„Resolution ES-11/1 adopted“: mit einem lakonischen Tweet verkündete gestern Nachmittag der Vorsitzende der UN-Generalversammlung, dass die Weltgemeinschaft in einer Notstandssitzung den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt hat. 141 Staaten stimmten für die Resolution, nur 5 dagegen, 35 enthielten sich. Von Anfang an war absehbar, dass die UNO in diesem Konflikt nur über die Generalversammlung wird tätig werden können – wenn überhaupt. Denn Russland ist ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, wo es jede ihm nicht genehme Resolution blockieren kann. Diese Möglichkeit, das sogenannte Vetorecht, erklärten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 zur Bedingung; andernfalls würden sie der Charta, und damit den UN als solchen, nicht zustimmen. In der Praxis jedoch fand man für Situationen, in denen der Sicherheitsrat durch Vetos am Handeln gehindert wird, obwohl der internationale Frieden bedroht ist, schnell eine Ausweichlösung – über die Generalversammlung. Das entsprechende Verfahren, das auch im laufenden Konflikt zur Anwendung kommt, heißt Uniting for Peace.
Uniting for Peace: Hintergründe
Dieser institutionelle Umweg bildete sich während des Koreakrieges im Herbst 1950 heraus. Als Nordkorea im Juni desselben Jahres die Republik Korea angegriffen hatte, stellte der Sicherheitsrat einen Bruch des Friedens fest und beschloss dann, UN-Truppen zur militärischen Unterstützung Südkoreas zu entsenden. Diese Resolutionen zu verabschieden war möglich, weil die Sowjetunion bereits seit Jahresbeginn die Sitzungen des Sicherheitsrates boykottierte (um zu erzwingen, dass die Volksrepublik China und nicht die Republik China, sprich Taiwan, im Sicherheitsrat vertreten war). Im August kehrte allerdings die UdSSR in den Sicherheitsrat zurück und blockierte mit ihren Vetos weitere Entschließungen des Organs zum Koreakonflikt. Der damalige US-Außenminister Dean Acheson konnte die Generalversammlung überzeugen, dass sie nun, da der Sicherheitsrat handlungsunfähig war, die Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens trug.
Diese Verantwortung erkannte die Generalversammlung in der Resolution 377 (V) vom 3. November 1950 an, die den Namen „Uniting for Peace“ trug. Demnach sollte sich die Generalversammlung dann, wenn sich die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates nicht einigen konnten, unverzüglich der Angelegenheit annehmen und hierfür, sofern nicht ohnehin eine reguläre Sitzungsperiode stattfand, zu einer Notstandssitzung zusammenkommen. Eine solche Sitzung könne durch die Mehrheit der UN-Mitglieder anberaumt werden oder durch den Sicherheitsrat selbst mit sieben (von damals insgesamt elf) einfachen Stimmen, was bedeutet, dass nicht unbedingt alle ständigen Mitglieder zustimmen müssen und das Vetorecht somit nicht greift. Die Generalversammlung sei befugt, Maßnahmen zur Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit zu empfehlen, darunter auch den Einsatz von UN-Truppen, um dem Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta nachzukommen.
Nach dem Koreakrieg wurde das Uniting-for-Peace-Verfahren bislang zehn Mal genutzt. Der häufigste Anlass waren Vetos der UdSSR im Sicherheitsrat, etwa bei Resolutionsentwürfen zu den sowjetischen Einmärschen in Ungarn im Jahr 1956 oder in Afghanistan im Jahr 1980. Aber auch nach Vetos anderer ständiger Sicherheitsratsmitglieder wurde die Generalversammlung aktiv, etwa als Frankreich und Großbritannien den Sicherheitsrat in der Suezkrise im Jahr 1956 blockierten, oder mehrfach im Nahostkonflikt, als die USA gegen entsprechende Resolutionen stimmten. Im Unterschied zur Situation in Korea wurden in diesem Rahmen allerdings nie wieder militärische Zwangsmaßnahmen empfohlen. Vielmehr beschränkte sich die Generalversammlung darauf, die Invasionen und Eskalationen der Konflikte zu verurteilen sowie die Angreifer zum sofortigen Truppenrückzug aufzufordern. In einem Fall jedoch – Suezkrise – setzte die Generalversammlung eine Friedenstruppe ein: Die United Nations Emergency Force, UNEF, war sogar die erste Peacekeeping-Mission der UN. Im Rahmen ihres Mandats überwachten die Blauhelme den Rückzug französischer, britischer und israelischer Truppen sowie den Waffenstillstand zwischen Israel und Ägypten.
Der Weg zu Uniting for Peace im Ukrainekrieg
Wohlwissend, dass Russland im Sicherheitsrat gegen alle Resolutionen zum Ukrainekrieg stimmen würde, forderte der ukrainische UN-Botschafter Sergiy Kyslytsya bereits am ersten Tag des russischen Angriffs eine Notstandssitzung der Generalversammlung im Uniting-for-Peace-Format. Damit diese stattfinden konnte, musste der Konflikt dennoch zunächst einmal vor den Sicherheitsrat, der laut UN-Charta schließlich die Verantwortung für den internationalen Frieden trägt. Das ständige Sicherheitsratsmitglied USA und das nicht-ständige Mitglied Albanien legten schon am zweiten Tag des Krieges einen Resolutionsentwurf vor, der den russischen Angriff verurteilte und Russland nicht nur zum sofortigen Rückzug seiner Streitkräfte aus der Ukraine aufforderte, sondern auch zur Rücknahme der Anerkennung der separatistischen Regionen Donezk und Luhansk (dazu hier).
Wie erwartet, legte Russland in der Sitzung vom 25. Februar 2022 sein Veto ein, womit die Resolution abgelehnt war. Daraufhin rief der Sicherheitsrat zwei Tage später die Generalversammlung zu einer Notstandssitzung zusammen. Diese Abstimmung war prozedural, das Vetorecht galt damit nicht. Angesichts der breiten Unterstützung für das Verfahren, die viele Sicherheitsratsmitglieder bereits im Vorfeld geäußert hatten, war es unwahrscheinlich, dass die notwendige Mehrheit von 9 Stimmen verfehlt wird, doch selbst wenn dieser Fall eingetreten wäre, hätte die Vollversammlung dennoch tagen können, aus eigener Initiative. Der derzeitige Vorsitzende der Generalversammlung, der maledivische UN-Botschafter Abdulla Shahid, hatte den russischen Angriff bereits als Völkerrechtsbruch verurteilt und einen sofortigen Waffenstillstand verlangt.
Was die Generalversammlung mit Uniting for Peace erreichen kann
Die Generalversammlung kam also Montagabend zusammen und verabschiedete am Mittwoch, den 2. März 2022, nach dreitägiger Debatte die Resolution A/RES/ES-S/1. Die Endversion ist zum Zeitpunkt des Schreibens noch nicht verfügbar, aber der Entwurf ist inhaltlich stark an den angelehnt, der für den Sicherheitsrat erarbeitet worden war. Nach einer Bekräftigung der in Artikel 2 der UN-Charta kodifizierten Prinzipien des Gewaltverbots und der territorialen Integrität seiner Mitglieder, verurteilt der Entwurf den Angriff und verlangt von Russland, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen und seine Streitkräfte vollständig und bedingungslos aus der Ukraine abzuziehen. Der Text ruft alle Parteien mit Nachdruck dazu auf, sich an die Regeln des humanitären Völkerrechts zu halten. Er mahnt schließlich zur friedlichen Konfliktlösung und Deeskalation.
Ohne den genauen Wortlaut zu benutzen, leistet die Vollversammlung mit dieser Resolution de facto, was formal die wichtigste Kompetenz des Sicherheitsrats nach Artikel 39 der UN-Charta ist: den Bruch des internationalen Friedens festzustellen. Zugleich fehlt in der Resolution all dies, was der Sicherheitsrat daraufhin tun könnte, nämlich nicht-militärische Zwangsmaßnahmen nach Artikel 41 oder militärische Zwangsmaßnahmen nach Artikel 42 zu verhängen. Doch sollte die Generalversammlung weitere Schritte unternehmen wollen – wie könnten diese aussehen?
Wichtig zu wissen ist, dass die Generalversammlung nur Empfehlungen abgeben kann. Ihre Resolutionen sind also, im Unterschied zu denen des Sicherheitsrates, nicht bindend. Doch auch wenn die Staaten nicht rechtlich verpflichtet wären, sich an diese Empfehlungen zu halten – politisch wären sie es. Denn als Ausdruck des Willens der internationalen Gemeinschaft haben Resolutionen der Generalversammlung eine starke symbolische Wirkung. Sie vermitteln, was in der aktuellen Situation als angemessenes Handeln gilt und formulieren die klare Erwartung, dass sich alle Staaten danach richten. Für diejenigen, die es nicht tun, entsteht ein besonderer Rechtfertigungsdruck.
Wird die Notstandssitzung fortgesetzt, könnte sich die Generalversammlung in Folgeresolutionen zumindest für Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI der UN-Charta aussprechen. Für militärische oder nicht-militärische Zwangsmaßnahmen gibt es keine Präzedenzfälle im Rahmen der Uniting-for-Peace-Prozedur (in anderen Situationen, d. h. nicht in Reaktion auf eine Friedensbedrohung hat die Generalversammlung jedoch bereits mehrfach nicht-militärische Sanktionen empfohlen). Während in einigen vorherigen Fällen, in denen ein Staat einen anderen überfallen hatte (etwa Irak-Kuwait im Jahr 1990), vom Sicherheitsrat militärische Zwangsmaßnahmen nach Artikel 42 mandatiert wurden, ist hierfür das Eskalationspotential in diesem Fall, und zwar nicht nur aufgrund russischer Nuklearwaffen, ohnehin zu hoch. Es ist daher unwahrscheinlich (wenn auch natürlich nicht ausgeschlossen), dass die Generalversammlung etwa eine militärisch durchgesetzte Flugverbotszone, wie bereits mehrfach gefordert, oder sogar Angriffe auf militärische Ziele auf dem russischen Territorium, etwa Munitionslager oder Stützpunkte, empfiehlt.
Durchaus notwendig wären allerdings konkrete Vorgaben aus zwei Bereichen: nicht-militärische Zwangsmaßnahmen nach Artikel 41 des Kapitels VII und Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI. Zwar gibt es derzeit eine Fülle individueller, unilateraler oder regionaler Sanktionen gegen Russland. Ein multilateral abgestimmtes und einheitliches Sanktionsregime wäre jedoch zum einen sinnvoll, um ein Unterlaufen zu erschweren, das dessen Effektivität schmälern wurde. Zum anderen wäre es sinnvoll, um ein Überschießen zu vermeiden – die Sanktionen sollten zielgerichtet sein und die russische Zivilbevölkerung nicht unverhältnismäßig treffen.
Als Maßnahme der friedlichen Streitbeilegung könnte die Generalversammlung gemäß Artikel 33 der Charta eine*n Sondergesandte*n damit beauftragen, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und eine Feuerpause bzw. langfristig ein Friedensabkommen auszuhandeln. Spätestens wenn dieses erzielt wird und unter Umständen auch schon vorher, wären UN-Blauhelme eine Option, wie sie die Generalversammlung im Jahr 1956 in der Suezkrise entsandte. Was das Mandat einer solchen UN-Friedenstruppe umfassen würde, hängt unter anderem vom Konfliktstadium ab, in dem sie zum Einsatz kommt. Sie könnte beispielsweise einen Waffenstillstand überwachen und sogar als Puffer zwischen den Konfliktparteien dienen. In jedem Fall sollte die Mission den Auftrag und die Mittel haben, die Zivilbevölkerung zu schützen und zu versorgen. Dies könnte direkt in den Konfliktgebieten passieren, aber z. B. auch die Errichtung und Absicherung von humanitären Schutzzonen und/oder eines humanitären Korridors, durch den Flüchtlinge die Ukraine sicher verlassen bzw. evakuiert werden können, beinhalten.
Die Staatengemeinschaft hat mit der Uniting-for-Peace-Resolution ihren Willen bekundet, sich an der Lösung des Russland-Ukraine-Konflikts zu beteiligen. Will sie ihrer Verantwortung für den Weltfrieden gerecht werden, sollte sie es nicht bei dieser Willensbekundung belassen.
Prof. Dr. Elvira Rosert is Guest Professor for International Relations at the Freie Universität Berlin. Regularly, she is Junior Professor for International Relations at Universität Hamburg and at the Institute for Peace Research and Security Policy. She published a book on the evolution of the norm against cluster munitions, and several articles on humanitarian arms control, inter alia, in the European Journal of International Relations, the Review of International Studies, and in Contemporary Security Policy.