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Staat oder kein Staat, das ist hier die (einzige) Frage

Zur Debatte um die Staatlichkeit Palästinas als Voraussetzung der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs

04.03.2020

In dem hier kürzlich erschienenen Blogpost „Deutschland als amicus curiae – Zur Debatte um die Staatlichkeit Palästinas als Voraussetzung der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs“ kritisiert Özgen Özdemir Deutschlands Rechtsauffassung, wonach mangels Staatlichkeit Palästinas keine Gerichtsbarkeit des IStGH besteht. Die geäußerte Kritik geht allerdings von rechtlich fehlerhaften Annahmen aus, welche im Folgenden aufgezeigt und thematisiert werden sollen.

Zutreffend ist, dass die Jurisdiktionsgewalt des IStGH über die „besetzten palästinensischen Gebiete, einschließlich Ostjerusalem“ von der Staatsqualität Palästinas abhängt. Denn nur ein Staat im völkerrechtlichen Sinne kann seine territoriale Souveränität dahingehend ausüben, dass er die Strafgewalt über sein Hoheitsgebiet für bestimmte Fälle zurücknimmt und an den IStGH überträgt. Ob Palästina die Voraussetzungen eines Staates erfüllt, ist aber bisher völkerrechtlich nicht geklärt.

Die Staatlichkeit Palästinas kann nicht aus dem erfolgten Beitritt zum Rom-Statut gefolgert werden. Zwar nahm der UN-Generalsekretär als Depositar die Beitrittserklärung i.S.d. Art. 125(3) Rom-Statut („Dieses Statut steht allen Staaten zum Beitritt offen.“) an und stellte das Inkrafttreten des Rom-Statuts hinsichtlich Palästinas gem. Art. 126 (2) Rom-Statut fest. Dieses Vorgehen hat aber keine Auswirkungen auf den völkerrechtlichen Status Palästinas. Dem Generalsekretär fehlt es schon an der Kompetenz, über die Staatlichkeit eines Vertragsanwärters zu befinden. Deshalb ist es seine etablierte Praxis, einen Beitritt zu einem offenen multilateralen Vertrag aufgrund einer Vertragsbestimmung wie Art. 125 (3) Rom-Statut (sog. „all States formula“) dann zu gestatten, wenn die UN-Generalversammlung dem Generalsekretär signalisiert, dass es den Anwärter als Staat betrachtet oder wenn der Anwärter unter die „Vienna formula“ fällt (siehe ST/LEG/7/Rev. 1, para. 81). Die Resolution 67/19 (2012) der Generalversammlung, wonach Palästina zum Beobachter-„Staat“ (non-member observer State) der UN hochgestuft wird, kann als hinreichende Indikation der Generalversammlung an den Generalsekretär betrachtet werden. Palästina fällt auch unter die Vienna formula, wonach ein Anwärter zum Zwecke der Ratifizierung offener Verträge als Staat betrachtet werden soll, wenn er ein Mitglied der UN oder einer UN-Sonderorganisation ist. Denn Palästina war bereits Mitglied der Sonderorganisation UNESCO. Aus diesen Gründen konnte Palästina dem IStGH-Statut beitreten.

Trotz der (bekanntlich rein deklaratorischen) Anerkennung Palästinas durch zahlreiche andere Staaten ist allein maßgeblich, ob die völkerrechtlichen Anforderungen an die Staatlichkeit Palästinas tatsächlich vorliegen. Gerade dies ist zweifelhaft und völkerrechtlich hochumstritten. So seien etwa die fehlende effektive Staatsgewalt über das beanspruchte Staatsgebiet – dessen territoriale Reichweite ebenfalls streitig ist – sowie die weiterhin gültigen Oslo-Abkommen als einige der genannten Gründe gegen eine Staatlichkeit erwähnt. Dass Deutschland die Staatlichkeit Palästinas verneint, ist also weder „verwunderlich“, noch mit dem schwammigen Verweis auf „die deutsche Historie und der damit verknüpften besonderen deutsch-israelischen Beziehung“ zu erklären. Vielmehr sprechen durchaus juristische Gründe für diese Position, die nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sind.

Schließlich wird das Rechtsinstitut der acquiescence bemüht, um die Position der Bundesregierung als „juristisch kaum haltbar“ zu bewerten. Es wird mit dem Prinzip „qui tacit consentire videtur si loqui debuisset ac potuisset“ (wer schweigt, scheint zuzustimmen, wenn er hätte reden müssen und können) argumentiert, dass die Vertragsstaaten des Rom-Statuts seit dem Beitritt Palästinas zur Frage seiner Staatlichkeit geschwiegen haben und deshalb „eine jetzige Einordnung Palästinas als Nichtvertragsstaat im Rahmen von amicus curiae Stellungnahmen widersprüchlich“ sei. Soll das also bedeuten, dass Palästina nun anerkannt werden muss? Eine Anerkennungspflicht kennt das Völkerrecht aber nicht. Von einer Anerkennung kann sogar aus rein politischen Gründen abgesehen werden oder – wie im Falle Deutschlands Nichtanerkennung Palästinas näherliegend – weil die rechtlichen Voraussetzungen der Staatlichkeit angezweifelt werden. Denn die Anerkennung als Staat eines Gebildes, das die Staatskriterien nicht erfüllt, verstößt gegen das Völkerrecht (Lauterpacht, Recognition in International Law [1947], S. 9).

Außerdem wird verkannt, dass Deutschland (sowie auch andere Vertragsstaaten) sich zu der Frage der Staatlichkeit Palästinas nach seinem Beitritt zum Rom-Statut durchaus unmissverständlich geäußert hat. In der Versammlung der Vertragsstaaten am 8.11.2016 wurde folgende Stellungnahme abgegeben: „Consistent with our reiterated positions inother international fora we hold the view that the designation ‘State of Palestine’ as used in some of these reports shall notbe construed as recognition of a State of Palestine and is without prejudice to individual positions of States Parties on thisissue(.)” (siehe hier). Außerdem wurde seinerzeit bis heute der Beitritt Palästinas – wie sonst bei neuen Vertragsstaaten üblich – nicht im Bundesgesetzblatt verkündet, womit ebenfalls deutlich zum Ausdruck kommt, dass Deutschland den Beitritt wegen fehlender Staatlichkeit nicht anerkennt.

Selbst wenn man all dies unbeachtet ließe, erscheint es hier fernliegend, das Prinzip der acquiescence heranzuziehen. Wollte man tatsächlich eine stillschweigende Anerkennung der Staatlichkeit Palästinas konstruieren, so wäre dazu ein entsprechender Rechtsbindungswille nachzuweisen. Von Zustimmung durch Schweigen kann nur dann ausgegangen werden, wenn bei gutem Glauben eine andere Auslegung des Schweigens nicht möglich ist. Es müsste also Protest unterlassen worden sein, wo er zu erwarten gewesen wäre, insbesondere weil der Staat ansonsten einer Rechtsposition verlustig wird. So hat auch der IGH im von der Autorin zitierten Fischerei-Fall ausdrücklich das besondere Interesse Großbritanniens an der Fischerei in der Nordsee festgestellt, bevor seiner Passivität gegenüber dem norwegischen Verhalten rechtliche Relevanz zugesprochen wurde. Wo soll nun aber das besondere Interesse Deutschlands liegen, welches einen Protest veranlassen sollte? Welche Rechtsposition ist bedroht? Die genannten Äußerungen Israels und der USA standen für sich und entfalteten keine rechtlichen Wirkungen. Richtig ist zwar, dass die Definition Palästinas als „Staat“ i.S.d. Rom-Statuts als Streitigkeit der Vertragsstaatenversammlung nach Art. 119(2) Rom-Statut vorgelegt hätte werden können („[…] si loqui […] potuisset“). Hierzu bestand aber keine Pflicht („[…] si loqui debuisset […]“). Der unterlassenen Einberufung kann folglich kein rechtlich relevanter staatlicher Wille entnommen werden.

Die allein entscheidende Frage, ob Palästina nun tatsächlich Staatsqualität aufweist oder nicht, wird überhaupt nicht angesprochen und am Ende vollständig vernachlässigt. Stattdessen wird behauptet, dass Palästina aufgrund seiner nun fast seit fünf Jahren bestehenden Mitgliedschaft beim IStGH „aus Rechtssicherheitsgründen“ die Berechtigung zur Verfahrenseinleitung zukommen müsse. Im Ergebnis sollen also die rechtlichen Voraussetzungen der Staatlichkeit unterschlagen und deren Erfüllung fingiert werden. Diese Sichtweise ist nicht mit dem Völkerrecht vereinbar und verkehrt ihr erklärtes Ziel der Rechtssicherheit in das genaue Gegenteil. Das Gesetz ist eindeutig: Der in Art. 12(2)(a) Rom-Statut normierte Grundsatz der territorialen Jurisdiktion des IStGH setzt die territoriale Souveränität eines Staates über sein Hoheitsgebiet voraus. Die Gerichtsbarkeit des IStGH über ein Gebiet muss sich also aus der originären Strafgewalt eines Staates ableiten, welche ihm durch die souveräne Entscheidung dieses Staates übertragen wurde. Seine Gerichtsbarkeit kann nicht einfach so herbeigewünscht werden. Konsequent zu Ende gedacht würde dies dazu führen, dass einem Gebilde, dessen völkerrechtlicher Status ungeklärt ist, durch die Hintertür der aus dem Hut gezauberten IStGH-Gerichtsbarkeit territoriale Souveränität über ein Gebiet zuerkannt wird, die es womöglich gar nicht besitzt. Dies stellte die Staatenordnung auf den Kopf.

Der Beitrag endet mit der nicht einleuchtenden Feststellung, dass eine Verneinung der Staatlichkeit durch den IStGH einen „Schneeballeffekt“ (?) verursachen könnte, „da palästinensische Versuche mit diplomatisch-juristischen Mitteln den Menschenrechtsschutz im Rahmen des Völkerstrafrechts durchzusetzen, an politischen Erwägungen scheitern würden.“ Dieser Schluss mutet nicht nur deshalb merkwürdig an, weil der Beitrag zuvor selbst mehrfach politische Erwägungen anstellt, sondern auch, weil die Frage der Jurisdiktion nach der Konzeption des Rom-Statuts eine rechtliche und keine politische ist. In Art. 19(1) Rom-Statut heißt es, „[d]er Gerichtshof vergewissert sich, dass er in jeder bei ihm anhängig gemachten Sache Gerichtsbarkeit hat.“ Hierin kommt das völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Prinzip der Kompetenz-Kompetenz zum Ausdruck. Der Gerichtshof legt diesen Satz dahingehend aus, dass er mit hinreichender Sicherheit die Zuständigkeitsvoraussetzungen des Rom-Statuts bejahen muss („[…] the Court must ‘attain the degree of certainty‘ […]“. Siehe hier, para. 24). Eine negative Entscheidung des IStGH würde also an dem rechtlichen Grund scheitern, dass er sich nicht mit hinreichender Sicherheit von Palästinas Staatlichkeit überzeugen konnte. Genau das ist auch der Zweck der Einholung von amicus-curiae-Stellungnahmen, sie sollen zur Überzeugungsbildung des Gerichts in einer Rechtsfrage beitragen.

 

Rohan Sinha ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Völkerrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

 

Cite as: Rohan Sinha, “Staat oder kein Staat, das ist hier die (einzige) Frage. Zur Debatte um die Staatlichkeit Palästinas als Voraussetzung der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs”, Völkerrechtsblog, 4. März 2020, doi: 10.17176/20200304-214810-0.

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Rohan Sinha
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3 Comments
  1. Dieser Beitrag hat dazu geführt, dass die Verfasserin der Gegenansicht die Argumente der anderen Meinung nun in einem weiteren Blogpost viel stringenter und verständlicher dargestellt hat als zuvor. Die Replik scheint also ihren Zweck erfüllt zu haben – ich freue mich, dass die junge Völkerrechtswissenschaft “lebt” und dass dieser Blog das ermöglicht! 🙂
    Im Kern geht es doch um die Frage, ob als Staat ein Staat im völkerrechtlichen Sinne zu verstehen ist, oder ob ein autonomes Staatsverständnis nur für das Rom-Statut zugrunde zu legen ist. Die wesentlichen Argumente liegen wohl nun “auf dem Tisch” (bzw. auf dem Völkerrechtsblog), sodass sich jeder seine eigene Meinung bilden kann. So wird sich auch das Gericht aufgrund seiner Kompetenz-Kompetenz eine eigene Meinung bilden. Sicher hat jede Rechtsansicht (wie fast immer) gute Punkte, die für sie sprechen. Nach sorfgältiger Lektüre aller Blogposts bin ich persönlich der Meinung, dass ich die Argumentation in diesem Beitrag am überzeugendsten finde. Ich bin gespannt, wie der ICC entscheiden wird…

  2. Das kann ich nicht unterstreichen. Ich finde durchaus, dass der Beitrag sachlich begründet ist. Alle vorgebrachten Argumente werden sorgfältig durchdekliniert und sind evidenzbasiert. Zudem hat die Kontroverse dazu geführt, dass ich nun beide Beiträge mit großem Interesse gelesen habe.

  3. Bei allem Verständnis für kontroverse akademische Debatten: Ich finde die Angriffshaltung des Beitrages unangemessen – die Auseinandersetzung mit einer anderen rechtlichen Auffassung ist auch weitaus sachlicher möglich.

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