Valla de Melilla; photo by Ángel Gutiérrez Rubio via Flickr (CC BY 2.0)

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EGMR billigt Festung Europa mit Toren

Das Urteil der Großen Kammer in der Sache N.D. und N.T. gegen Spanien

14.02.2020

Am 13. August 2014 versuchten rund 600 Personen, den Grenzzaun der spanischen Exklave Melilla und damit die Außengrenze des Schengen-Raumes zu stürmen. Zwei von ihnen, N.D. und N.T., schafften es bis auf den inneren Grenzzaun, wo sie von der spanischen Guardia Civil gestellt und umgehend nach Marokko zurückgeschoben wurden. Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung hatten sie dort nicht zu befürchten. Dennoch sah eine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der Rückschiebung 2017 einstimmig eine unzulässige Kollektivausweisung i.S.v. Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK (Kammer-Urteil; dazu hier). Spanien hätte danach die Betroffenen wenigstens befragen und individuell prüfen müssen, ob Gründe der Rückschiebung entgegenstanden. Das wollte Spanien nicht akzeptieren und rief die Große Kammer an. Doch die ließ sich Zeit. Nach der mündlichen Verhandlung im September 2018 stieg die Sorge, dass die Große Kammer akzeptierte Schutzstandards in Frage stellen könnte.

Auf den ersten Blick ist genau dies eingetreten. Einstimmig hat die Große Kammer in der Sache N.D. und N.T. gegen Spanien das Kammerurteil am 13 Februar 2020 revidiert und jeden Konventionsverstoß verneint. Eine genauere Lektüre zeigt jedoch, dass es sich eher um eine Konsolidierung des europäischen Menschenrechtsschutzes handelt als um einen Rückzug.

Die Verantwortung der Mitgliedstaaten auf ihrem Staatsgebiet

Mit bemerkenswerter Klarheit hat die Große Kammer zunächst allen Versuchen einen Riegel vorgeschoben, einzelne Teile des Staatsgebiets wie die Grenzanlagen oder den vorgelagerten Raum aus dem Anwendungsbereich der Konvention auszuklammern (Rn. 104-110). In diesem Punkt war die Kammer 2017 merkwürdig unbestimmt geblieben und hatte sich mit der Feststellung begnügt, dass die Beschwerdeführer bei ihrer Rückschiebung jedenfalls unter der de-facto-Kontrolle der Grenzbeamten gestanden hätten (Rn. 54 des Kammer-Urteils). Mit dem Urteil der Großen Kammer bleibt insbesondere das Refoulement-Verbot bei drohender Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erhalten. Hier findet Art. 3 EMRK Anwendung, sobald Migranten im völkerrechtlichen Sinn das Staatsgebiet betreten haben. Diesen Schutz lässt das neue Urteil ausdrücklich unberührt (Rn. 201). Nach der Klarstellung zum Anwendungsbereich greift der konventionsrechtliche Schutz sogar schon dann ein, wenn Migranten sich im „Niemandsland“ zwischen der formalen Grenzlinie und den Grenzanlagen befinden Rn. 109. Rechtsfreie Räume sind damit jedenfalls an Land ausgeschlossen.

Vorrang legaler Fluchtwege

Der EGMR geht jedoch noch weiter, indem er die sofortige Unterbindung illegaler Grenzübertritte an die Bedingung knüpft, dass der Staat legale Möglichkeiten einrichtet, um ein Schutzbedürfnis nach Art. 3 EMRK geltend zu machen. Tatsächlich hält der EGMR am grundsätzlichen Verbot der Rückschiebung ohne Individualprüfung fest. Er konstruiert nur eine Ausnahme für den Fall, dass Migranten nicht schutzwürdig seien. An der Schutzwürdigkeit fehle es, wenn Migranten versuchen, kollektiv und mit Gewalt eine befestigte Landgrenze zu überwinden, obwohl der Staat einen echten, effektiven Zugang zu legalen Einreisewegen geschaffen habe (Rn. 201). Dazu zählen insbesondere Grenzkontrollpunkte, aber ggf. auch die Möglichkeit, in Botschaften oder konsularischen Vertretungen einen Asylantrag zu stellen (Rn. 212). Der EGMR verwendet viel Mühe auf die Begründung, dass die Beschwerdeführer solche legalen Möglichkeiten schon 2014 gehabt hätten (Rn. 213-229).

Viel wichtiger als die Frage, welche Möglichkeiten Spanien vor sechs Jahren gewährte, ist jedoch die Botschaft, die von dem Urteil für die Zukunft ausgeht: Die europäischen Staaten dürfen den Schengen-Raum zur Festung ausbauen, aber sie müssen Tore einbauen, durch die alle, die im Falle ihrer Einreise nach Art. 3 EMRK Schutz beanspruchen können, in die Festung gelangen. Nach dem Kammer-Urteil von 2017 galt das Recht des Stärkeren: Wer die Kraft hatte, die Grenzanlagen zu überwinden, kam in den Genuss der Konventionsgarantien. Schwächere blieben draußen. Hinzu kam ein Anreiz zur Aufrüstung, die das Überwinden der Grenzen immer schwieriger und damit potenziell lebensgefährlich machte. Damit ist nach dem Urteil der Großen Kammer Schluss: Wer sich unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sieht, muss an der Grenze um Schutz nachsuchen können, ohne dabei sein Leben zu riskieren.

 

Robert Uerpmann-Wittzack ist Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Regensburg.

 

Cite as: Robert Uerpmann-Wittzack, “EGMR billigt Festung Europa mit Toren. Das Urteil der Großen Kammer in der Sache N.D. und N.T. gegen Spanien”, Völkerrechtsblog, 14. Februar 2020, 10.17176/20200214-163910-0.

Autor/in
Robert Uerpmann-Wittzack
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