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Was wird aus der Beistandsklausel der EU?

Zum Stand der EU-Beistandsklausel nach dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens

08.08.2022

Finnland und Schweden haben seit dem Abend des 28. Juni Gewissheit: Beide werden Mitglieder im Verteidigungsbündnis der NATO. Nach einigen Zugeständnissen an die Türkei (ebenfalls NATO-Mitglied) können nun die Verfahren nach Art. 10 und 11 NATO-Vertrag abgeschlossen werden.

Doch waren Sie das nicht auch davor? Teil eines Verteidigungsbündnisses? Als EU-Mitgliedstaaten hätten sich Finnland und Schweden im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihr Hoheitsgebiet auf Art. 42 Abs. 7 EUV berufen können. Dem Wortlaut der sog. Beistandsklausel nach „schulden“ die anderen Mitgliedstaaten der Union einem Mitgliedstaat, der sich einem „bewaffneten Angriff“ ausgesetzt sieht „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“.

Nach dem Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO stellt sich die Frage nach dem rechtlichen Gehalt der Beistandsklausel sowie nach ihrer praktischen Relevanz. Insbesondere, ob unter dem „Hilfe schulden“ des  Art. 42 Abs. 7 EUV eine weitergehende Pflicht als die des Art. 5 NATO-Vertrag zu verstehen ist.

Denn entgegen dem allgemeinen Verständnis enthält Art. 5 des NATO-Vertrages keine militärische Beistandspflicht. Vielmehr ist es jedem NATO-Mitgliedstaat selbst überlassen, ob und wie er den anderen Bündnispartnern zur Hilfe kommt. Schaut man jedoch auf die jüngsten politischen Äußerungen, hat die Verpflichtung aus Art. 5 NATO-Vertrag praktisch eine überragende Bedeutung gegenüber seiner kleinen Schwester, der Beistandsklausel aus Art. 42 Abs. 7 EUV. Gerade vor dem Hintergrund des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine haben viele Staats- und Regierungschefs ihre unerschütterliche Treue zur NATO und den Bündnispartnern wiederholt und bekannt. Von der Beistandsklausel aus den europäischen Verträgen war soweit ersichtlich nie explizit die Rede.

Welche konkreten Pflichten ergeben sich aus der Beistandsklausel?

Der rechtliche Charakter – und damit auch die praktische Bedeutung – des Art. 42 Abs. 7 EUV lässt sich mithilfe einer Gliederung in Tatbestand und Rechtsfolge erfassen.

Verortet wird Art. 42 Abs.7 EUV im Teil der besonderen Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union, speziell der Bestimmungen über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik im EUV. Nach Art. 24 Abs. 3 EUV „unterstützen die Mitgliedstaaten die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos…“.

Tatbestandlich wird ein „bewaffneter Angriff“ auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates der EU gefordert. Was darunter zu verstehen ist, ist keine allein europarechtliche Frage. Der Verweis auf Art. 51 UN-Charta im Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 EUV zeigt, dass die im Völkerrecht geführten Diskussionen zur Natur des bewaffneten Angriffs (vgl. ICJ, Nicaragua v. United States of America, Merits [176]) jedenfalls nicht gänzlich unbeachtet gelassen werden dürfen. Zweifelsohne ist der Angriff Russlands auf die Ukraine ein Beispiel für einen „bewaffneten Angriff“ – wobei natürlich zu bemerken ist, dass die Ukraine (noch) kein EU-Mitgliedstaat ist, die Beistandsklausel an dieser Stelle ohnehin nicht greift.

Entscheidend für die Frage nach der Rechtspflicht ist die Rechtsfolgenseite der Beistandsklausel. Hier „schulden die anderen Mitgliedstaaten (…) alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“. Was unter „schulden“ sowie „Hilfe und Unterstützung“ zu verstehen ist, ist allerdings nicht eindeutig. Einige meinen, aus der Beistandsklausel ergebe sich lediglich eine rein politische Schuld und keine Rechtspflicht. Andere nehmen an, dass die Beistandsklausel eine Rechtspflicht beinhaltet und diskutieren vielmehr, ob die diese auch zum militärischen Beistand verpflichtet. Im rechtswissenschaftlichen Diskurs hat sich zwischen diesen divergierenden Meinungen noch kein Konsens hinsichtlich einer praktisch handhabbaren Handlungsoption für die Mitgliedstaaten herausgebildet. Im Rahmen der Diskussion im deutschen Rechtsraum ließ das Bundesverfassungsgericht die Frage nach dem rechtlichen Gehalt der Beistandsklausel in seinem Lissabon-Urteil (Rn. 385f.) unbeantwortet.

Ein Vergleich mit den englischen und französischen Fassungen des EUV – beide für die Interpretation der Verträge gleich der deutschen authentisch – lässt eher darauf schließen, dass eine rein politische Pflicht nur schwer angenommen werden kann: Sowohl die englische Fassung „obligation“ sowie das französische „lui doivent“ sind vom Wortlaut her eindeutiger und vermitteln eine Anspruchsposition. Doch die Frage nach ihrer Ausgestaltung bleibt.

Nimmt man die Vorgängernorm des Art. 42 Abs. 7 EUV als Beispiel, Art. 5 des Brüsseler Vertrags, lässt sich allerdings nur schwer für eine explizit militärische Beistandspflicht argumentieren. Art. 5 des Brüsseler Vertrages enthielt diese militärische Beistandspflicht im Wortlaut, doch wurde dieser Passus gerade nicht mit in den Vertrag von Lissabon aufgenommen. Im Gegensatz dazu hat der im Jahr 2019 geschlossene Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich (Aachener Vertrag) in seinem Art. 4 Abs. 1 wieder eine explizite militärische Beistandspflicht aufgenommen. Dies legt den Schluss nahe, dass wenn ein verpflichtender militärischer Beistand von den Mitgliedstaaten gewollt gewesen wäre, eine solche Pflicht sich auch im Wortlaut des Art. 42 Abs. 7 EUV widerspiegeln würde.

Hinsichtlich der Rechtsfolgenseite der Beistandsklausel muss zudem auf die ihr eigne Beschränkung hingewiesen werden. Jede Handlung zur „Hilfe und Unterstützung“ (gerade, wenn sie militärischer Natur sein sollte), muss im „Einklang mit Art. 51 UN-Charta“ erfolgen. Ferner gilt ein Prinzip, welches durch den Beitritt Finnlands und Schwedens weiter an Relevanz gewonnen hat: Nach Art. 42 Abs. 7 UAbs. 2 EUV dürfen Verpflichtungen, die sich aus dem NATO-Vertrag ergeben, nicht durch diejenigen der Beistandsklausel überlagert werden. In der Bündnisverteidigung der Union gilt also der Grundsatz „Nato first“.

Im November 2015 wurde die Beistandsklausel das erste und bislang einzige Mal aktiviert – als Reaktion Frankreichs auf die Bataclan-Anschläge (die Urteile zur Anschlagserie wurden Ende Juni verkündet). Unklar ist, ob Art. 42 Abs. 7 tatsächlich die passende Rechtsgrundlage für das Hilfeersuchen der Franzosen war: Von ihrem Wortlaut sowie Sinn und Zweck her wäre Art. 222 AEUV, die Solidaritätsklausel, passender gewesen. Diese bezieht sich gerade auf den Beistand durch andere Mitgliedstaaten (einschließlich militärischer Mittel), wenn es zu einem Terroranschlag auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates kommt. Grund für das Vorgehen Frankreichs könnte allerdings gewesen sein, dass Art. 222 AEUV allein auf das Territorium des ihn anwendenden Mitgliedstaat beschränkt ist. Auch richtet sich Art. 42 Abs. 7 EUV an die Mitgliedstaaten, Art. 222 AEUV hingegen auch an die Union und ihre Organe. Hinzukommt, dass ein aufwendiger Prozess gestartet werden hätte müssen: Nach den Vorgaben des Beschlusses des Rates zu Art. 222 AEUV vom 24. Juni 2014 hätte Frankreich unter anderem faktisch feststellen müssen, dass seine zur Verfügung stehenden „Bewältigungskapazitäten“ nicht ausreichen, um die Bedrohung allein zu bewältigen.

Hingegen gibt es zur Beistandsklausel (und ihrem Verhältnis zur Solidaritätsklausel) noch keine etablierte und rechtlich eindeutige Praxis. So konnte Frankreich im Rahmen der Beistandsklausel unkompliziert und vor allem schnell auf bilaterale Beziehungen unter Ausschluss der Unionsstrukturen zurückgreifen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der rechtliche Gehalt des Art. 42 Abs. 7 EUV abschließend dahingehend zusammenfassen, dass es zwar eine Pflicht zur Hilfeleistung gibt, diese allerdings unter der Schwelle militärischer Hilfe bleibt. Eine solche Pflicht gibt der Wortlaut der Beistandsklausel in seiner heutigen Fassung nicht her. Doch kommt den Mitgliedstaaten im Ergebnis eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich ihres Handelns zu. So kann (freiwillige) militärische Hilfe der Mitgliedstaaten im Rahmen der Beistandsklausel mithin nicht ausgeschlossen werden. Der Vorwurf, die Beistandsklausel sei ein zahnloser Tiger, ist unter diesen Gesichtspunkten also nicht ganz richtig. Insbesondere dann nicht, wenn man mit dem Beschluss des BVerfG von 2019 (Rn. 52) – mit explizitem Verweis auf Art. 42 Abs. 7 EUV – nunmehr davon ausgeht, dass auch die EU vertretbar als ein System kollektiver Sicherheit iSd Art. 24 Abs. 2 GG angesehen werden kann. Dies könnte im Lichte des möglichen Beitritts der Ukraine zur EU nicht ganz unbedeutend sein.

Warum es weiterhin die Beistandsklausel braucht

Doch zurück zum Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO. Nun profitieren auch sie vom „NATO first“ Prinzip der europäischen Verteidigung. Einen Grund, sich im Fall des Falles auf die EU-Beistandsklausel anstelle des Art. 5 NATO-Vertrag zu berufen, gibt es für beide Staaten faktisch nicht mehr. Für den überwiegenden Teil der Mitglieder der EU wäre im Falle eines Angriffs auf ihr Hoheitsgebiet die NATO und nicht die EU, erster Ansprechpartner. Wenn es hart auf hart kommt, ist somit immer noch die NATO und damit auch die USA Garant für die Sicherheit in Europa. Von den aktuell 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind nunmehr auch 23 Mitglieder der NATO. Nur für die verbleibenden vier EU-Mitgliedstaaten Irland, Malta, Österreich und Zypern ist die EU mit ihrer Beistandsklausel das einzige sie schützende Verteidigungsbündnis. Diesen Mitgliedstaaten kommt sonach eine gewisse Sonderstellung zu. Einerseits verstehen sich Österreich, Irland und Malta als dezidiert neutrale Staaten. Für Irland wurde gar die sog. „irische Klausel“ im Art. 42 Abs. UAbs. 1 S. 2 EUV geschaffen. Hiernach bleibt „der besondere Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt“.

Andererseits bedeutet dieser „besondere Charakter“ im Fall eines „bewaffneten Angriffs“ dennoch nicht ipso iure, dass diese Staaten nicht Art. 42 Abs. 7 EUV oder Art. 51 UN-Charta in Anspruch nehmen könnten. Außerdem ist es ihnen möglich, ihrerseits (militärische) Hilfe zu verwehren.

So hat die Beistandsklausel also weiterhin ihre Existenzberechtigung verdient. Sie ist mehr als nur ein zahnloser Tiger. Neben ihrer Bedeutung für die vier EU-Mitgliedstaaten (auch, wenn sie zum Großteil als dezidiert „neutral“ gelten wollen), kann nach dem 24. Februar nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden, dass ihre Neutralität auch von anderen Staaten respektiert wird. Zudem zeigt nicht nur die in Deutschland angestoßene „Zeitenwende“, sondern auch die jüngste Volksabstimmung in Dänemark, dass sich lang anhaltende politische Überzeugungen angesichts einschneidender Ereignisse schlagartig ändern können. So stimmte das dänische Volk, nach jahrzehntelangem Vorbehalt, für eine Teilnahme an der EU-Verteidigungspolitik.

Ferner ist – jedenfalls im Rahmen der deutschen Verteidigung – der Art. 42 Abs. 7 EUV nicht ganz vergessen: Nach Mitteilung des BMVg sind die Beistandsverpflichtungen der  NATO und der EU als „komplementär“ anzusehen.

Mit den Ereignissen seit dem 24. Februar 2022 ist das für eine ganze Generation einst undenkbare, wieder traurige Realität geworden. Deshalb lohnt sich der Blick auf die bestehenden Verteidigungsstrukturen. Dieser zeigt, dass die Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 EUV eine rechtliche Pflicht zum Beistand im Fall eines Angriffs enthält. Diese bleibt allerdings unter der Schwelle einer militärischen Beistandspflicht. Gleichwohl räumt sie den Mitgliedstaaten einen großzügigen Ermessensspielraum ein und schafft unterschiedliche Handlungsoptionen für ein gemeinsames Vorgehen.

Denn ob sich die Union auf die einst unumstößliche Sicherheitsgarantie der USA für Europa verlassen kann, ist gerade heute mehr denn je ungewiss. Mit der Präsidentschaft Trumps wurde der EU plötzlich schmerzlich bewusst, dass diese Garantie nunmehr nicht mehr vollumfänglich gilt. In Zukunft werden wohl die Überlegungen zur Neuausrichtung der europäischen Verteidigung weiter an Relevanz gewinnen.

Autor/in
Jasper Kamradt

Jasper Kamradt is a research assistant and PhD candidate at Humboldt University Berlin. His research focuses on recent challenges to Solidarity in Europe, especially in European External Relations Law, Common Security and Defense, and Climate Law.

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