Wie universal kann ein eurozentrisch geprägtes Völkerrecht sein? Und wie lässt sich vermeiden, dass faktische Ungleichheit eine internationale Rechtsordnung sprengt, die seit der Dekolonisierung als Recht zwischen Gleichen ausgestaltet ist? Mit diesen Fragen hat sich der Zürcher Historiker Jörg Fisch schon in seiner 1984 veröffentlichten Bielefelder Habilitationsschrift „Die europäische Expansion und das Völkerrecht“ befasst – einer bahnbrechenden Studie über „die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, die in der neuerdings florierenden juristisch-historischen Querschnittsdisziplin der Völkerrechtsgeschichte längst als Klassiker rezipiert wird.
Indem Fisch zeigt, wie sich in der Phase der europäischen Expansion mittels direkter Eroberung und indirekter Herrschaft neue völkerrechtliche Formen und Instrumente herausbildeten, zeichnet er ein nuanciertes Bild der Rolle des Rechts in der internationalen Politik. Und widerlegt so mit Nachdruck Carl Schmitts These von einem überseeischen Raum der Rechtlosigkeit, welcher vom Raum des europäischen Völkerrechts durch „Freundschaftslinien“ geschieden sei. Kein „Jus Publicum Europaeum“ im Sinne Schmitts habe sich im Prozess der europäischen Expansion formiert, sondern ein Völkerrecht der Europäer, ein „Jus Publicum Europaeorum“. Der genaue Blick auf die Akteure erlaubt dem Koselleck-Schüler Fisch eine differenzierte Auseinandersetzung mit deren mission civilisatrice, ihren juristischen und moralischen Rechtfertigungsstrategien, die er in einem glänzenden hundertseitigen Eintrag „Zivilisation, Kultur“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ seziert.
Schon seit Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat sich der in St. Gallen geborene Jörg Fisch der Völkerrechtsgeschichte verschrieben – die in einer kleinen interdisziplinären Nische ein Aschenputteldasein fristete, als 1979 Fischs monumentale Arbeit „Krieg und Frieden im Friedensvertrag“ erschien, hervorgegangen aus der von Reinhart Koselleck betreuten Heidelberger Dissertation. Die quellengesättigte Studie „über Grundlagen und Formelemente des Friedenschlusses“ wurde zum soliden Fundament eines Lebenswerkes, dessen Autor es meisterhaft versteht, völkerrechtliche, historische und politikwissenschaftliche Perspektiven in ein so originelles wie produktives Verhältnis zu setzen, ohne dabei methodische Präzision und disziplinären Tiefgang dranzugeben.
Nach Assistentenjahren in Bielefeld und ersten Professuren in Bielefeld und Mainz lehrte Fisch von 1987 bis zur Emeritierung 2012 als ordentlicher Professor für Allgemeine neuere Geschichte an der Universität Zürich. Studienaufenthalte und Gastprofessuren führten ihn an die School of Oriental and African Studies, an die École des Hautes Études en Sciences Sociales, die Juristische Fakultät der Universität Tokio und die Australian National University in Canberrra.
Als Fellow am Historischen Kolleg München vollendete er eine unlängst auch in englischer Übersetzung erschienene begriffs- und politikgeschichtliche Darstellung zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, in der er die Paradoxien eines „uneinlösbaren Versprechens“ entfaltet, das sich immer wieder als schwer einzuhegende subversive Kraft erweist. Jörg Fisch wird heute 70 Jahre alt.
Alexandra Kemmerer is senior research fellow and academic coordinator at the Max Planck Institute for Comparative Public and International Law in Heidelberg, and head of the institute’s Berlin Office.
Cite as: Alexandra Kemmerer, “Grenzenloses Recht. Dem Völkerrechtshistoriker Jörg Fisch zum 70. Geburtstag”, Völkerrechtsblog, 28 April 2017, doi: 10.17176/20170428-103836.
Alexandra Kemmerer is a Senior Research Fellow and Academic Coordinator at the Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law in Heidelberg, and Head of the Institute’s Berlin Office.