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Die türkischen Operationen Claw-Eagle und Claw-Tiger im Irak – Zeit für Widerspruch!

20.07.2020

Militärische Interventionen des türkischen Militärs in die kurdisch bewohnten Gebiete des Iraks haben eine erschreckende Regelmäßigkeit angenommen. Am 14. Juni dieses Jahres begann – unterstützt durch iranische Artillerie am 16. Juni – mit den kombinierten Operationen Claw-Tiger und Claw-Eagle der neueste Angriff der Türkei. Sie setzt damit ihren Kampf gegen die als Terrororganisation eingestufte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Region fort, den sie seit den 1980er Jahren führt. Einmal mehr erhält diese aktuellste Eskalation des Konflikts bisher wenig Aufmerksamkeit. Verstöße gegen das Gewaltverbot sollten jedoch klar als solche benannt werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund möglicher Fortentwicklung des Selbstverteidigungsrechts durch Staatenpraxis.

Operationen Claw-Tiger und Claw-Eagle

Der aktuelle türkische Angriff besteht aus zwei kombinierten Operationen. Operation Claw-Eagle begann am 14. Juni. Sie richtete sich gegen 81 Ziele im Irak, die nach türkischen Angaben zur PKK gehörten. Am 17. Juni gab das Verteidigungsministeriumzudem den Beginn von Operation Claw-Tiger bekannt. Diese ergänzte die Luftangriffe mit einer Bodenoffensive, bei welchem Spezialeinheiten, Kampfhubschrauber, Drohnen und Artillerie eingesetzt wurden. Die jüngsten Kampfhandlungen sind Teil einer stärkeren Militarisierung der türkischen Außenpolitik seit 2016 – insbesondere vor dem Hintergrund der 2015 gescheiterten Friedensverhandlungen mit der PKK und des versuchten Putsches 2016. Konkreter Anlass der Operationen war die von türkischer Seite behauptete Zunahme von Angriffen auf Polizeistationen und Stützpunkte. Die Türkei beruft sich  –  wie bereits bei den Interventionen 2007/2008 und 2019 – auf den Kampf gegen Terrorismus und ihr Recht auf Selbstverteidigung. Zudem betont sie, dass der Irak nicht in der Lage sei, gegen die PKK auf seinem Territorium vorzugehen.  Die PKK sei zudem eine Bedrohung für die „national security of our country, as well as the territorial integrity and sovereignty of Iraq.” Allerdings hat die Türkei im aktuellen Fall die Selbstverteidigung dem VN-Sicherheitsrat erst am 08. Juli angezeigt. Während das türkische Vorgehen vom Irak als Verletzung der Souveränität und Aggression abgelehnt wurde, rief die Kurdische Regionalregierung zur Achtung der territorialen Souveränität aus, verurteilte die Intervention jedoch nicht eindeutig und sprach sich gegen eine Präsenz der PKK auf irakischem Territorium aus. Die Intervention wurde von der der Arabischen Liga und einzelnen arabischen Staaten (so durch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait und Ägypten) als völkerrechtswidrig verurteilt, allerdings von westlichen Staaten nicht thematisiert.

Das Recht auf Selbstverteidigung

Mit dem Verweis auf die territoriale Integrität und Souveränität des Iraks impliziert die Türkei eine Berufung auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht. Die Türkei würde dann gleichsam treuhänderisch ein irakisches Recht auf Selbstverteidigung gegen die PKK ausüben. Dies setzt jedoch ein Hilfeersuchens Iraks voraus. Zwar unterhält sie mit Genehmigung der Kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierungmehrere Militärbasen im Nordirak, und kündigte bereits die Erweiterung der Basen im Zuge der aktuellen Offensive an. Doch lässt sich hieraus keine Interventionsbefugnis ableiten. Der Irak räumt durch seine klare Verurteilung jegliche Zweifel aus: die Intervention geschieht gegen seinen Willen.

Damit bleibt der Türkei nur die Berufung auf das individuelle Selbstverteidigungsrecht. Selbstverteidigung setzt aber immer einen bewaffneten Angriff voraus. Mit der Resolutionspraxis des Sicherheitsrats nach den Anschlägen vom 11. September gilt es als weitgehend etabliert, dass nicht-staatliche Akteure im Grundsatz einen bewaffneten Angriff ausüben können. Im vorliegenden Fall scheint dies allerdings nur bei einer unzulässig weiten Anwendung der ohnehin umstrittenen accumulation of events Theoriezuzutreffen. Diese Theorie besagt, dass eine Serie von militärischen Schädigungshandlungen, die für sich genommen nicht die Schwelle zum bewaffneten Angriff überschreiten, zusammengefasst als bewaffneter Angriff zählen können. Zwar gibt es regelmäßig Angriffe der PKK auf türkische Sicherheitskräfte, allerdings sind diese von geringer Intensität – die PKK scheint militärisch geschwächt. Der von der Türkei behauptete Anstieg kurdischer Angriffe ist bestenfalls fragwürdig.

Selbst wenn man einen solchen bewaffneten Angriff akzeptierte, so wäre die Frage wie die mit der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts einhergehende Verletzung der irakischen Souveränität gerechtfertigt werden kann, noch nicht hinreichend beantwortet. So können die Angriffe der PKK weder der Regionalregierung noch der irakischen Zentralregierung zugerechnet werden. Das militärische Vorgehen der Türkei findet dennoch auf irakischem Gebiet statt. Um den Konflikt zwischen dem Selbstverteidigungsrecht einerseits und der territorialen Souveränität andererseits zu lösen, wurde das Konzept von unable-or-unwilling vorgeschlagen. Im Kern sieht es vor, dass ein Recht auf Selbstverteidigung gegenüber nicht-staatlichen Akteuren vorliegt, auch wenn die Handlungen der nicht-staatlichen Akteure dem Aufenthaltsstaat nicht zugerechnet werden können und der Aufenthaltsstaat der Selbstverteidigungshandlung widerspricht. Dies gilt jedoch nur, sofern der Aufenthaltsstaat nicht Willens oder nicht in der Lage ist, die bewaffneten Angriffe der nicht-staatlichen Akteure zu unterbinden. Das Konzept selbst ist umstritten, ebenso wie die Frage ob es ausreichend in der Staatenpraxis verankert ist. Die Türkei jedenfalls hat im Dezember 2015 unter weitgehender Gleichsetzung von IS und PKK auf irakischem Staatsgebiet in einer Sitzung des Sicherheitsrats das Konzept explizit anerkannt. Im konkreten Fall spielt die Türkei ebenfalls – wenn auch mit bestenfalls halbherziger Begründung – auf die Doktrin an, wenn sie den Irak an ihre völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen erinnert die Nutzung irakischen Territoriums durch die PKK zu verhindern, und ankündigt, dass sie ihr Selbstverteidigungsrecht solange geltend machen wird, bis der Irak seinen Verpflichtungen nachkommt.

Überzeugen vermag die dürftige türkische Argumentation aber wohl schon faktisch nicht. Nicht nur der bewaffnete Angriff durch die PKK ist bestenfalls fragwürdig. Zudem scheinen die irakische Regierung und die Regionalregierung sowohl in der Lage als auch willens, eine Bedrohung der Türkei durch die PKK zu unterbinden. Es ist kein umfassender Kontrollverlust der irakischen Regierung oder der Regionalregierung ersichtlich, welcher eine Bedrohung für die territoriale Souveränität und Integrität darstellen könnte. Die Regionalregierung spricht sich außerdem gegen die Präsenz der PKK auf ihrem Territorium aus. Es gibt sogar Hinweise auf eine Zusammenarbeitzwischen der kurdischen Regionalregierung und der Türkei. Es liegt in dieser Situation keine der notwendigen Voraussetzung für eine Anwendung des unable-or-unwilling Konzepts vor. Die Türkei begründet dies auch nicht. Darüber hinaus lässt ein kombinierter Einsatz von Land- und Luftstreitkräften als Reaktion auf vermehrte Anschläge auf Polizeistationen Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Operation aufkommen. An der Notwendigkeit des türkischen Vorgehens kann angesichts der aktuellen militärischen Schwäche der PKK ebenfalls gezweifelt werden. Die Verspätung der an sich gebotenen Anrufung des Sicherheitsrates durch die Türkei ist ebenfalls mit Sorge zu betrachten.

Umso wichtiger ist klarer Widerspruch der Staatengemeinschaft. Sonst droht eine sich verstärkenden Spirale der gewohnheitsrechtlichen Begründungen. Operationen Claw-Tiger und Claw-Eagle könnten – anstelle einer Einstufung als Verletzung des Gewaltverbots – als Staatenpraxis zur Anerkennung einer weiten Auslegung des Selbstverteidigungsrechts in die Geschichte eingehen. Bislang beschränkt sich der Protest gegen das türkische Vorgehen auf einige arabische Staaten und die Arabische Liga. Das ist gut, aber nicht genug. Denn so besteht zumindest die Gefahr, dass das Schweigen weiterer Staaten als Zustimmung zum türkischen Handeln ausgelegt wird – und damit zur Anwendbarkeit des Selbstverteidigungsrechts selbst in Fällen, die von den Voraussetzungen dessen weit entfernt sind.

 

 

 

 

Autor/in
Martin Hock

Martin Hock ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Völkerrecht und Europarecht der Technischen Universität Dresden.

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