approach“ und „safe haven approach“ in Bezug auf das Universalitätsprinzip finden? Rund 1 Million Syrer*innen sind nach Deutschland gekommen, um einem Konflikt zu entkommen, dessen Verbrechen nun zum Teil national aufgearbeitet werden sollen. Darf es dabei wirklich nur darum gehen, möglichst viele potenzielle Täter*innen vor Gericht zu bringen, um das Völkerstrafrecht „voranzutreiben“? Stellt sich nicht zunächst etwa die Frage, ob und in welcher Form ein deutscher Prozess gegen Syrer*innen ein symbolischer Akt ist, der von Syrer*innen in Deutschland gesehen wird?
Nur wenig ist damit gewonnen, dem aus dem Weg zu gehen. Wenn einzig die Ausbreitung des Völkerstrafrechts („mehr davon!“) als Fortschritt begriffen wird, hängt Fortschritt allein von der Umsetzung in der Praxis ab. Je mehr, desto besser. Was aber am Mehr besser als am Weniger ist, bleibt ungeklärt. Ebenso ungeklärt bleibt, was das Mehr überhaupt bewirkt, was es zur Folge hat. Vertreter*innen der „Critical Approaches“ wie Barrie Sander plädieren daher dafür, das „kritische Völkerstrafrecht“ als fortschrittliche Entwicklung zu begreifen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Positionen der „Critical Approaches“ ruft zugleich berechtigte Zweifel an der friedensstiftenden Wirkung und Gerechtigkeit des Völkerstrafrechts sowie der objektiven Ausrichtung seiner Gerichte hervor. Eine solche De-Mystifizierung des Völkerstrafrechts macht es unmöglich Fortschritt mit einem Mehr gleichzusetzen. Doch können die auf dieser Grundlage gewonnenen Erkenntnisse zu einer fortschrittlichen Auseinandersetzung mit dem Völkerstrafrecht führen. Es kann neu definiert und neu gedacht werden. Barrie Sander kommt aufgrund seiner Einbeziehung der „Critical Approaches“ so zu folgenden praktischen Erkenntnissen: Er fordert eine größere Sensibilität der Akteure dafür, in welcher Situation und auf welche Art mit dem Mittel des Völkerstrafrechts eingegriffen werden soll. Damit kann die Errichtung eines völkerstrafrechtlichen Tribunals gemeint sein, aber auch die Strafverfolgung vor nationalen Gerichten oder durch den IStGH. Wenn sich dazu entschieden wird, einen Konflikt mit Hilfe des Völkerstrafrechts zu behandeln, sollte eine entsprechende PR-Strategie adoptiert werden, welche die beschränkte Wirksamkeit des Völkerstrafrechts verdeutlicht und kommuniziert.
Daraus folgt eine für alle Beteiligten entscheidende Erkenntnis: Sogar diejenige, die das Hauptaugenmerk einzig auf die (praktische) Verbreitung des Völkerstrafrechts legt, hat ein Interesse daran, sich nicht auf das Mehr als Merkmal des Fortschritts zu beschränken. Denn nur wer Schwächen erkennt, kann Lösungen finden, diese zu beseitigen. Ohne Lösungen aber wird das Völkerstrafrecht verlieren und unter der Last der Kritik eingehen. Das Mehr wird zum Weniger. Gewissermaßen gerät die Kritik am Völkerstrafrecht so zur Tür, durch die ein neuer, größerer Raum betreten werden kann. Ein Raum, in dem das Völkerstrafrecht stärker als zuvor ist, da es seine Zweckmäßigkeit, seinen Daseinsgrund bestätigt hat.
Die Errichtung eines ad-hoc Tribunals in Syrien kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass es das Völkerstrafrecht voranbringt. Die Anwendung des Universalitätsprinzips gegen Vertreter des Assad-Regimes in Deutschland kann nicht damit begründet werden, dass sie dem Völkerstrafrecht guttut. „Warum?“ „Wofür? „Mit welcher Folge?“ sind Fragen, deren Beantwortungsversuche eine argumentative Grundlage für die Errichtung eines ad-hoc Tribunals, für die Anwendung des Universalitätsprinzips, für ein Eingreifen des ICC mit Hilfe des Sicherheitsrats schaffen. „Mehr davon!“ darf niemals Selbstzweck sein.
Philipp Eschenhagen arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Juristisches Lernen der Bucerius Law School in Hamburg. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit in situ Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs und der Rolle von Präsenz im Völkerstrafrecht.
Cite as: Philipp Eschenhagen, “Mehr davon! Völkerstrafrecht und das Streben nach Glück”, Völkerrechtsblog, 28. Juni 2019, doi: 10.17176/20190628-112611-0.
Philipp Eschenhagen is a research associate at Bucerius Law School and a PhD candidate at the Walther Schücking Institute for International Law. He is an editor at Völkerrechtsblog.