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Fortschritt oder Flickwerk?

Der Gesetzentwurf zur „Fortentwicklung des Völkerstrafrechts“ und die Breitenwirkung völkerstrafrechtlicher Verfahren

17.01.2024

In Hinblick auf die kommunikative Offenheit der Verfahren hat die deutsche Strafjustiz die avisierte „Vorreiterrolle“ bei der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen bisher nicht einnehmen können. Anders als in anderen europäischen Staaten, die auf Grundlage des Weltrechtsprinzips Völkerstrafprozesse durchführen, sind Urteilsübersetzungen und sonstige mehrsprachige Informationsangebote in Deutschland bislang Mangelware. Die defizitäre Zugänglichkeit deutscher Völkerstrafverfahren ist daher kritisiert und Reformbedarf dargelegt worden. Das nunmehr angestoßene Gesetzgebungsverfahren zur „Fortentwicklung des Völkerstrafrechts“ (BT-Drs. 20/9471) verfolgt dementsprechend auch das Ziel, die „Breitenwirkung“ völkerstrafrechtlicher Prozesse und Urteile zu verbessern. Allerdings lässt die Entwurfsbegründung eine vertiefte Begründung dieses Teilziels mit Blick auf den Sinn und die Legitimation völkerstrafrechtlicher Weltrechtsverfahren in Deutschland vermissen. Auch die konkreten Regelungsvorschläge müssen im Ergebnis kritisch gesehen werden.

Die abstrakte Zielsetzung

Den bisherigen Entwurfsbegründungen (in Eckpunktepapier, Referenten– und Regierungsentwurf) ist allesamt eine gewisse Unbedarftheit hinsichtlich der Frage zu attestieren, warum eigentlich – anders als bei sonstigen Strafverfahren – eine erweiterte Öffentlichkeit völkerstrafrechtlicher Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) anzustreben ist. Grundsatzfragen bleiben weitgehend unbeantwortet: Wie muss ein nationales Strafverfahren die internationale Öffentlichkeit einbeziehen? Welche Anforderungen lassen sich hierzu aus der normativen Struktur des Weltrechtsrechtsprinzips als stellvertretende Rechtspflege im Namen und im Interesse der internationalen Gemeinschaft ableiten? Auf welche Art und Weise kann und muss die Teilhabe der Betroffenen an nationalen Völkerstrafverfahren gewährleistet werden?

Mögliche Legitimationsansätze für eine gesteigerte Öffentlichkeit unterscheiden sich dabei schon hinsichtlich der verschiedenen Adressatengruppen völkerstrafrechtlicher Verfahren. Opfern einer konkreten Völkerstraftat muss zunächst ein gleichberechtigter Zugang zu rechtlichen Verfahren gewährleistet werden. Der Entwurf (S. 1, 14) verweist selbst auf die Ziele 16, (3), und (6) der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Während auch für sonstige Betroffene eines Konflikts völkerrechtlich aus dem sog. Recht auf Wahrheit auch ein Informationsrecht hinsichtlich konkreter Weltrechtsverfahren abgeleitet werden könnte (vgl. hier, insb. S. 44ff.), streitet für internationale Medienvertreter:Innen der verfassungsrechtliche Anspruch auf die Möglichkeit des reellen Informationszugangs im Gerichtssaal und der Prozessberichterstattung aus eigener Anschauung.

Soweit man wie scheinbar auch die Bundesregierung davon ausgeht, dass in deutschen Strafprozessen auf Grundlage des Weltrechtsprinzips genuines Völkerrecht – und nicht nur nationales Strafrecht unter völkerrechtlich zulässiger Geltungserstreckung – angewendet wird, haben auch internationale Straftribunale, ausländische Gerichte und die völkerstrafrechtliche Wissenschaft ein genuines Interesse an einem informatorischen Zugang zu den Verfahren. Ein gelingender kommunikativer Austausch ist für die Herausbildung eines internationalen Völkerstrafjustizsystems essenziell und zudem eine Voraussetzung für die angestrebte Vorreiterrolle Deutschlands bei der weiteren Fortentwicklung des Völkerstrafrechts.

Konzeptualisiert man das Weltrechtsprinzip des § 1 S. 1 VStGB schließlich – wie andernorts näher begründet – im Sinne einer stellvertretenden Weltrechtspflege, die Deutschland in fremdem Namen uneigennützig für die internationale Gemeinschaft als solche ausübt, erscheint die internationale Öffentlichkeit als maßgeblicher normativer Ausgangs- und Endpunkt eines jeden Weltrechtsverfahren. Die Transparenz völkerstrafrechtlicher Prozesse und die öffentliche Vermittlung von Urteilen wäre dann als wesentliche Legitimationsbedingung von nationalen Völkerstrafverfahren auf Grundlage des Weltrechtsprinzips zu verstehen.

Die konkreten Maßnahmen

Drei konkrete Maßnahmen werden zur Steigerung der „Breitenwirkung“ im Rahmen des Reformvorhabens bislang diskutiert. Schnell wird allerdings die begrenzte Reichweite der konkreten Änderungsvorschläge sichtbar.

Verdolmetschung im Gerichtssaal

So erweist sich die vorgeschlagene Regelung zur Nutzung von Verdolmetschungen als im Wesentlichen bloß klarstellende Festschreibung einer bereits etablierten Praxis. Denn schon bisher und ohne spezifische Rechtsgrundlage konnten Flüsterdolmetscher im Zuschauerraum agieren (vgl. BVerfG, 1 BvR 1918/20, Rn. 2-3). Lediglich pandemiebedingte Abstandsregelungen hatten im sog. Al Khatib-Verfahren am Oberlandesgericht Koblenz diesen eingespielten modus operandi unmöglich gemacht und den Antrag auf Mitnutzung der gerichtseigenen Übersetzungsinfrastruktur motiviert. Erst der ablehnende Beschluss (OLG Koblenz, Beschluss vom 09. Juli 2020, 1 StE 9/19, Rn. 9) stellte dann drauf ab, dass die Gerichtssprache Deutsch sei (vgl. § 184 GVG) und aus der erweiterten Zuständigkeit deutscher Gerichte nach dem VStGB keine Änderung prozessualer Normen folge.

Im nachfolgenden Eilverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (1 BvR 1918/20) wurde dem Oberlandesgericht dann – insoweit situationsbedingt – auferlegt, akkreditierten Medienvertreter:Innen mit besonderem Bezug zum syrischen Konflikt zu ermöglichen, das deutschsprachige Prozessgeschehen mithilfe eigener Vorkehrungen oder unter kostenpflichtiger Nutzung des gerichtlichen Übersetzungssystems in arabischer Sprache zu verfolgen. In ähnlicher Weise stellt auch der Regierungsentwurf (S. 25) im geplanten § 185 Abs. 4 GVG-E in das Ermessen der Gerichte, Medienvertreter:Innen die Mitnutzung der gerichtseigenen Verdolmetschung zu gewähren. Ein subjektiver Anspruch auf Zugang zu einer Verdolmetschung soll aber ausdrücklich (ebd., S. 25) nicht geschaffen werden.

Auch eine Regelung des Zugangs zu einer Verdolmetschung für Betroffene, Opferorganisationen und sonstige Dritte, die im Gerichtssaal das Verfahren verfolgen wollen, fehlt. Zwar ist anzuerkennen, dass das Bundesverfassungsgericht im Al Khatib-Verfahren einen simultan gestellten Eilantrag nichtjournalistisch tätiger Personen abgewiesen hatte (1 BVR 1919/20), weil diese über Medienberichte die Möglichkeit hätten, sich über das Verfahren zu informieren. Im ungünstigsten Fall könnte die vorgesehene Ergänzung des § 185 Abs. 4 GVG-E aber – e contrario – so gedeutet werden, dass nichtjournalistisch tätige Zuschauer anders als zuvor keine Flüsterdolmetscher mehr nutzen dürfen. Eine pandemiebedingte und lediglich im einstweiligen Rechtsschutz vorgenommene Differenzierung wäre dann unreflektiert ins Gesetz überführt und könnte für nichtjournalistische Zuschauer:Innen sogar einen Rückschritt in der sprachlichen Zugänglichkeit und damit der Teilhabe am Verfahren bedeuten.

Audio-visuelle Dokumentation

Zugleich macht der Entwurf deutlich, dass die Aufzeichnung von völkerstrafrechtlichen Verfahren ein begründungsbedürftiger Sonderfall bleiben soll, auch wenn das qualifizierte Erfordernis einer herausragenden zeitgeschichtlichen Bedeutung „für die Bundesrepublik Deutschland im § 169 Abs. 2 GVG zukünftig entfällt. In früheren Völkerstrafverfahren (vgl. hier, S. 160ff.) war die Anfertigung von Tonaufnahmen mit dem Hinweis auf dieses Tatbestandsmerkmal und einem fehlenden Bezug zu Deutschland sowie aus Zeugenschutzerwägungen abgelehnt worden. Daher soll die vorgesehene Änderung laut Regierungsentwurf (S. 17) zukünftig sicherstellen, dass auch in Völkerstrafverfahren Ton- und Bildaufnahmen gefertigt werden können, weil in diesen „häufig Wertentscheidungen von globaler Bedeutung“ getroffen würden.

Sollte die Audiodokumentation mit dem gegenwärtig noch kontrovers diskutierten Gesetz zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung zur Regel werden, ist allerdings nur die gesonderte Verwendungsmöglichkeit dieser für historisch-wissenschaftliche Zwecke und die zusätzliche Möglichkeit, Bildaufnahmen herzustellen, eine spezifische, über § 169 Abs. 2 GVG zu begründende, völkerstrafprozessuale Maßnahme. Wann aber zusätzliche visuelle Aufnahmen in Völkerstrafverfahren möglich oder geboten sein sollen, konkretisiert der Regierungsentwurf nicht hinreichend. Tatbestandlich wird für beide Aufnahmeformen unterschiedslos auf die herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung des Verfahrens abgestellt. In der Entwurfsbegründung (S. 17) wird zwar zusätzlich darauf verwiesen, dass bei komplexen Völkerstrafverfahren die Nachvollziehbarkeit der aufgearbeiteten Geschehnisse und ihre wissenschaftliche Untersuchung „lediglich mit Hilfe von reinen Tonaufnahmen“ erschwert sein könne. Diese Überlegung hat jedoch bislang keinen Niederschlag im Entwurfstext gefunden, sodass das Verhältnis beider Aufnahmeformen unklar bleibt. Auch Zeugenschutzerwägungen, die einer Dokumentation im Einzelfall ggf. entgegenstehen könnten, werden im Entwurf nicht adressiert.

Im Lichte der allgemeinen Vorbehalte der Strafjustiz gegenüber der digitalen Dokumentation des Strafverfahrens ist mithin zu befürchten, dass mit der geringfügigen Anpassung des § 169 Abs. 2 GVG und dem weit eingeräumten Ermessen auch nur eine marginale Steigerung der Zugänglichkeit und Breitenwirkung einhergehen wird. Die Alternative, eine audio-visuelle Dokumentation in allen völkerstrafrechtlichen Verfahren ohne Einzelfallprüfung gesetzlich vorzusehen, würde die Gerichte zudem von der schwierigen und gegenüber den Betroffenen ggf. anmaßenden Entscheidung entlasten, ob ein Völkerrechtsverbrechen zeitgeschichtlich „bedeutsam“ genug ist, um eine audio-visuelle Aufzeichnung zu begründen.

Urteilsübersetzungen

Die Frage, ob in Völkerrechtsverfahren eine Übersetzung des Urteils veröffentlicht werden sollte, regelt der Gesetzesentwurf, wie zuvor schon der Referentenentwurf, nicht mehr. Lediglich im Eckpunktepapier (S. 4) war noch ausgeführt worden, dass die Bundesregierung in speziell ausgewählten Fällen, nämlich bei „wegweisende[n] Urteile[n]“, eine Übersetzung durch das Justizministerium anstrebt. Über die Nichtregelung im Entwurf hinaus ist zu kritisieren, dass im Falle einer Übersetzung durch das Justizministerium die Verantwortung für die Übersetzung den eigentlich zuständigen Oberlandesgerichten entzogen würde, die in Verfahren auf Grundlage des Weltrechtsprinzips – im Sinne einer dualen Rolle – auch als Teilorgane eines sich konstituierenden internationalen Strafjustizsystems agieren. Es widerspräche insofern der strukturellen Staatsferne des Völkerstrafrechts, die Entscheidung über die Anfertigung einer Übersetzung einzelfallorientiert durch ein staatliches Ministerium treffen zu lassen. Denn es besteht die abstrakte Gefahr, dass die Übersetzung von völkerstrafrechtlichen Urteilen (auch) von politischen Erwägungen und nationalen Interessen abhängig gemacht werden könnte. Etwa dann, wenn zu bestimmen ist, ob ein Urteil „wegweisend“ genug für eine Übersetzung ist.

Eine mögliche Alternative wäre, grundsätzlich für eine bessere finanzielle Ausstattung der zuständigen Staatsschutzsenate an den Oberlandesgerichten auch für die Öffentlichkeitsarbeit zu sorgen. Zusätzliche Kosten, die mit der mehrsprachigen Information der Öffentlichkeit über den Verfahrensverlauf und die Verfahrensergebnisse – insb. durch Urteilsübersetzungen – einhergehen, könnten dem Bund gem. § 120 Abs. 7 GVG in Rechnung gestellt werden. Der Regierungsentwurf (S. 4) weist auf diese Lösung mit Blick auf zusätzliche Kosten für Verdolmetschungen im Rahmen der Nebenklage schon selbst hin.

Fazit

Im Ergebnis wird der Regierungsentwurf dem selbstgesteckten Ziel, die Breitenwirkung völkerstrafrechtlicher Verfahren zu steigern, kaum gerecht. Statt ein schlüssiges Gesamtkonzept für die wohlüberlegte Erweiterung der Öffentlichkeit zu entwickeln, das auf einer systematischen Betrachtung der kommunikativen Dimension des Völkerstrafprozesses aufbaut, adressiert das Reformvorhaben lediglich drei Einzelfragen, die als spezifische Defizite vergangener Verfahren kritisiert worden waren. Die Auswirkungen der konkret diskutierten Maßnahmen wird daher aller Voraussicht nach marginal bleiben. Wenn der Bundesminister der Justiz, Dr. Marco Buschmann, in der Bundestagsdebatte (S. 17818) zum Reformentwurf gleichwohl verkündet: „Das ist Fortschritt […].“, so grenzt dies angesichts der gegenwärtigen Entwurfsfassung an irreführende Werbung.

Es wäre demgegenüber zu begrüßen, wenn die Ende Januar anstehende Erörterung des Entwurfs im Rechtsausschuss dazu genutzt würde, zwei Jahrzehnte nach Schaffung des Völkerstrafgesetzbuches noch einmal grundsätzlich über die besonderen Herausforderungen völkerstrafrechtlicher Verfahren und die normative Struktur der Weltrechtspflege nachzudenken. Wenn der Reformentwurf nicht nur selektiv auf einzelne Defizite vergangener Verfahren reagieren, sondern das deutsche Strafjustizsystem planvoll für die vor zwanzig Jahren nicht vorauszusehende gegenwärtige Renaissance der völkerstrafrechtlichen Weltrechtspflege ausstatten würde, – dann ließe sich tatsächlich von „Fortschritt“ sprechen.

Autor/in
Morten Boe

Morten Boe ist Doktorand der Abteilung Strafrecht des Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, Freiburg i.B.

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