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Rule of Law-Förderung jenseits des Staatsaufbaus?

16.02.2015

Dieser Beitrag setzt die Kooperation des Völkerrechtsblogs mit der „Verfassung und Recht in Übersee” fort, deren aktuelle Ausgabe mit einem frei zugänglichen Beitrag vom selben Autor soeben erschienen ist.

Die internationale Rule of Law-Förderung steht an einem konzeptionellen Wendepunkt: weg vom (Rechts-)Staatsaufbau und hin zu einer Rule of Law-Reform der „zweiten Generation“, die analytischer im Zugriff, bescheidener in der Zielsetzung, und kontextsensibler bei der Umsetzung sein soll.

Zwar teilt die internationale Gemeinschaft nach wie vor den Glauben daran, dass Rechtsstaatlichkeit eine wichtige Bedingung für die Stabilität und die Entwicklung eines Landes bildet, sicherere Märkte schafft und Ländern und Personengruppen die Anbindung an das internationale Politiksystem und sein Recht ermöglicht. Erst 2012 verabschiedete die VN-Generalversammlung ihre Erklärung zur Rule of Law auf nationaler und internationaler Ebene, in der sie die Überzeugung ausdrückte, dass die Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit eine notwendige Voraussetzung für Wachstum, nachhaltige Entwicklung die Beseitigung von Armut und Hunger und die Verwirklichung der Menschenrechte darstelle. Freilich ist der Wert dieser Feststellung fraglich, wenn sich diese Rechtsstaatlichkeit vielerorts nicht von selbst entwickelt und auch nicht mithilfe externer Unterstützung herstellen lässt.

Rule of Law als Allzweckwaffe?

Während die Rule of Law-Förderung in den neunziger Jahren als eine Allzweckwaffe zur Lösung der dringlichen außen- und entwicklungspolitischen Probleme galt, überwiegt heute vielfach Skepsis. Immer deutlicher zeigte sich zuletzt, dass die Reform des Justizsektors in den Post-Konfliktländern und der Aufbau von Rechtsstaatlichkeit höchst anspruchsvolle und langwierige Unternehmungen sind, mit denen hohe Kosten verbunden sind und die ein großes Risiko des Scheiterns bergen. Afghanistan, Kosovo, Ost-Timor, Südsudan, Irak − gerade die großen internationalen Missionen, die den Rechts‐ und Justizsektor eines Landes als ganzen betreffen, sind vielen Kritikern der Beleg dafür, dass die Politik des Rechtsstaatsaufbaus gescheitert ist. Der neu geschaffenen Justiz fehlt es oft an der erforderlichen Legitimität, wichtige Entscheidungen werden nicht nach dem Gesetz, sondern nach informalen „rules of the game“ getroffen, und flächendeckende Korruption verhindert den Aufbau funktionierender rechtsstaatlich gebundener Verwaltungen. Kleinteiligere Maßnahmen und Projekte, wie sie typischerweise in der bilateralen Außen- und Entwicklungspolitik gefördert werden, versprechen oft mehr Erfolg. Doch fehlt es an den Daten, mit denen sich diese Erfolge nachprüfen ließen, weil die Maßnahmen nur selten evaluiert werden.

Um die Effektivität ihrer Programme zu verbessern, verabschieden sich vor allem internationale Geberorganisationen zunehmend von einer umfassenden Staatsaufbau-Agenda und orientieren sich stattdessen an den Kriterien der Rule of Law-Reform der „zweiten Generation“, wie sie Rachel Kleinfeld im Jahr 2012 skizzierte („Advancing the Rule of Law Abroad: Next Generation Reform“, Carnegie Endowment for International Peace). Unter Reform verstehen sie einen inkrementellen Entwicklungsprozess, der von den lokalen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit ausgeht und der das Gesamt bestehender lokaler Rechtsstrukturen betrifft. Sie stellen eine umfassende Problemanalyse an den Anfang ihrer Vorhaben, um den zusätzlichen Bedarf an Rule of Law zu bemessen, und zwar aus der Sicht der lokalen Bevölkerung, die sie bei ihren Reformbemühungen unterstützen. Sie bestimmen Indikatoren und Benchmarks, um den Erfolg der Reformbemühungen begleitend und abschließend bemessen zu können. Und sie verknüpfen die Erreichung bestimmter Reformziele mit der Aussicht auf externe Unterstützungsleistungen oder die Option zum Beitritt zu einer internationalen Organisation, um zusätzliche Anreize für den Reformprozess zu schaffen, aber auch, damit internationale Interessen in dem Prozess Berücksichtigung finden.

“Justice for the poor”

Was Rule of Law-Reform der „zweiten Generation“ bedeutet, zeigt vielleicht am deutlichsten die Arbeit des „Justice for the Poor“-Programms der Weltbank. Im Zentrum der Reform-Bemühungen steht der Zugang zu Recht und Justiz − Access to Justice −, wobei der Fokus auf den marginalisierten Gruppen der Bevölkerung liegt, die zur besseren Wahrnehmung ihrer Rechte befähigt werden sollen. Pionierprojekte in einer Reihe von Ländern wie in Indonesien, wo das Programm schon seit 2002 zur Anwendung kommt, setzen (1) auf die Stärkung lokaler, oft informeller Rechtsdurchsetzungsmechanismen, die zugleich (2) in die übergeordnete staatlichen Rechts- und Gerichtsstrukturen eingebettet werden. Der Formulierung der konkreten Ziele und dem Design einzelner Empfehlungen und Maßnahmen gehen umfangreiche Assessments voraus, die im Anspruch wie in der Ausführung sozialwissenschaftlichen Standards verpflichtet sind. Erst die Kontextanalyse fördert zutage, welche Mechanismen im lokalen Kontext in der Lage sind, legitime Entscheidungen zu treffen und Rule of Law-Funktionen zu erfüllen. „Rule of Law“ wird so zu einem Synonym für eine rechtlich strukturierte Ordnung, unabhängig von der Staatlichkeit der Strukturen. Das staatliche Recht erhält in erster Linie noch eine koordinierende Funktion, es soll die verschiedenen lokalen Mechanismen in Gleichklang bringen und normative Mindeststandards behaupten.

Vergleichbare analyseorientierte Programme, die im Rahmen der Rechtsstaatsförderung lokale und staatliche Justizmechanismen in einem einheitlichen Ansatz ansprechen, kommen zunehmend auch bei den nationale Entwicklungsagenturen und -programme ‒ etwa dem britischen Department for International Developent (DfID) und dem dänischen Danida ‒ zur Anwendung.

Lokale Rechtssysteme sollen immer dann zur Rule of Law beitragen, wenn sie Rechts- und Justizfunktionen erbringen und den Zugang zum Recht verbessern. Doch erschwert die große empirische Vielfalt die systematische Analyse der nicht-staatlichen Mechanismen. Das hat zuletzt der UN-Bericht über Informal Justice Systems (2013) deutlich gemacht, der eine Vielzahl unterschiedlicher Typen von informellen Justizsystemen sowohl nach der Art ihrer Autorität (tribal, religiös) als auch nach ihrer Funktion und Reichweite der Einbindung in die staatliche Ordnung unterscheidet. Im vom World Justice Project jährlich veröffentlichten Rule of Law Index bildet „informelle Justiz“ schon seit 2012 einen von neun Faktoren zur Bemessung von Rule of Law. Doch weisen die Autoren jedes Jahr wieder auf die großen Schwierigkeiten hin, die die Beschreibung der Systeme und ihre Bewertung im Hinblick auf Rule of Law verursacht, weshalb sie diesen Faktor in der Gesamtschau der aggregierten Daten außer Acht lassen.

Informelles Recht als Teil von Rule of Law?

Unter welchen Bedingungen informelle Rechtssysteme ein funktionales Äquivalent zum staatlichem Recht bilden und Eingang in Rule of Law-Überlegungen finden können, ist eine Frage, die sich insbesondere auch in normativer Hinsicht stellt. Funktionale Äquivalenz zur Rule of Law erfordert in qualitativer Hinsicht mehr als die effektive Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Denn der mit Rule of Law verbundene normative Anspruch wäre aufgegeben, wenn sie Institutionen zugestanden würde, die Un-Recht tun, indem sie systematisch unhintergehbare Menschenrechts- und Fairnessstandards verletzen. Als normatives Prinzip steht Rule of Law auch und gerade für die Einhegung von unbegrenzter willkürlicher Machtausübung. Der mit Rule of Law verbundene Anspruch schließt es aus, dass Rechtsstaatsförderung unter dem Prinzip der Kontextsensibilität Strukturen stärkt, die anstelle von Zugang zum Recht nur „poor justice for the poor“ bereitstellen. Allerdings kann ein in westlichen Verfassungsstaaten angestrebter Rechtsstandard auch nicht zur Bedingung für die externe Unterstützung nicht-staatlicher Rechtssysteme Gemacht werden. Die Anforderung wäre sonst deutlich strenger als bei der Unterstützung staatlicher Rechts- und Justizsysteme, bei denen normative Defizite meist in Kauf genommen werden. Doch muss wenigstens die institutionelle und normative Anschlussfähigkeit an übergeordnete Rechtsstrukturen und an internationale Rechts- und Rule of Law-Diskurse gewahrt sein, was einen Konsens über normative Mindeststandards („Ordre Public“) ebenso voraussetzt wie das Bestehen institutioneller Schnittstellen für die Thematisierung von Differenz.

Vorbilder für die effektive Verkopplung von nicht-staatlichen Institutionen in übergeordnete Rechts- und Justizstrukturen finden sich bereits in vielen nationalen Rechtsordnungen. In Südafrika etwa bindet die Verfassung traditionelle Customary Courts in die offizielle staatliche Gerichtsbarkeit ein, stellt die Anerkennung ihrer Entscheidungen unter den Vorbehalt, dass die in der Verfassung garantierten Menschenrechte beachtet wurden, und strukturiert die institutionelle Verbindung der beiden Rechts- und Gerichtssysteme unter anderem über den Instanzenzug. Die Regelungen sind denen über die Selbstregulierungsautonomie der Kirchen in Deutschland nicht unähnlich. Der Zielkonflikt zwischen der menschenrechtlich gebotenen Anerkennung der traditionellen Justiz und dem damit verbundenen Access to Justice einerseits und den von der Verfassung garantierten individuellen Rechten andererseits wird im Einzelfall durch Abwägung und die Herstellung praktischer Konkordanz gelöst (Constitutional Court Shilubana v Nwamitwa (2008), Rz 47). Nach knapp 20 Jahren zeigen sich nun immer öfter Veränderungen im Sinne der Rule of Law, wenn etwa die traditionellen Autoritäten entgegen der Tradition die Entscheidungen ihrer Gerichte verschriftlichen und archivieren oder Rechtsvertreter zum Verfahren zulassen. Die Diffusion von Rule of Law-Prinzipien in das nicht-staatliche Rechtssystem ist ein langwieriger Prozess, allerdings mit nachhaltiger Wirkung.

 

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am WZB Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und am Berliner Sonderforschungsbereich 700 Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit?. Gerade  ist das von ihm zus. mit Tilmann J. Röder, Gunnar Folke Schuppert und Rüdiger Wolfrum herausgegebene Buch Non-State Justice Institutions and the Law: Decision-Making at the Interface of Tradition, Religion and the State (Palgrave Macmillan: London New York 2015) erschienen.

 

Cite as: Matthias Kötter, “Rule of Law-Förderung jenseits des Staatsaufbaus?”, Völkerrechtsblog, 16 February 2015, doi: 10.17176/20170125-214259.

Autor/in
Matthias Kötter
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