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Die „Bundesnotbremse II“ aus dem Blickwinkel der EMRK

Das Recht auf Bildung und das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit während der Schulschließungen im Rahmen der Corona-Pandemie im Jahr 2021

02.02.2023

Die bundesweiten Schulschließungen in Deutschland infolge der Corona-Pandemie im Jahr 2021, die Gegenstand des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 19. November 2021 waren, liegen nun dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur Entscheidung vor. Die entsprechenden Beschwerden wurden als potenzielle impact cases priorisiert und Mitte Dezember 2022 zugestellt.

Inzwischen erreichte die Pandemie auch die Große Kammer des EGMR – wenn auch weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit (siehe aber Stijn Smet).Im Fall Communauté genevoise d’action syndicale (CGAS) ./. Schweiz hatte die Kammer in einer 4:3 Konstellation die mehrwöchigen Versammlungsverbote, die im Kanton Genf zu Beginn der Pandemie verhängt worden waren, für konventionswidrig erachtet. Das Urteil vom März 2022 wurde inzwischen auf Antrag der Schweiz an die Große Kammer verwiesen und ist nicht rechtskräftig, eine mündliche Verhandlung ist für April 2023 angesetzt.

Diese Sachlage bildet den Anlass, einen Blick auf die bundesdeutschen Schulschließungen durch die Brille der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere dem Recht auf physische und psychische Unversehrtheit aus Art. 8 EMRK, und des ersten Zusatzprotokolls zu werfen, das ein Recht auf Bildung festschreibt. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wird unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs aus Art. 6 EMRK knapp beleuchtet.

Der Sachverhalt: Bundesnotbremse im Frühjahr 2021

Im April 2021 verabschiedete der Deutsche Bundestag die Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Im Gesetzespaket enthalten war ein Verbot von Präsenzunterricht an Schulen bei Überschreitung gewisser Schwellenwerte im Rahmen der Corona-Pandemie. Das Bundesgesetz galt vom 23. April bis zum 30. Juni 2021 („Bundesnotbremse II“). Das Bundesverfassungsgericht erkannte zwar – erstmalig – das Vorhandensein eines Rechts auf schulische Bildung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG (Rn. 42 ff.) an, wertete das Verbot des Präsenzunterrichts auch als einen Eingriff (Rn. 74), stufte jedoch die Maßnahmen als formell und materiell verfassungsgemäß ein.

Das Recht auf Bildung auf Ebene der Europäischen Konvention für Menschenrechte

Anders als im deutschen Grundgesetz ist in Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK das Recht auf Bildung textlich abgesichert. Es wird schrankenlos gewährt. Der deutsche Vorbehalt zum Recht auf Bildung (zur Einordnung Huhle v Deutschland, Ziff. 16) schränkt den Anwendungsbereich für den Sachverhalt der Bundesnotbremse nicht ein.

Das Verbot von Präsenzunterricht ist einer der denkbar schwersten Eingriffe in das Recht auf Bildung. Im Belgischen Sprachenfall von 1968 hielt der Gerichtshof Maßnahmen, die den Wesensgehalt des Rechts auf Bildung verletzten, in einem obiter dictum für mit Artikel 2 des Zusatzprotokolls unvereinbar (Ziff. 5):

“The right to education guaranteed by the first sentence of Article 2 of the Protocol by its very nature calls for regulation by the State, regulation which may vary in time and place according to the needs and resources of the community and of individuals. It goes without saying that such regulation must never injure the substance of the right to education nor conflict with other rights enshrined in the Convention.”

Zur Kontrolldichte bei Maßnahmen der Bekämpfung der Corona-Pandemie

Staaten haben im Rahmen der EMRK die Möglichkeit, über Notstandserklärungen nach Artikel 15 EMRK einen größeren Einschätzungsspielraum bei der Einschränkung von Konventionsrechten zu erhalten. Deutschland verzichtete, wie die Schweiz, auf eine solche Erklärung. Im Gegensatz dazu gaben zehn der damals noch 47 Hohen Vertragsparteien  Erklärungen im Kontext der Covid-19 Pandemie ab. Etwa die Erklärung Nordmazedoniens betraf auch das Recht auf Bildung.

Die Kammer nahm im Fall CGAS ./. Schweiz die Pandemie als Kontext (Ziff. 4, 84) für die getroffenen Maßnahmen zur Kenntnis, sah sich jedoch nicht veranlasst, die Maschen der gerichtlichen Kontrolle allzu durchlässig werden zu lassen. Die Mehrheit betonte, dass ein allgemeines Verbot, dort ein Versammlungsverbot, eine „radikale“ Maßnahme ist, die eine fundierte Begründung und eine besonders sorgfältige gerichtliche Kontrolle erfordert (Ziff. 85).

Ein Entgegenkommen des Gerichtshofes ohne einen formalen Notstand birgt die Gefahr, dass die Garantien der Konvention und ihrer Zusatzprotokolle dauerhaft verwässern, ohne dass der „Quarantäne-Effekt“, also die zeitliche Begrenzung einer Ausnahmesituation, einhegend wirkt. Anders als im Fall CGAS ./. Schweiz fielen die hier nun zu prüfenden Schulschließungen in Deutschland im Frühjahr 2021 in einen fortgeschrittenen Zeitraum der Pandemie und betrafen nicht mehr den akuten Ausbruch im Frühjahr 2020, der die Staaten weitgehend unvorbereitet traf. Damit spricht viel dafür, dass für die Kontrolldichte und den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung „normale“ Maßstäbe angesetzt werden. Positiv gewendet: das Recht auf Bildung und das Recht auf psychische und physische Unversehrtheit galten auch in Pandemiezeiten unverändert fort.

Von Lepra und Brandstiftung – die jüngere Rechtsprechung in Straßburg

Das Bundesverfassungsgericht befasste sich in seinem Urteil zu den Schulschließungen nicht vertieft mit der Judikatur des EGMR zum Recht auf Bildung. Das Gericht in Karlsruhe zitiert in Rn. 68 eine Sekundärquelle von 2007, und übergeht so die jüngere Rechtsprechung, insbesondere die Fälle Memlika von 2015 und Ali von 2011; zu nennen ist auch der Fall F.O. ./. Kroatien von 2021. Die dort entwickelten Maßstäbe sind jedenfalls anwendbar, wenn man davon ausgeht, dass wie oben erläutert, die Pandemie nicht gleichsam als Weichzeichner für die gerichtliche Kontrolle fungiert.

Im Fall Memlika u.a. ./. Griechenland wurden zwei Kinder mit dem Verdacht auf eine Lepraerkrankung vom Unterricht ausgeschlossen. Obwohl der Verdacht auf die Krankheit sich nicht erhärtete, blieb den betroffenen Kinder mehrere Monate der Schulbesuch verwehrt. Insbesondere die Abwägung der Interessen der Allgemeinheit (Seuchenschutz) und den auf Ebene der Konvention abgesicherten Rechten Einzelner (Ziff. 55) bietet ein Vergleich mit dem Urteil an, der in der bisherigen Rechtsprechung dem jetzt anliegenden Fall am nähesten kommt.

Die Bekämpfung der Lepra ist ein legitimes Ziel für Maßnahmen im Bereich des Rechts auf Bildung. Dies gilt sicherlich auch für das unbestritten hochgefährliche Covid-19 Virus einschließlich seiner Varianten. Im Fall Memlika stellte der Gerichtshof einen Verstoß gegen das Recht auf Bildung fest (Ziff. 57). Die Behörden sind zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit (Ziff. 55) zwischen dem Schutz der Interessen der Allgemeinheit und dem Schutz der Interessen der Einzelnen, die den Maßnahmen unterworfen sind, und die naturgemäß schwerwiegenden Auswirkungen auf das Leben der Letzteren haben, verpflichtet. Besonders restriktive und belastende Maßnahmen dürfen nur so lange aufrechterhalten werden, wie es für den Zweck, für den sie ergriffen wurden, unbedingt erforderlich ist, und müssen aufgehoben werden, sobald der Grund für ihre Verhängung nicht mehr besteht.

Das Gegenbeispiel für eine noch verhältnismäßige Maßnahme im Bereich des Rechts auf Bildung sah der Gerichtshof im Fall, der aus dem Jahr 2011 stammt, Ali ./. Vereinigte Königreich (Ziff. 59). Dort war ein Schüler für die Dauer von etwa vier Monaten (Ziff. 6 ff.) im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen gegen ihn wegen Brandstiftung in der Schule vom Schulbesuch ausgeschlossen worden.

Der nationale Einschätzungsspielraum beim Recht auf Bildung variiert nach dem zu regelnden Bildungsniveau; er ist dort besonders klein, wo es um die Beschulung von jüngeren Kindern geht (Ponomaryovi ./. Bulgarien, Ziff. 56).

Nationale Spielräume, Europäischer Konsens

Ein weiterer Faktor für Bewertung der getroffenen Maßnahmen, insbesondere für die Größe des nationalen Einschätzungsspielraumes, ist der sog. Europäische Konsens. Wo eine feststellbare Tendenz unter den Mitgliedstaaten zu einem Themenfeld vorhanden ist, verringert dies den Ermessensspielraum eines einzelnen Staates. Ob in anderen europäischen Staaten im Jahr 2021 weniger oft Schulen geschlossen wurden, sprengt diesen Beitrag, wäre aber sicherlich ein lohnendes rechtsvergleichendes Forschungsthema. Auf einen solchen Europäischen Konsens deutet die Kritik am deutschen Vorgehen im schulischen Bereich hin, die die Menschenrechts-Kommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, im Juli 2021 in einem Brief an die damalige Bundesjustizministerin Christine Lambrecht äußerte: die Maßnahmen in Deutschland seien im europäischen Kontext „especially strict“. Frau Lambrecht gestand die Kritik weitgehend zu.

Das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit aus Art. 8 EMRK

Das Bundesverfassungsgericht behandelte die Fragen zur physischen und psychischen Unversehrtheit im Rahmen des Rechts auf Bildung (Rn. 151); es war der Ansicht, dass die Beschwerden zur physischen und psychischen Unversehrtheit für sich genommen nicht hinreichend substantiiert vorgetragen worden seien (Rn. 37). Der Gerichtshof ist insoweit nicht an die Wertung des Bundesverfassungsgerichts gebunden (Schwarzenberger ./. Deutschland , Ziff. 31).

Die gesetzlich angeordneten automatischen Schulschließungen, zusammen genommen mit den bereits langfristigen Schulschließungen zuvor, stellen einen Eingriff dar. Insbesondere die irreversiblen Langzeitfolgen der Maßnahmen für das Kindeswohl überschreiten die Trivialitätsgrenze (Söderman ./. Schweden (GK) Ziff. 84). Zwar waren vorangegangene Schulschließungen von den Ländern verantwortet worden. Aus Sicht der Kinder, so die hier vertretene Meinung, ist jedoch jede weitere belastende Maßnahme zu Lasten von Kindern nicht in einem Vakuum, sondern im konkreten Kontext zu bewerten. Der Gerichtshof betont zudem, dass im Bildungsbereich über die Abwehrdimension hinaus eine die wesentliche Verpflichtung des Staates darin besteht, die Gesundheit und das Wohlergehen der Schüler zu schützen, insbesondere im Hinblick auf ihre Verletzlichkeit aufgrund ihres jungen Alters (F.O. ./. Kroatien, Ziff. 82).

Keine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht

Weiter stünde die Frage im Raum, ob die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht ohne Verstoß gegen Artikel 6 EMRK (Voggenreiter ./. Deutschland, Ziff. 31) verzichtbar war. Ein „civil right“ i.S.d. Artikel 6 Abs. 1 EMRK ist auch das Recht auf Bildung (Oršuš u.a. ./. Kroatien, Ziff. 104 ff.).

Das Erfordernis der Mündlichkeit findet keinen expliziten Anker im (authentischen englischen/ französischen) Wortlaut von Artikel 6 EMRK, allerdings kann aus dem Begriff des „hearing“ geschlossen werden, dass eine Verhandlung mündlich stattfindet, also rechtliches Gehör gewährt wird. Sicherlich handelt es sich nicht um ein absolutes Erfordernis einer mündlichen Verhandlung. Durch die Transparenz der Rechtspflege trägt jedoch die öffentliche mündliche Verhandlung zur Verwirklichung des Ziels von Artikel 6 Abs. 1 EMRK bei, zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens, das eines der Grundprinzipien jeder demokratischen Gesellschaft im Sinne der EMRK ist (Mirovni Inštitut ./. Slowenien, Ziff. 36). Es sei hier an das Abendessen der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts mit der Bundesregierung erinnert, bei dem das Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ beleuchtet wurde. Nach der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshof kommt es für einen Verstoß gegen Artikel 6 EMRK nicht auf eine kausale Einflussnahme an. Entscheidend ist der Eindruck, der entstanden ist (Kress ./. Frankreich, Ziff. 82).

Es geht insgesamt bei den Rechten aus Art. 6 EMRK um die bestmögliche Qualität des gerichtlichen Verfahrens. Bemerkenswert ist, dass im Fall CGAS ./. Schweiz eine mündliche Verhandlung vor der Großen Kammer für den 12. April 2023 terminiert ist. Der Fall gegen die Schweiz liegt hinsichtlich der Einhaltung der Rechte aus Art. 6 EMRK anders als der Fall gegen Deutschland. Er zeigt jedoch, dass es bei der nun anstehenden grundsätzlichen gerichtlichen Aufarbeitung der Pandemie vor der Großen Kammer in Straßburg, anders als in Karlsruhe, Redebedarf in Straßburg gesehen wird. Es ist zudem zu vermuten, dass viele Mitgliedsstaaten über Drittbeteiligungen nach Artikel 36 Abs. 2 EMRK ihre Vorstellung zur gerichtlichen Kontrolle der Pandemiemaßnahmen zur Geltung bringen wollten.

What About the Children?

Die Corona-Pandemie war und ist eine reale Bedrohung für das Leben vieler Menschen und erfordert umsichtiges staatliches Handeln. Es bleibt zu hoffen, dass der Gerichtshof seine Rolle im Kontext der Pandemie zur Kontrolle ebendiesen staatlichen Handelns selbst definiert und dabei seine Tätigkeit an der am jeweils betroffenen Menschenrecht – und am Kindeswohl – ausrichtet. Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens in Straßburg zu den Schulschließungen sollte es Anlass für eine Reflektion zum Stellenwert von Kindern und Bildung in Deutschland sein.

 

Anmerkung: Die Autorin ist im Rahmen der Beschwerden in Straßburg als Gutachterin für die Kanzlei Kanzlei Keller und Kollegen tätig.

Author
Isabella Risini

Isabella Risini is currently a lecturer for public law at the law faculty of Ruhr-Universität Bochum and managing director of the Center for International Affairs. She is a member of the scientific advisory board of Völkerrechtsblog. In the summer term 2023, she will be a visiting professor at the Walther Schücking Institute for International Law at the Christian-Albrechts-University in Kiel. In the winter term 2021/22, she was a visiting professor of Public Law at Augsburg University.

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