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UNGA-Resolution 2758

Legitimierung einer Gewaltanwendung Chinas gegen Taiwan?

25.11.2024

Im Oktober 2024 nahm das Europäische Parlament (EP) eine Resolution an, in der es China anschuldigt, Resolution 2758 der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNGA) mit dem Ziel fehlzuinterpretieren, Taiwans Beteiligung in internationalen Organisationen zu blockieren und unilateral den Status quo zu verändern. In Folge der besagten UNGA-Resolution aus dem Jahr 1971 verlor der von Chiang Kai-shek ernannte Vertreter den Sitz für China in der UN-Vollversammlung, während die Vertreter der Volksrepublik China (People’s Republic of China, PRC) als alleinige legitime Repräsentation Chinas bei der UN anerkannt wurden. Auf UNGA-Resolution 2758 – in der Taiwan gar nicht erwähnt wird – bezieht sich die PRC trotzdem immer wieder, um zu behaupten, dass Taiwan de jure als ein integraler Bestandteil Chinas zu betrachten sei. Diese Fehlinterpretation charakterisiert die Taiwan-Frage als eine innere Angelegenheit Chinas und bereitet so den Weg hin zu einem Ausschluss einschlägiger völkerrechtlicher Prinzipien, insbesondere des Gewaltverbots, für den Kontext China-Taiwan. Gleichzeitig wird die Souveränität Chinas hervorgehoben und jegliche mögliche Intervention durch Drittstaaten ausdrücklich verurteilt. Im Lichte dieser Fehlinterpretation stellte das EP mit seiner oben genannten Resolution aus dem Oktober 2024 nun klar, wie UNGA-Resolution 2758 tatsächlich zu verstehen ist: Während diese Resolution den Status der PRC innerhalb der UN adressiere, lege sie nicht fest, dass die PRC Souveränität über Taiwan genieße. Die Handlungen der PRC, womit die bewusste Fehlinterpretation der UN-Resolution 2758 gemeint sind, so das EP weiter, würden Chinas Ambition, die existierende multilaterale Weltordnung zu verändern und internationales Recht zu unterminieren, verdeutlichen und seien somit Ausdruck einer Systemrivalität.

Die Resolution des EP ist kein Einzelfall. 2024 verabschiedeten auch die Parlamente Australiens und der Niederlande ähnliche Resolutionen. Diese Entwicklung lässt sich auf den Taiwan International Solidarity Act zurückführen, der im Mai 2023 vom Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des United States House Committee on Foreign Affairs verabschiedet wurde. Darin wurde festgehalten, dass UNGA-Resolution 2758 weder die Frage der Repräsentation Taiwans bei der UN adressiere noch Position vis-à-vis der Beziehung zwischen der PRC und Taiwan oder Taiwans Souveränität beziehe.

Es stellt eine ungewöhnliche Erscheinung dar, dass eine vor mehr als fünf Jahrzehnten verabschiedete UNGA-Resolution von mehreren Staaten erneut einer Klarstellung unterzogen wird. Der Wortlaut der UNGA-Resolution erscheint zwar eindeutig, dennoch gibt er aktuell Anlass zu erheblichen rechtlichen Kontroversen. Im Kontext dieser Kontroversen warnt dieser Blogbeitrag davor, Taiwan auf Grundlage der UNGA-Resolution 2758 als integralen Bestandteil Chinas zu betrachten. Eine derartige Auffassung würde eine mögliche Gewaltanwendung Chinas gegen Taiwan legitimieren, was einen Verstoß gegen das in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta sowie im Völkergewohnheitsrecht verankerte Gewaltverbot darstellen würde und folglich den Weltfrieden sowie die regelbasierte internationale Ordnung gefährden könnte.

Historischer Hintergrund der Taiwan-Frage

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entbrannte ein Bürgerkrieg zwischen der von Chiang Kai-shek geführten Kuomintang (KMT) und der von Mao Zedong geführten Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Als schlussendlich die KMT der KPC unterlag, zog sich erstere nach Taiwan zurück. Am 1. Oktober 1949 erklärte die KPC offiziell die Gründung der PRC, womit sie eine Abgrenzung zur Republik China (Republic of China, ROC) vollzog. Seitdem führen die PRC, welche niemals die Hoheitsgewalt über Taiwan ausübte, und die ROC, die nach Taiwan floh, einen langwierigen Konflikt. Ab den 1950er Jahren focht die PRC den durch die ROC belegten Sitz Chinas in der UN-Vollversammlung an. Bis Anfang der 1970er Jahre erwies sich die ROC als zunehmend unfähig, diesen Anfechtungen wirksam entgegenzutreten. Dies mündete 1971 in der Verabschiedung der UNGA-Resolution 2758 sowie der Isolation der ROC innerhalb der internationalen Gemeinschaft, was die ROC nach ihrer Demokratisierung jedoch nicht daran hinderte, Außenbeziehungen einzugehen und den Frieden in der Taiwanstraße zu wahren.

In dieser Zeit des Kalten Krieges entschied man sich letztlich dazu, die Taiwan-Frage bewusst nicht zu beantworten, was die Lösung der Streitigkeiten bis heute erschwert. China zeigt jedoch offenbar eine zunehmende Ungeduld in dieser Angelegenheit. So übersandte China mindestens seit dem Jahr 1997 Schreiben an den Generalsekretär der UN, in denen es behauptet, die UNGA-Resolution 2758 bestätige das Ein-China-Prinzip und regele so abschließend die Frage der chinesischen Repräsentation bei der UN. 2017 übersandte China abermals ein Schreiben an den Generalsekretär und bestärkte diese Erklärung unter wiederholter expliziter Bezugnahme auf das Ein-China-Prinzip, obwohl dieses in der besagten Resolution überhaupt nicht erwähnt wird.

Gefährliche Verknüpfung des Ein-China-Prinzips mit der UNGA-Resolution 2758

Die Wiedervereinigung mit Taiwan stellt ein zentrales Interesse Chinas dar, was in der Präambel der chinesischen Verfassung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird. Dieses Interesse wird durch das Ein-China-Prinzip konkretisiert und in Art. 2 Anti-Secession Law kristallisiert, in welchem drei Elemente der Beziehung zwischen China und Taiwan herausgearbeitet werden: Es gebe nur ein China auf der Welt (1), Taiwan sei ein untrennbarer Teil Chinas (2) und die Regierung der Volksrepublik China sei die einzige legitime Regierung auf der Welt, die China vertritt (3).

Zur Durchsetzung dieses Anspruchs droht China ausdrücklich mit der Gewaltanwendung gegen Taiwan. So sieht Art. 8 Anti-Secession Law explizit die Zulässigkeit der Gewaltanwendung im Falle einer Abspaltung (secession) Taiwans von China vor. Die Tatsache, dass Taiwan sich selbst regiert, erfüllt dabei bereits die Tatbestände für die in dieser Norm verankerten Voraussetzungen (the fact of Taiwan’s secession from China) einer Gewaltanwendung. Sollte nun also die Behauptung, dass UNGA-Resolution 2758 das Ein-China-Prinzip umfasse, international Anerkennung finden, würde diese Resolution auf völkerrechtlicher Ebene zu einer der rechtlichen Grundlagen für die Legitimation der Gewaltanwendung Chinas gegen Taiwan werden.

Die Rückkehr der Taiwan-Frage auf die internationale Agenda

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie sowie der russischen Vollinvasion der Ukraine hat sich die Geopolitik weltweit erheblich verändert. Sollte die Aggression Russlands gegen die Ukraine letztlich erfolgreich sein, würde dies den Anreiz für Staaten erhöhen, Streitigkeiten durch den Einsatz von Gewalt zu lösen. Es besteht somit die Sorge, dass Russlands Aggression gegen die Ukraine China zu einem ähnlichen Vorgehen veranlassen könnte. Dies ist kein Alarmismus. Vielmehr spiegeln Chinas immer engere Beziehungen zu Russland sowie seine gemeinsamen Militärübungen mit Belarus Chinas wachsende militärische Ambitionen wider. Außerdem verdeutlichen Chinas vermehrte Militärübungen und Grauzonenoperationen im Südchinesischen Meer und in der Taiwanstraße seine zunehmend aggressive Außenpolitik. Die Rückeroberung Taiwans wurde von China wiederholt als Kerninteresse deklariert. Allein im Jahr 2024 führte China zwei militärische Manöver rund um Taiwan durch. Angesichts der aktuellen Eskalation erscheint ein möglicher Militäreinsatz zunehmend wahrscheinlich.

Die Anwendbarkeit des Gewaltverbots

Das Gewaltverbot findet traditionell lediglich auf zwischenstaatliche Beziehungen Anwendung. Obwohl die Frage, ob Taiwan als Staat anzusehen ist, umstritten ist, wird Taiwan jedoch in der Regel als De-facto-Staat eingestuft. Einige Stimmen aus der Wissenschaft nehmen an, dass das Gewaltverbot auf De-facto-Staaten oder -Regime anwendbar ist. Diese Rechtsauffassung findet Unterstützung in der Staatenpraxis, die eine Tendenz zu einer extensiven Auslegung der Definition eines Staates im Kontext des Gewaltverbots erkennen lässt. So wird in Art. 1 Anhang der UNGA-Resolution 3314 (XXIX) zur Definition von Aggression ausgeführt, dass die Definition des Begriffs „Staat” unabhängig von der Frage ist, ob ein Staat als solcher anerkannt oder Mitglied der Vereinten Nationen ist. Folglich kann selbst bei weitgehender Nichtanerkennung eines Staates nicht pauschal angenommen werden, dass dieser nicht unter den Schutz des Gewalt- oder Aggressionsverbots fällt. In diesem Zusammenhang befand die Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia im Jahr 2009, dass das Gewaltverbot auf Konflikte zwischen einem Staat (Georgien) und einer „entity short of statehood“ (Südossetien) anwendbar ist.

Eine solche extensive Auslegung ist nicht unumstritten. Es ist nachvollziehbar, dass die grundlegende Haltung souveräner Staaten in dieser Thematik oft darin besteht, die Anwendung von Gewalt durch Separatisten oder durch auf deren Einladung intervenierende Akteure zu verurteilen. Dies kann durch eine enge Auslegung des Begriffs „Staat“ erreicht werden. Die Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ in der Ostukraine durch Russland als Legitimationsgrundlage für seine Gewaltanwendung ist ein überzeugendes Beispiel, das den Wert einer solchen strikten Auslegung eindrucksvoll verdeutlicht.

Auf der anderen Seite könnte eine strikte Auslegung Staaten dazu ermutigen, anderen Staaten unter verschiedenen Vorwänden die Staatlichkeit abzusprechen, um dann Angriffskriege zu beginnen, die sodann angeblich nicht dem Gewaltverbot unterliegen. Der Fall Taiwans ist dieser Kategorie zuzurechnen. Denn obwohl Taiwan eine funktionierende Demokratie ist, besteht eine der derzeit größten Bedrohungen für die globale Sicherheit darin, dass die Anwendbarkeit des Gewaltverbots in einem potenziellen Konflikt in der Taiwanstraße mit der Begründung ausgeschlossen wird, dass Taiwan kein anerkannter Staat ist. Das Argument, dass eine extensive Auslegung des Begriffs „Staat“ die Gewaltanwendung oder Intervention durch Aggressoren legitimieren könnte, ist in Anbetracht dieser Realität nicht überzeugend. Aus völkerrechtlicher Perspektive ist zu beachten, dass Taiwan alle Kriterien der Staatlichkeit erfüllt. Die dennoch eingeschränkte Anerkennung ist auf politische Überlegungen zurückzuführen. Diese Situation unterscheidet sich wesentlich von Szenarien, wie der oben geschilderten Ostukraine-Russland-Situation, in denen ein Drittstaat ein Regime innerhalb eines Staates unterstützt, dessen Unabhängigkeit fördert und anschließend interveniert oder eine Annexion vornimmt. Außerdem ist die Entstehung des Status quo in der Taiwanstraße das Ergebnis einer durch verschiedene Verträge während des Kalten Krieges bewusst herbeigeführten Entwicklung und nicht das Resultat eines Angriffskrieges. Auch wenn dieser Status quo fragil ist, wurde über Jahrzehnte hinweg ein Zustand des Friedens in der Taiwanstraße aufrechterhalten. Eine Zerstörung dieses Friedenszustandes ist in keiner Weise akzeptabel. Die Ablehnung der Anwendbarkeit des Gewaltverbots in einem Konflikt in der Taiwanstraße ist weder rechtlich noch moralisch haltbar.

Darüber hinaus impliziert Resolution 1368 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die im Anschluss an die Ereignisse vom 11. September verabschiedet wurde, dass auf Angriffe durch nichtstaatliche Akteure ebenfalls der Gewaltbegriff angewandt werden kann, was das Recht auf Selbstverteidigung auslöst. Sollte jedoch der umgekehrte Fall eintreten – in welchem Angriffe von Staaten auf nichtstaatliche Akteure oder De-facto-Staaten nicht als Gewaltanwendung betrachtet würden und somit das Gewaltverbot sowie das Recht auf Selbstverteidigung nicht zur Anwendung kämen – würde dies Staaten indirekt dazu ermutigen, Konflikte gewaltsam zu lösen. Eine gleichberechtigte Anwendung des Gewaltverbots ist daher essenziell, da sie dazu beiträgt, möglichst viele bewaffnete Konflikte zu vermeiden. Dies bedeutet, dass weder De-facto-Staaten andere Staaten angreifen dürfen noch andere Staaten De-factoStaaten angreifen dürfen. Somit wird gewährleistet, dass sowohl China als auch Taiwan von der Einhaltung des Gewaltverbots profitieren.

Fazit: Schweigen (bei Gewalt) ist nicht immer Gold

Folgt man der von China vorgetragenen oben diskutierten Interpretation, könnte die Kombination aus Ein-China-Prinzip und UNGA-Resolution 2758 eine mögliche Gewaltanwendung Chinas gegen Taiwan legitimieren. Die Unterstützung der Behauptung Chinas, dass Taiwan auf Grundlage der UNGA-Resolution 2758 ein Teil Chinas sei, würde folglich bedeuten, eine mögliche völkerrechtswidrige Gewaltanwendung Chinas gegen Taiwan zu billigen. Dies steht im Widerspruch zum Streben nach Frieden gemäß der Präambel sowie zum in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta festgeschriebenen und im Völkergewohnheitsrecht enthaltenen Gewaltverbot. Eine derartige Position sollte auf völkerrechtlicher Ebene entschieden zurückgewiesen werden, um den Weltfrieden zu wahren und eine regelbasierte internationale Ordnung aufrechtzuerhalten. Die eingangs genannten Resolutionen sind hierfür ein zu begrüßender Anfang.

 

Der Verfasser würdigt die Anmerkungen und die Perspektiven, die die Herren Prof. Dr. Chien-Huei Wu und Prof. Dr. Ching-Fu Lin zum Manuskript dieses Blogbeitrags beisteuerten.

Der Verfasser möchte ebenfalls dem Team des Völkerrechtsblogs sowie dem anonymen Reviewer für ihre umfassende Unterstützung und ihre wertvollen Anmerkungen danken.

Autor/in
Jen-Yi Lin

Jen-Yi promoviert an der Universität Hamburg. Er konzentriert sich auf Außenverfassungsrecht, Europarecht und Völkerrecht, insbesondere auf die Aspekte bewaffneter Konflikte.

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