Die europäische Verteidigungspolitik am Scheideweg
Zwischen nationalstaatlichen Tendenzen und unionalem Fortschrittsdrang
Der Aufstieg autoritärer, rechtsnationaler und/oder populistischer Parteien in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union hält schon seit mehreren Jahren an. Eine Stagnation dieser Entwicklung ist für die nahe Zukunft nicht abzusehen. Die Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2024 bestätigte diesen Trend. Auch auf den zukünftigen Integrationsprozess der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) haben diese nationalstaatlichen Tendenzen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Das Wahlergebnis ist letztendlich ein Abbild von der politischen Situation in den Mitgliedstaaten und bringt die Haltung der Bevölkerung gegenüber der EU zum Ausdruck. Der zunehmend nationalausgerichtete Kurs in den Mitgliedstaaten – unterstrichen durch das eindeutige Ergebnis bei der Europawahl – könnte trotz der starken Verteidigungsbestrebungen auf EU-Ebene möglicherweise zur Gefahr für die Idee von einer „Verteidigungsunion“ werden.
Verteidigung ist Sache der Mitgliedstaaten
Der Verteidigungsbereich gilt seit jeher als ein unbestrittener Teil der nationalen Identität und Sicherheit (Art. 4 Abs. 2 S. 1, 3 EUV). Gerade mit Blick auf die institutionelle Ausgestaltung der Union wird der mitgliedstaatliche Souveränitätsanspruch im Verteidigungssegment sichtbar. Die maßgeblichen Entscheidungsträger sind der aus mitgliedstaatlichen Ministern besetzte Rat der EU und der aus den Staats- und Regierungschefs bestehende Europäische Rat. Für ihre militärische Handlungsfähigkeit ist die Union auf die Mittel und Fähigkeiten der Mitgliedstaaten angewiesen (sog. Rückgriffsprinzip), die allein über eine entsprechende Bereitstellung dessen entscheiden (sog. Freiwilligkeitsprinzip). Eine Veränderung dieses Zustands, das heißt die Entscheidung hin zu einem weiteren, im EU-Vertrag angedachten Integrationsschritt und damit zur gemeinsamen Verteidigung (Art. 42 Abs. 2 S. 2 EUV), kann nur durch einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates eingeleitet werden.
Wie relevant ist das Europäische Parlament und dessen Wahl für die GSVP?
Trotz seiner unmittelbaren demokratischen Legitimierung stellt das EU-Parlament selbst nur eine begleitende Randerscheinung im Rahmen der GSVP dar – gleiches gilt für die supranationalgeprägte Europäische Kommission. Eine Gesetzgebungsbefugnis besteht nicht. Aus dem Art. 36 EUV kann zumindest das Recht des EU-Parlaments auf Erhalt von Informationen – Sicherheits- und Verteidigungsangelegenheiten betreffend – hineingelesen werden. Lediglich über den Haushalt kann das EU-Parlament bedingt Einfluss nehmen (Art. 41 EUV).
Mit den Wahlergebnissen sind daher nur mittelbare Konsequenzen verbunden. Angesichts dieser beschränkten Mitsprachemöglichkeiten hat die potenziell veränderte politische Ausrichtung des EU-Parlaments zunächst nur wenig Einfluss auf die Ausgestaltung der unionalen Verteidigungspolitik. Die aus der Wahl hervorgegangenen mitgliedstaatlichen Interessen finden jedoch über die Abstimmungen im Rat der EU und Europäischen Rat Eingang in die Ausrichtung der GSVP. Der Integrationswille der Mitgliedstaaten wird letztendlich durch das Wahlverhalten der Unionsbürger gespiegelt. Die bereits seit Jahren lauter werdenden nationalorientierten und zum Teil EU-kritischen Stimmen in den Mitgliedstaaten kommen nun auch auf Unionsebene zum Ausdruck.
Die gegenwärtige mitgliedstaatliche Haltung – verkörpert durch die Europawahl 2024: „weniger EU“ im Verteidigungsbereich
Der Rechtsruck in den Mitgliedstaaten ist unverkennbar. In einigen der bevölkerungsreichsten Ländern der EU (u.a. Frankreich und Italien) haben populistische und rechtsnationale Parteien die Wahl jeweils für sich entscheiden können. Mit 31,37 % hat in Frankreich die rechtspopulistische Partei „Rassemblement National“ (RN) gewonnen. Die Haltung des RN gegenüber der EU ist – wohlwollend formuliert – kritisch und mit einer großen Skepsis gegenüber ihren Kompetenzen verbunden. Im Zentrum von RNs (Verteidigungs-)Politik steht die Wahrung der Souveränität und Identität Frankreichs. Die angestrebte außenpolitische Stärke der Union steht in einem deutlichen Widerspruch zu der ausschließlich nationalen Ausrichtung des RN. Ganz anders verhält es sich mit der Position des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Immer wieder hat er sich öffentlich für eine autonome Verteidigungsunion eingesetzt und auch den Aufbau einer EU-Armee gefordert. Mit den innenpolitischen Veränderungen in Frankreich könnte die EU einen ihrer größten Befürworter für eine gemeinsame Verteidigung auf Unionsebene verlieren, was mit einem Richtungswechsel in der verteidigungspolitischen Agenda der Union einhergehen könnte.
In Italien verhält es sich mit dem rechtsnationalen Einfluss ähnlich. Die rechtskonservative Partei „Fratelli d’Italia“ von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni konnte fast ein Drittel der Stimmen (28,75 %) für sich gewinnen. Dennoch ist ihr Verhältnis zur Verteidigungspolitik der EU ein anderes. Eine außen- und sicherheitspolitische Stärkung der EU wird durchaus befürwortet, jedoch unter der Prämisse der Berücksichtigung der Interessen Italiens. Das geforderte Mitspracherecht Italiens auf Unionsebene kann allerdings auch dahingehend verstanden werden, dass nationalstaatliche Interessen stärker in den europäischen Entscheidungsprozessen Berücksichtigung finden sollen. Meloni beansprucht ein größeres Mitbestimmungs- und Gestaltungsrecht Italiens in Europa, das sich gerade auch auf die Besetzung der Spitzenposten bezieht.
Für die Zusammensetzung des EU-Parlaments sind diese Ergebnisse mit einem deutlichen Zuwachs an Sitzen für die Fraktionen am rechten Flügel verbunden. Die rechte ID-Fraktion (Fraktion Identität und Demokratie) aus dem Vorgängerparlament ist mehrheitlich in eine neue Fraktion „Patriots for Europe“ aufgegangen, der von nun an auch das französische RN angehört. Mit 84 Sitzen wird diese Fraktion zur Drittstärksten des kommenden EU-Parlaments.
Für die GSVP könnten die, von der Europawahl 2024 noch einmal bekräftigten, bestehenden nationalstaatlichen Denkmuster den weiteren Integrationsschritt der gemeinsamen Verteidigung in weite Ferne rücken lassen. Die dafür notwendige Zustimmung aller Staats- und Regierungschefs scheint es so schnell nicht zu geben. Aktuell entsteht der Eindruck, dass der Wille der Mitgliedstaaten vielmehr auf Rückschritt („Rücknahme“ von Kompetenzen) statt auf Fortschritt (Übertragung von Kompetenzen) gerichtet ist. In ihrem Manifesto haben sich die Patriots for Europe unter anderem klar gegen weitere mitgliedstaatliche Souveränitätseinbußen gegenüber der EU und ihren Institutionen ausgesprochen. Auch die Abwendung bestimmter Mitgliedstaaten von bereits existierenden, gemeinsamen Verteidigungsprojekten ist aufgrund der freiwilligen Natur der Zusammenarbeit, insbesondere an PESCO (Permanent Structured Cooperation), nicht auszuschließen. Auf das Verhältnis zur Ukraine könnte das Wahlergebnis sogar unmittelbaren Einfluss haben. So hat im Februar 2024 noch ein sehr großer Teil der Abgeordneten für die sog. Ukraine-Fazilität – Finanzhilfen in Höhe von 50 Mrd. EUR – gestimmt. Offen ist, auf wie viel Zuspruch diese Änderung des mehrjährigen Finanzrahmens bei den neu in das EU-Parlament eingezogenen Abgeordneten stoßen wird.
Die aktuellen Bestrebungen auf Unionsebene: „mehr EU“ im Verteidigungsbereich
Dem stehen jedoch die laufenden Anstrengungen der EU gegenüber, die auf eine generelle Stärkung des Verteidigungsbereichs ausgerichtet sind. Der anhaltende Krieg in der Ukraine hat die Sicherheits- und Verteidigungsfragen wieder zum Gegenstand politischer bzw. juristischer Debatten gemacht. Die neue und zugleich vorherige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede vom 28. Februar 2024 die Stärkung der europäischen Verteidigung, insbesondere im industriellen Bereich, in den Mittelpunkt gerückt. So erhält die neu zusammengesetzte Kommission mit Andrius Kubilius auch erstmalig einen Verteidigungskommissar. Die Vermutungen im Hinblick auf die mit dem neuen Posten verbundenen Aufgaben haben sich letztendlich bestätigt. In ihrem „Mission Letter“ vom 17. September 2024 hat von der Leyen ein klares Handlungsprofil gezeichnet, das sich vor allem auf die wirtschaftliche Komponente von Verteidigung, die Rüstungspolitik, konzentriert. Auch die Stärkung der Rolle des EU-Parlaments in Verteidigungsangelegenheiten ist angedacht. Mit der geplanten Anhebung des Unterausschusses für Verteidigung auf die Stufe der „echten“ Ausschüsse, die von einem Großteil der Fraktionen getragen wird, soll der Einfluss des EU-Parlaments auf Entscheidungsfragen im Verteidigungsbereich gesteigert werden. Bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024 hat von der Leyen davon gesprochen, dass Europa aufwachen müsse und das Ziel die Schaffung eines starken Europas („strong Europe“) sein sollte. Jedoch verbleiben weiter Zweifel an der tatsächlichen Wirkkraft dieser Neuerungen, da es bei dem nur kleinen Zuständigkeitsbereich und marginalen Kompetenzrahmen von Parlament und Kommission bleibt.
Der Tenor auf Unionsebene ist unmissverständlich auf die Erhöhung der Einsatzbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit der Union gerichtet. Die Rolle der EU im Verteidigungsbereich soll weiter ausgebaut werden – wobei die EU-Schnelleingreifkapazität eine wichtige Rolle spielt. Bis zu 5000 Streitkräfte sollen in der kurzfristigen Krisenbewältigung zum Einsatz kommen. Um die militärische Handlungsfähigkeit dieser Truppe wie geplant bis 2025 sicherstellen zu können, ist die Union wieder einmal auf das Engagement der Mitgliedstaaten angewiesen. Auch an diesem Punkt trifft der starke Fortschrittswille der EU – getragen von einer deutlichen, auf Veränderung gerichteten Rhetorik – auf die nur begrenzten unionalen Kompetenzen.
Aktuell liegt der Schwerpunkt der Arbeit der EU im Sicherheits- und Verteidigungsbereich auf der Bedarfssicherung und der Schaffung einer industriell-technologischen Grundlage. Mit der „Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie“ soll eine nachhaltige und resiliente Verteidigungsgemeinschaft zur langfristigen Stabilitätssicherung im europäischen Verteidigungssektor aufgebaut werden. Den gegenwärtigen Handlungsauftrag hat von der Leyen unmissverständlich formuliert: Insgesamt muss „mehr“ in die Verteidigung auf Unionsebene investiert werden. Die EU soll langfristig zu einer „true European Defence Union“ werden. Das würde angesichts der starken Aussagekraft des Begriffs der „Verteidigungsunion“ der Einführung einer gemeinsamen Verteidigung – unabhängig davon, was unter dem Begriff der Verteidigung in Art. 42 Abs. 2 S. 2 EUV zu verstehen ist – gleichkommen, für die es allerdings allein auf die Mitgliedstaaten ankommt.
Dilemma – Wie sieht die Zukunft der GSVP aus?
Es wird deutlich, dass die Bestrebungen der Union in einer direkten Abhängigkeit zum mitgliedstaatlichen Willen stehen. Einen Fortschritt bzw. eine Weiterentwicklung hin zu mehr europäischer Verteidigungskooperation wird es nur geben können, wenn die Mitgliedstaaten dies auch wollen. Einerseits in kompetenzieller Hinsicht: Für die Einführung einer gemeinsamen Verteidigung bedarf es der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Andererseits erfordert deren Umsetzung, dass sich die Mitgliedstaaten auch rein faktisch, durch die Bereitstellung von finanziellen, materiellen und personellen Mitteln, beteiligen. Aber kann aktuell überhaupt von einem solchen Willen ausgegangen werden? Sowohl die politischen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten als auch die Ergebnisse der Europawahl 2024 sprechen eine deutliche Sprache. Der von den rechtsnationalen und -populistischen Parteien proklamierte Rückzug in nationalstaatliche Verhaltensmuster lässt an einer gemeinsamen Verteidigung in der Zukunft zweifeln. Es scheint, als sei das Vertrauen in die EU, einschließlich ihrer Krisenbewältigungs- und Problemlösungsstrategien verloren gegangen. Gleichzeitig ist die geopolitische Lage gegenwärtig erdrückend. Die individuellen Verteidigungsfähigkeiten der Mitgliedstaaten sind für sich allein genommen nicht genug, um dem befürchteten Ausmaß der potenziellen Sicherheitsgefahren entscheidend entgegentreten zu können. Die Abhängigkeit von den Mitteln und Fähigkeiten, aber auch von der Bereitschaft der NATO, insbesondere der der Vereinigten Staaten von Amerika, ist größer denn je. Die Bedrohungsszenarien sind vielfältiger bzw. komplexer geworden (Stichwort: Cyberangriffe) und nehmen kontinuierlich zu. Wie die Lösung für dieses Dilemma aussehen soll, ist ungewiss. Die Bemühungen der EU erscheinen zwar progressiv, aber beinhalten zunächst bloße formelle, institutionelle Veränderungen von symbolpolitischem Charakter (z.B. in Form des neuen Verteidigungskommissars und geplanten Verteidigungsausschusses): Das bestehende Handlungsfeld der Union im Rahmen der GSVP wird lediglich um neue Akteure ergänzt, die zu einer besseren Wahrnehmung der geringen Verteidigungskompetenzen der EU beitragen sollen. Gegenwärtig liegt der Fokus der Zusammenarbeit überwiegend auf der Rüstungsindustrie und den wirtschaftlichen Implikationen der Verteidigungsarbeit. Ob auch der Ausbau militärischer Zusammenarbeit im exekutiven Sinne funktionieren kann, wird sich mit dem tatsächlichen Einsatzbeginn der EU-Schnelleingreifkapazität zeigen. Eine wirkliche, ausschlaggebende Neuerung gegenüber den nur wenig erfolgreichen Vorgängerkonzepten – der Schnellen Eingreiftruppe nach dem Helsinki Headline Goal und den nachfolgenden EU-Gefechtsverbänden – ist erstmal nicht zu erkennen.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Dynamiken im neu zusammengesetzten EU-Parlament entwickeln. Eine nach innen (rechts)national ausgerichtete Partei, der es vor allem um die Sicherheit des eigenen Landes geht, muss, wie es bei der italienischen Partei von Meloni zu sehen ist, nicht zwangsläufig eine gemeinsame Verteidigung auf Unionsebene ablehnen. Wenn der Schutz der eigenen Bevölkerung nur durch europäische Zusammenarbeit gewährleistet werden kann, werden mit aller Wahrscheinlichkeit auch die nach innen nationalorientierten Parteien unter gesellschaftlichen (Handlungs-)Druck geraten. Im Zweifel wird die Sicherheitslage die Mitgliedstaaten zu einer stärkeren Zusammenarbeit zwingen. Wird die Notwendigkeit einer eigenen Territorialverteidigung realistischer, so wird zwangsläufig auch das Bedürfnis nach einer handlungsfähigen Union größer werden. Bereits jetzt sind die Mitgliedstaaten zum gegenseitigen Beistand gemäß Art. 42 Abs. 7 EUV verpflichtet, wenn das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats angegriffen wird. Wie eine darüberhinausgehende Unterstützung seitens der EU nach gegenwärtigem Kompetenzrahmen aussieht, ist unklar. Die fehlende Entschlossenheit zum aktuellen Zeitpunkt könnte daher womöglich noch zum Verhängnis für den besagten, hoffentlich rein hypothetischen Ernstfall – der Verteidigung des unionalen Hoheitsgebiets – werden.
Kassandra Langguth ist Doktorandin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, insbesondere auf dem Bereich der Cyberverteidigung.