Während der Antrag der UN Generalversammlung für ein Gutachten zur Frage der Pflichten von Staaten bezüglich Maßnahmen gegen den Klimawandel als Meilenstein gefeiert wird, besteht das Risiko, dass das Gericht ähnlich wie beim Nuklearwaffengutachten von 1996 nur bestehende, nicht weit genug gehende Pflichten aufzählt und somit die Untätigkeit von Staaten legitimiert. Dieser Blogpost überlegt, welche Lehren aus dem Nuklearwaffengutachten von 1996 für das anhängige Verfahren gezogen werden können. Um die Erwartungen zu erfüllen, müsste der IGH aktivistischer entscheiden als beim Nuklearwaffengutachten. Aber bereits die Konkretisierung bestehender Pflichten und die Beleuchtung etablierten Rechts im Kontext des Klimawandels könnten es besonders betroffenen Staaten ermöglichen, ihre Rechte in neuen Verfahren einzuklagen.
Erwartungen an das ausstehende Gutachten
Vom 2.12. bis zum 13.12.2024 fanden die Anhörungen im Rahmen des Gutachtenverfahrens zu Pflichten von Staaten bezüglich der Klimakatastrophe statt. Angestoßen wurden diese durch UNGA Res. 77/276, indem die UN-Generalversammlung am 29.03.2023 ihr Recht aus Art. 96(1) UN-Charta ausübte. 96 Staaten und elf internationale Organisationen nahmen an den mündlichen Verhandlungen teil – mehr als in jedem anderen Verfahren bisher.
Das Gutachten des Gerichtshofs wird als Chance gesehen, den bisherigen, eher unambitionierten Kurs zur Klimaneutralität der Staaten zu „korrigieren“ (wie z.B. hier beschrieben). Ähnliche Hoffnungen wurden seinerzeit in den 1990er Jahren auch in den IGH bezüglich des von der Generalversammlung angefragten Nuklearwaffengutachtens gesetzt – man erhoffte sich, dass das Gutachten die Eliminierung von Nuklearwaffen beschleunigen würde (siehe z.B. Statement von Namibia, S. 20).
Das Nuklearwaffengutachten und das Selbstverständnis des IGH
Der IGH versteht sich selbst wie in Art. 92 VN-Charter mandatiert als „principal judicial organ“ der UN und damit nicht als Rechtsetzungsorgan. Daher könnte der Gerichtshof wie im Nuklearwaffengutachten von 1996 nur bereits bestehende Pflichten untersuchen: In Randnummer 18 des Nuklearwaffengutachten formulierte der Gerichtshof: „It is clear that the Court cannot legislate, and, in the circumstances of the present case, it is not called upon to do so. Rather its task is to engage in its normal judicial function of ascertaining the existence or otherwise of legal principles and rules applicable to the threat or use of nuclear weapons” (eigene Hervorhebung). Der IGH handelt mit “judicial restraint” anstatt mit “judicial activism”, lässt sich also nur von bereits bestehenden Normen leiten.
Im Nuklearwaffengutachten kam der IGH zu dem Schluss, dass der Einsatz von Nuklearwaffen generell gegen das ius in bello verstoße, dass jedoch Extremsituationen denkbar seien, in denen der rechtmäßige Einsatz nicht ausgeschlossen werden könne (Dispositiv E). Dieses Ergebnis wurde teilweise in der Literatur, von Staaten und von Richter*innen mit Enttäuschung entgegengenommen. So bedauerte Richter Koroma (S. 359): “The request by the General Assembly was for the Court, as the guarantor of legality, to affirm that because of these consequences, the use of nuclear weapons is unlawful under international law. A determination that this Court as a court of law should have been able to make.”
Umweltvölkerrecht und verhaltensbezogene Verpflichtungen
Unter anderem die USA argumentierten in ihrer schriftlichen Stellungnahme zum Klimagutachten, dass sich die Pflichten der Staaten hinsichtlich des Klimawandels vor allem aus umweltvölkerrechtlichen Verträgen ergäben (S. 60). Andere Staaten argumentierten gegensätzlich, dass der Gerichtshof den gesamten Korpus des Völkerrechts untersuchen solle (z.B. Vanuatu, S. 96). Dazu könnten zum Beispiel auch Menschenrechte herangezogen werden, wie bereits der Einleitungssatz des Ersuchens des Gutachtens anführt.
Im Folgenden möchte ich exemplarisch anhand einiger grundlegender Pflichten des Umweltvölkerrechts darlegen, dass dieses nach aktuellem Stand nicht ausreicht, um die Staaten zur Klimaneutralität zu bewegen:
Das Umweltvölkerrecht wird durch verhaltensbezogene anstatt durch ergebnisbezogene Verpflichtungen charakterisiert. Ein Beispiel für eine solche verhaltensbezogene Pflicht ist das Präventionsprinzip. Das Präventionsprinzip gilt einerseits gewohnheitsrechtlich (siehe IGH, 2010 Pulp Mills, ¶ 101; vgl. 1972 Stockholm Declaration, Principle 21), ist aber auch in einigen Verträgen verankert (siehe u.a. Art. 207-211 UNCLOS; 1985 Vienna Convention for the protection of the ozone layer, Art. 2(2)(b)). Die Pflicht zur Prävention ist eine Sorgfaltspflicht (siehe 2001 ILC Draft articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities, with commentaries, Art. 3(7); 2021 ILC Draft guidelines on the protection of the atmosphere, guideline 3). Die Staatenverantwortlichkeit wird bei Sorgfaltspflichten nur ausgelöst, wenn der Staat keine angemessenen Schritte veranlasst hat, um den Umweltschaden zu verhindern (vgl. IGH, 2010 Pulp Mills, ¶ 101). Kommt es trotz dieser Schritte zu umweltschädlichen Auswirkungen, hat der Staat nicht gegen seine Pflicht verstoßen. Handlungen von Staaten (oder privaten Akteuren in ihrer Jurisdiktion) könnten also weiterhin negative Auswirkungen auf die Umwelt haben, auch wenn Staaten sich an ihre umweltvölkerrechtlichen Pflichten halten.
Eine aus dem Präventionsprinzip abgeleitete, gewohnheitsrechtliche Pflicht besteht darin, bei neuen potenziell klimaschädlichen Projekten eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen (vgl. IGH, 2010 Pulp Mills, ¶ 204; Art. 28(2)). Diese Pflicht setzt also nur bei neuen und nicht bei bereits bestehenden umweltschädlichen Projekten an. Daher trägt diese Pflicht nicht dazu bei, das aktuelle Emissionsniveau der Staaten zu sinken, sondern kann ggf. nur neue Umweltschäden verhindern.
Zudem setzt das Umweltvölkerrecht bei dem Präventionsprinzip (IGH, 2010 Pulp Mills, ¶ 101), aber auch bei weiteren umweltvölkerrechtlichen Pflichten, wie z.B. dem Vorsorgeprinzip (IAGMR 2017, The Environment and Human Rights, ¶175), der Pflicht eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen (IGH, 2010 Pulp Mills, ¶ 204) oder dem Schädigungsverbot (1938 Trail Smelter Award, S. 1965) eine Erheblichkeitsschwelle an: Die Pflichten greifen erst, wenn ein signifikanter Umweltschaden droht – alles darunter fällt also durch das Raster. So können sich mehrere „geringere“ Umweltschäden summieren und unter anderem die Klimakrise weiter vorantreiben.
Verlangt das Recht jedoch von den Staaten, proaktive, klimaschützende Maßnahmen vorzunehmen (wie z.B. in Art. 3 des Pariser Klimaabkommen), sind den Staaten große Spielräume in deren Umsetzung überlassen.
Sollte der IGH also nur bestehendes Umweltvölkerrecht untersuchen, bestünde die Gefahr, dass Staaten das Gutachten als „Legitimation“ für ihre unzureichenden Maßnahmen heranziehen könnten. Nach der Veröffentlichung des Nuklearwaffengutachten argumentierten die Nuklearmächte ähnlich, dass das Gutachten zu keinem Ergebnis gekommen sei, was sie dazu verpflichten würde, ihre Praktiken zu ändern.
Weitergehendes Gewohnheitsrecht
Es besteht wohl keine über die vertraglichen Verpflichtungen und allgemeines umweltvölkerrechtliches Gewohnheitsrecht hinausgehende gewohnheitsrechtliche Pflicht zum Klimaschutz. Bereits der Beweggrund, ein IGH-Gutachten anzufragen, um den Unwillen der Staaten wettzumachen, illustriert das Problem – jedenfalls, wenn der IGH weiterhin konservativ entscheidet: Denn der Unwille der Staaten, strengeren Klimaschutz zu verfolgen, ist jedenfalls ein Indikator dafür, dass keine hinreichende opinio iuris der Staaten für weitergehende völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtungen vorliegt. Zwar könnten die Äußerungen von 96 Staaten und 11 Internationalen Organisationen bei den kürzlich abgehaltenen mündlichen Verhandlungen als opinio iuris dazu beitragen, dass neues Umweltvölkergewohnheitsrecht entsteht. Allerdings hielt der IGH bereits im Nuklearwaffengutachten fest, dass die Entstehung neuen Völkergewohnheitsrechts nicht an der opinio iuris scheiterte, sondern an der weitergeführten Staatenpraxis der Abschreckung (¶ 73). Auch in Fragen des Klimawandels geht die Staatenpraxis nicht so weit wie die Zusagen der Staaten in nicht-bindenden Instrumenten.
Silver lining
Obwohl auch 1996 der IGH nicht alle Erwartungen erfüllte und nicht alle Rechtsfragen zu dem Einsatz von Nuklearwaffen abschließend beantwortete, so wurde doch positiv aufgefasst, dass der Gerichtshof feststellte, dass der Einsatz von Nuklearwaffen zumindest generell inkompatibel mit den Regeln des bewaffneten Konflikts ist (Falk, S. 73).
Auch das anhängige Klimagutachtenverfahren bietet einige Chancen: Allein die Konkretisierung von bestehendem Völkerrecht bezüglich des Klimaschutzes könnte bereits zu mehr Rechtssicherheit führen (siehe hierzu Tigre/Carrillo Bañelos). In diesen Verfahren kann der IGH dazu auf frühere Entscheidungen (z.B. Gabčíkovo-Nagymaros (1997), Pulp Mills (2010), Certain Activities/Construction of a Road (2015)), Entscheidungen anderer internationaler Gerichte (IAGMR, ITLOS, EGMR), aber auch nationaler Gerichte zurückgreifen (z.B. BVerfG, Beschluss vom 24.03.2021). Der IGH könnte die Chance ergreifen und seit langem geführte Streits wie z.B. zur extraterritorialen Anwendung von Menschenrechten im Bezug auf Emissionen entscheiden (extraterritoriale Anwendung wird u.a. von der African Union unter ¶ 208 vorausgesetzt; verschiedene Ansichten des IACHR und EGMR werden hier von Rocha besprochen). Der IGH könnte außerdem das “collective causation problem” (z.B. besprochen von Nedeski/Nollkaemper) lösen und anerkennen, dass jedes klimaschädliche Handeln eines Staates die Wahrscheinlichkeit für neue Naturkatastrophen steigert. Verletzte Staaten müssten so nicht nachweisen, dass die Handlung eines anderen Staates unmittelbar zum Schadenseintritt geführt hat, sondern, dass die durch den Staat verursachten Emissionen die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erhöht haben. Bezüglich der zweiten Frage des Antrags müsste der IGH dann ausführen, wie sich diese kollektive Kausalität auf mögliche Reparationszahlungen auswirkt.
Obwohl IGH-Gutachten nicht bindend sind, können sie in neuen Verfahren als „Fakt“ herangezogen werden (so wurde z.B. das Chagos Gutachten im ITLOS Fall Mauritius/Maldives, Preliminary Objections Judgement, ¶ 242-245, 250 herangezogen).
Der IGH könnte außerdem etablierte Normen auf den Kontext des Klimawandels übertragen – wie z.B. das Selbstbestimmungsrecht der Völker (vorgetragen von Vanuatu S. 103-106 und besprochen von Frere, Mulalap & Tanielu und von L’Green und Bendit-Rosser).
Fazit
Das anhängige Gutachten veranschaulicht das altbekannte völkerrechtliche Problem, dass es kein Rechtsetzungsorgan außer den Staaten selbst gibt, das sie dazu bringen könnte, strengere Verpflichtungen für das Wohl aller einzugehen. Das bestehende Umweltvölkerrecht enthält nicht ausreichend hohe Standards, damit der IGH in seinem ausstehenden Gutachten das bestehende Recht nur zusammentragen müsste, um die Staaten durch ihre völkerrechtlichen Pflichten auf den Pfad der Klimaneutralität zu bringen. Um die Erwartungen zu erfüllen und die Gefahr zu umgehen, als Legitimation für unzureichende Klimaschutzmaßnahmen herangezogen zu werden, müsste der IGH neue umweltvölkerrechtliche Pflichten begründen und aktivistischer entscheiden als z.B. beim Nuklearwaffengutachten.
Auch ein aktivistisches Handeln des Gerichts würde aber Probleme aufbringen: So könnte ein aktivistischerer Gerichtshof zu einem backlash mancher Staaten und weiteren Einschränkungen der Jurisdiktion des Gerichtshofs führen. Allerdings könnte eine konservative Auslegung nicht nur die besonders vom Klimawandel betroffenen Staaten verärgern (wie schon mit Staaten des globalen Südens nach dem 1966 South West Africa Gutachten geschehen), sondern auch insbesondere die Zivilgesellschaft vor den Kopf stoßen (– die Initiative zu einem Gutachtenverfahren vor dem IGH wurde von einem Verband verschiedener NGOs unterstützt).
Jedoch könnte der IGH auch einen Mittelweg nehmen und in diesem Gutachtenverfahren einerseits etablierte Normen in einem neuen Kontext betrachten und andererseits bestehende Pflichten konkretisieren, die dann in weiteren strittigen Verfahren durch besonders betroffene Staaten eingeklagt werden könnten. Sollte der IGH feststellen, dass Industriestaaten eine Reparationspflicht gegenüber besonders betroffenen Staaten haben, würde diesen Staaten ein effektives Mittel gegeben, Reparationen durch neue Gerichtsverfahren einzuklagen. Dies könnte zu stärkerer Einhaltung von klimabezogenen Pflichten führen, da reichere Staaten so materielle Konsequenzen für die Missachtung dieser Pflichten spüren würden. Gleichzeitig würden den betroffenen Staaten finanzielle Mittel zur Stärkung ihrer Klimawandelresilienz an die Hand gegeben. Insbesondere da die im Rahmen der COP29 vereinbarte Summe von vielen als unzureichend bewertet wurden (siehe z.B. Schneider), könnten Reparationszahlungen einen wichtigen Beitrag leisten. Der Gerichtshof würde also konservativ entscheiden, indem er nur etabliertes Recht betrachtet, aber gleichzeitig moderat aktivistisch handeln, indem er dieses etablierte Recht in einem neuen Kontext auslegt. In diesem Verfahren hat der IGH nun die Chance, notwendige Weichen für sowohl die weitere Fortentwicklung des internationalen Umweltrechts als auch für dessen bessere Durchsetzung zu stellen.

Judith Scherer studiert seit 2020 Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und absolvierte ihren Schwerpunkt im Völker- und Europarecht. Sie ist studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht.