Zwischen normativem Anspruch und prozessualer Wirklichkeit – Teil II
Zum Vorschlag eines Ad-hoc-Tribunals für das Verbrechen der Aggression gegenüber der Ukraine
Der erste Teil dieses Beitrags ist hier erschienen.
Die prozessuale Hürde: Immunitäten
Größter Vorteil – und größter Streitpunkt – einer internationalisierten Strafverfolgung ist die potentielle Umgehung von Immunitäten.
Während persönliche Immunitäten für (amtierende) Staatsoberhäupter und hochrangige Regierungsmitglieder vor nationalen Gerichten unbeschränkt gelten (IGH, Arrest Warrant, 2002, Rn. 58), wird für funktionale Immunitäten bei Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen überwiegend eine Ausnahme befürwortet (siehe z.B. BGH HRRS 2021 Nr. 315 Rn. 16ff. m.w.N.). Für die Aggression stellt sich die Befundlage jedoch komplexer dar. So konnte die International Law Commission nicht übereinkommen, die Nicht-Anwendbarkeit funktionaler Immunitäten auf das Aggressionsverbrechen in ihre Draft-Articles zum Thema Immunität von Staatsbediensteten aufzunehmen (UNGA, A/71/10, Kap. XI, Rn. 241f.). Jegliche nationale Strafverfolgung sähe sich daher großen Konflikten um die Immunitätsfrage ausgesetzt.
Vertikale Immunitäten
Anderes könnte auf internationaler Ebene gelten. In der “Arrest-Warrant”-Entscheidung beschrieb der IGH eine Durchbrechung der Immunität für Verfahren vor „bestimmten internationalen Gerichten“ („certain international criminal courts, where they have jurisdiction“) und nannte beispielhaft (ohne nähere Begründung) JStGH, RStGH und IStGH (Rn. 61). Denkbar sind zwei Begründungsansätze:
Einerseits kann auf die Rechtsgrundlage und Ausgestaltung einzelner Gerichte rekurriert werden (certain international criminal courts) (z.B. Heller; Akande, 415ff.; Uerpmann-Wittzack, 37ff.). Für JStGH und RStGH ergäbe sich die in den Statuten vorgesehene Immunitätsdurchbrechung aus der Vorrangwirkung des Sicherheitsratsbeschlusses (Art. 25 UNC), der die Tribunale schuf und ihre Statuten billigte (Uerpmann-Wittzack, 37f.). Der IStGH könnte sich auf die Ratifizierung der in Art. 27(2) Rom-Statut normierten Immunitätsausnahme berufen, sodass die Immunität nur für Vertragsparteien bzw. diesen durch Sicherheitsratsresolution Gleichgestellte entfällt (siehe z.B. Akande, 418f.; Akande, 176, bezugnehmend auf IStGH-PTC-II, ICC-02/05-01/09-302; Uerpmann-Wittzack, 38f., 41f.).
Andererseits könnte Internationalität das Schlüsselelement sein (certain international criminal courts) (z.B. Dannenbaum; Gaeta, 320ff.), wenn auf den Schutzzweck der Immunität abgestellt wird (Epping in: Ipsen, Völkerrecht, 2018, 227f.; Gaeta, 320f.). Sie wird abgeleitet aus der Staatenimmunität und soll die Gleichheit der Staaten untereinander sowie die Funktionsfähigkeit des internationalen Systems bewahren (von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 323, 328). Im Rahmen internationaler Strafjustiz richtet aber anstelle eines Staates die organisierte Staatengemeinschaft (z.B. IStGH-AC, ICC-02/05-01/09-397, Rn. 115). Die Gefahr politischer Instrumentalisierung ist so gebannt (z.B. Gaeta, 320f.; Kreiker, 355f.) bzw. abgemildert. Die jeweiligen Statuten bekräftigten dann nur die gewohnheitsrechtliche Regelung (Gaeta, 320ff.; Kreiker, 355f.).
Die IGH-Entscheidung ist insoweit uneindeutig (vgl. Heller; Gaeta, 319). Für die zweitgenannte Interpretation könnte jedoch das IStGH-Beispiel sprechen. Dessen Jurisdiktion (certain international criminal courts, where they have jurisdiction) unterfallen – unabhängig von der Nationalität der Beschuldigten – Verbrechen im Territorium eines Vertragsstaates (vgl. Art. 12(2)(a) RS). Wenn auch dann keine Immunitäten gelten, ist es der Charakter des Gerichts als solcher, der die Immunität durchbricht, nicht die Vertragsbasis.
Wenn für „Internationalität“ jeder Zusammenschluss mehrerer Staaten zur Ausübung gemeinsamer Gerichtsbarkeit genügte, wäre zwar zweifelsohne eine übernationale Komponente vorhanden. Letztlich würden so aber die Hürden, denen nationale Gerichte unterliegen, (zu) leicht unterlaufen (Sands/Macdonald, Rn. 78; Heller; Uerpmann-Wittzack, 36f.). Entscheidend ist daher, wann ein Gericht legitimerweise internationalen Charakter beanspruchen kann (vgl. Gaeta, 322), wenn es nicht auf eine Sicherheitsratsresolution zurückgeht (Teil 1).
Exemplarisch ist insofern der Special Court for Sierra Leone (SCSL), geschaffen durch Vertrag zwischen Sierra Leone und der UN: Im Verfahren gegen den (bei Anklageerhebung noch amtierenden) Präsidenten Liberias, Charles Taylor, führte das Gericht in der Entscheidung über Immunitäten seinen internationalen Status darauf zurück, dass es einerseits aus dem nationalen Justizsystem ausgegliedert (Rn. 40) und andererseits dem Vertrag ein Sicherheitsratsbeschluss vorausgegangen sei, der dem SCSL ein internationales Mandat zuweise (Rn. 39). Der Sicherheitsrat habe in Wahrnehmung seiner Charta-Aufgaben als Vertreter der gesamten Staatengemeinschaft gehandelt. Daher bringe auch das Abkommen deren Willen zum Ausdruck (Rn. 38) (genauer siehe Frulli, 327ff.; kritisch: Uerpmann-Wittzack, 51f.).
Die Ausstellung eines Haftbefehls gegen Taylor erfuhr keinen internationalen Gegenwind (Frulli, 329). Im Gegenteil war das Verfahren im Anschluss mehrfach Gegenstand von Sicherheitsratsdebatten, z.B. betreffend einer Festnahmemöglichkeit durch UN-Peacekeeper. Nie wurde in diesem Zusammenhang eine etwaige Unzulässigkeit des ursprünglichen Haftbefehls thematisiert, weil Taylor zum Zeitpunkt seiner Ausstellung noch im Amt war (und erst danach zurücktrat) und daher potentiell der Immunität unterfallen wäre – auch nicht von Russland (vgl. Transkript der Sicherheitsratssitzung 5304).
Im skizzierten Rahmen sollte sich auch ein Abkommen für die Ukraine bewegen, um der Berufung auf Immunitäten entgegenzutreten. Während eine Ausgliederung aus dem nationalen System unproblematisch wäre (ggf. sogar vom ukrainischen Verfassungsrecht gefordert wird), gestaltet sich die Einrichtung eines Gericht auf Basis des Willens der Staatengemeinschaft schwieriger.
Vielversprechend erscheint die von PACE vorgesehene Einbindung der UN-Generalversammlung. Entsprechende Optionen finden auch Zustimmung in der wissenschaftlichen Debatte (z.B. Johnson; Trahan; Komarov/Hathaway;Dannenbaum). Zwar haben Generalversammlungsbeschlüsse keine Bindungswirkung für Staaten. Dies ist jedoch auch nicht nötig. Sicherheitsratsresolution 1315, die die Einrichtung des SCSL anstieß, forderte schlussendlich lediglich den Generalsekretär auf, einen Vertrag auszuhandeln ohne auf Kapitel-VII-Kompetenzen zurückzugreifen. Letztentscheidend i.S.d. SCSL-Entscheidung (Rn. 38) muss daher sein, wer befugt ist, für die Staatengemeinschaft zu sprechen. In Fragen von Frieden und internationaler Sicherheit ist dies primär der Sicherheitsrat. Das sind genau die Themen, die auch ein Tribunal verhandelt, wenn es sich mit dem Aggressionsverbrechen beschäftigt, denn dies impliziert Fragen zum Gewaltverbot. Die Zuständigkeit des Sicherheitsrats ist aber keine ausschließliche. Ist er blockiert, kann die Generalversammlung Thematiken an sich ziehen und die internationale Gemeinschaft repräsentieren, wie sie es jüngst auch betreffend den Russland-Krieg getan hat. Eine Generalversammlungsresolution bezüglich eines Aggressionstribunals i.S.e. „Uniting for Justice“ hat die besten Chancen eine breite Legitimitätsbasis zu bieten.
Gleichgültig ist, ob die Generalversammlung ein zwischenstaatliches Gericht bekräftigt (wie der PACE-Beschluss suggeriert) oder anstößt, dass die UN selbst Vertragspartei werden. In beiden Fällen wird deutlich, dass eine Staatengruppe stellvertretend für die organisierte Staatengemeinschaft handelt. Für eine Beteiligung der UN selbst spricht aber, dass der Vorwurf der Politisierung entschärft würde.
Horizontale Immunitäten
Von der Berufung auf Immunitäten gegenüber dem Tribunal ist die Problematik der Verhaftung etwaiger Angeklagter zu unterscheiden (vgl. bspw. Frulli, 331; Akande, 173; z.T. separat als „Unverletzlichkeit“ thematisiert, siehe Weatherall, 45ff.). Die Verhaftung von Personen, die persönliche Immunität genießen, beschäftigt den IStGH seit Jahren im Rahmen des Verfahrens gegen den – inzwischen vormaligen – sudanesischen Präsidenten, Al-Bashir. Zwar deutete die Berufungskammer an, dass keine gewohnheitsrechtliche Immunität bei Verhaftung auf Anordnung eines internationalen Gerichts bestehe (Rn. 2). Andernfalls würde auch die fortwährende Rhetorik der Staaten vom Ende der Straflosigkeit (z.B. in der Präambel des Rom-Statuts) zur bloßen Leerformel degradiert. Nichtsdestotrotz spricht gegen ein derartiges, derzeit bestehendes Gewohnheitsrecht sowohl die heftige Debatte um eine etwaige Verhaftung Al-Bashirs (uneinheitliche opinio iuris) als auch der Fakt, dass kein Staat letztlich bereit war, diese vorzunehmen (keine Staatenpraxis) (vgl. Akande, 175). Dass dies im Falle Russlands anders wäre, darf bezweifelt werden.
Anderes gilt wohl nach der Amtszeit. Sodann reduziert sich die persönliche Immunität auf eine funktionale (vgl. von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 328). Sogar ehemaligen Staatsoberhäuptern soll folglich keine persönliche Unverletzlichkeit mehr zukommen (Art. 13 IDI-Draft).
Im (hypothetischen) Falle eines russischen Regierungswechsels wären jedoch auch ein Weg über eine Sicherheitsrats-Überweisung an den IStGH oder ein rückwirkender Beitritt zum Rom-Statut grundsätzlich denkbar (zweifelnd bzgl. reiner Ad-hoc-Erklärungen Barriga/Blokker, 656). Ein Immunitätsverzicht könnte den Streit um (funktionale) Immunitäten für Aggression bei nationaler Strafverfolgung umgehen. Inwieweit dies politisch realistisch ist, mag dahinstehen. Der Nutzen eines Ad-hoc-Tribunals wäre dann jedenfalls fraglich.
Fazit
Nach alldem wäre die Einrichtung eines Aggressions-Tribunals zwar zulässig und entsprechende Prozesse nicht aussichtslos, der Weg potentiell Anzuklagender vor das Gericht hingegen voller Unwägbarkeiten. Ohne realistische Möglichkeit der Verhaftung hochrangiger Verantwortlicher steht zu befürchten, dass ein Tribunal zur Verfolgung der Aggression, die als Führungsverbrechen wohl genau auf diesen Personenkreis abzielt – über den symbolischen Wert hinaus –, weitgehend ins Leere ginge. Nun mag man sich auf den Standpunkt stellen, dass unabhängig von der Möglichkeit des Scheiterns zumindest der Versuch der Strafverfolgung unternommen werden muss (i.d.S. z.B. Chile Eboe-Osuji in JIB/JAB, Episode 30, ab 37:01). Vergessen werden darf aber nicht, dass eine letztendlich erfolglose Strafverfolgung ebenso ihren Preis hat: zunächst geschürte und dann enttäuschte Hoffnungen bei Betroffenen. Beide Wege verdeutlichen so die Effektivitätsdefizite des Völkerstrafrechts und drohen seine Legitimationsbasis in der öffentlichen Wahrnehmung zu unterminieren. Umso wichtiger ist es, neben der Aggression und der Verfolgbarkeit der Führungsspitze Russlands, andere Verbrechen, die im Rahmen des Krieges auf ukrainischem Staatsgebiet begangen werden, nicht aus den Augen zu verlieren. Diese sind potentiell vom IStGH oder in nationalen Foren verfolgbar. Wege, wie Staaten dabei aktiv werden können, sind in der PACE-Resolution ebenso vorgezeichnet.
Nicolai Bülte ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung (Prof. Dr. Stefanie Bock) an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Völkerstrafrechts.
Franziska Gruber ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität Marburg (Prof. Dr. Stefanie Bock). Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich des Völkerstrafrechts und der Transitional Justice.
Stefan Vasovic ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Staats- und Verwaltungsrecht an der Philipps-Universität Marburg (Prof. Dr. Steffen Detterbeck). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen das Völker-, Verfassungs- und Verwaltungsrecht.