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Sicherheit um jeden Preis?

Digitale Gewalt, vertrauliche Kommunikation und die EU-Chatkontrolle – Eine feministische Perspektive

26.11.2025

Die aktuelle Diskussion über die „EU-Chatkontrolle“ verdeutlicht ein zentrales Spannungsfeld des Sicherheitsrechts: Was als Maßnahme zum besseren Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt vorgeschlagen wurde, ist zu einem Streitpunkt über die Grenzen staatlicher Überwachung, die Zukunft privater Kommunikation und die Wahrung digitaler Grundrechte in Europa geworden. In diesem Konflikt dient das Ziel, gefährdete und marginalisierte Gruppen schützen zu wollen, als Legitimation für die Ausweitung staatlicher Überwachungsbefugnisse.

In dieser primär datenschutzrechtlich geprägten Debatte zeigt sich ein grundlegendes Dilemma: Wie lässt sich digitale sexualisierte Gewalt bekämpfen, ohne die in der EMRK und der EU-Grundrechtecharta verankerten Freiheitsrechte zu untergraben? Welche Verantwortung tragen die Staaten, wenn die Ablehnung von Überwachungsmaßnahmen das Risiko birgt, Betroffene ungeschützt zu lassen? Besonders aus feministischer Perspektive geht es dabei nicht nur um die Frage, wie viel Freiheit die Sicherheit letztlich kosten darf, sondern wie Sicherheit Freiheit vergrößern kann. Dieser Beitrag argumentiert, dass der wirksame Schutz vor digitaler Gewalt nicht in der Ausweitung staatlicher Kontrolle liegt, sondern durch eine Stärkung von Rechten, institutioneller Verantwortung und effektiver Schutzmaßnahmen erreicht werden kann. Freiheit und Sicherheit stehen hier nicht im Widerspruch, sondern bedingen einander.

Hintergrund: Der Gesetzesentwurf im Überblick

Der Verordnungsentwurf Europäischen Kommission zur Einführung einer „Chatkontrolle“ (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern) sieht vor, dass Anbieter von Kommunikationsdiensten verpflichtet werden können, Inhalte automatisiert auf Anzeichen von Kindesmissbrauch zu scannen. Auch verschlüsselte Kommunikation wäre hiervon betroffen.

Zuletzt hatten sich einige EU-Länder, darunter auch Deutschland, im Rat gegen den aktuellen Vorschlag der dänischen Ratspräsidentschaft und damit auch gegen eine verpflichtende Kontrolle von Kommunikationsinhalten ausgesprochen. Maßgeblich waren dabei in Deutschland der Hinweis auf den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation (Art. 10 Abs. 1 GG) und die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung bzw. Achtung des Privatlebens (Art. 7 und 8 GrCh).  Die für den 14. Oktober geplante Abstimmung im Rat der EU-Mitgliedstaaten wurde daraufhin verschoben.

Ein nun im Raum stehender neuer Vorschlag Dänemarks sieht vor, die derzeit bis April 2026 geltende temporäre Ausnahmeverordnung perspektivisch abzulösen. Diese erlaubt es – als Ausnahme vom Kommunikationsgeheimnis – Anbietern bislang, freiwillig Inhalte auf Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu überprüfen. Die in den Artikeln 7 bis 11 des ursprünglichen Entwurfs vorgesehene Aufdeckungspflicht wies Anbieter dagegen an, automatisiert alle Inhalte zu scannen und auf das Anzeichen von Missbrauch zu prüfen. Im neuen dänischen Kompromissvorschlag ist diese Pflicht nicht mehr enthalten, während die Möglichkeit des Scannens weiterhin erhalten bliebe – die Chatkontrolle wäre somit dauerhaft als freiwillige Entscheidung der Anbieter ausgestaltet.

Datenschutz zwischen Schutz und Risiko – wer profitiert, wer verliert?

Datenschutz kann ein zweischneidiges Schwert sein. Einerseits schützt er vor staatlicher und privater Kontrolle und stärkt die informationelle Selbstbestimmung – ein besonders wichtiges Anliegen für Gruppen, die ohnehin verstärkt Beobachtung und Bewertung ausgesetzt sind, etwa Frauen, queere Personen und sonstige marginalisierte Gruppen. Andererseits wird Datenschutz auch als Argument genutzt, um sich gegen Maßnahmen zur Bekämpfung digitaler Gewalt zu wehren oder diese abzuschwächen. So können etwa Unternehmen geltend machen, dass umfassende Scan- oder Kontrollpflichten die Privatsphäre ihrer Nutzerinnen verletzten, und Staaten oder politische Akteure können diese Argumentation aufgreifen, um Überwachungsmaßnahmen zu begrenzen. Feministische Ansätze betonen, dass Schutzrechte so ausgestaltet sein sollten, dass Freiheit und Sicherheit miteinander in Einklang stehen, ohne bestehende Machtstrukturen zu reproduzieren.

Digitale Gewalt tritt in vielen Formen auf. Dazu gehört bildbasierte sexualisierte Gewalt, wie der Anfertigung und Verbreitung von Deepfakes sowie nicht einvernehmliche Intimaufnahmen, Erpressung mit intimen Bildern oder Videos (sog. „Sextortion“) oder Upskirting, und auch Cyberstalking oder Hatespeech. Sie ist eng mit sozialen Machtstrukturen verbunden, die sich in Intimbeziehungen, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit noch weiter manifestieren können (vgl. Frauenhaus-Koordinierung e.V.). Studien zeigen, dass Frauen und marginalisierte Personen überproportional von digitaler sexualisierter Gewalt betroffen sind (vgl. EIGE, Gewalt im Internet gegen Frauen und Mädchen, S. 1 ff. sowie bff, Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung, S. 17 ff.).

Diese Formen der Gewalt können nicht nur das Recht auf Privatsphäre nach 8 EMRK und Art. 7 und 8 der GrCh beeinträchtigen, sondern berühren auch das Diskriminierungsverbot aus Art. 21 und 23 der GrCh. Ergänzt werden diese Verpflichtungen für Vertragsstaaten der Istanbul-Konvention durch die darin enthaltene Verpflichtung, Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen zu verhindern, zu bestrafen und zu bekämpfen. Auch der EGMR hat in Fällen wie M.Ș.D. v. Romania oder Buturugâ v. Romania deutlich gemacht, dass die Verpflichtung der Staaten zum wirksamem Schutz gegen geschlechtsspezifische Gewalt auch digitale Kontexte umfasst.

Damit wird digitaler Gewaltschutz zu einer menschenrechtlichen Verpflichtung, die über eine bloße politische Aufgabe hinausgeht. Die Staaten sind dafür zuständig, Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine effektive Verwirklichung dieser Rechte ermöglichen.

Zwischen Überwachung und Verantwortung – die feministische Gratwanderung

In der feministischen Rechtswissenschaft wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Freiheitsrechte nicht isoliert betrachtet werden können, sondern in sozialen und rechtlichen Kontexten stehen (vgl. Charlesworth/Chinkin, Fineman und MacKinnon). Autonomie entsteht demnach nicht allein durch Abwesenheit von Eingriffen, sondern auch durch die Existenz von Schutzstrukturen, die Handlungsmöglichkeiten sichern. Aus dieser Perspektive lassen sich staatliche Schutzpflichten, wie etwa solche gegen Gewalt oder digitale Integrität als notwendige Rahmenbedingungen für die Realisierung von Freiheit verstehen, selbst wenn sie mitunter in Freiheitsrechte eingreifen. Ob und in welchem Umfang diese Eingriffe gerechtfertigt sind, ergibt sich letztlich aus einer sorgfältigen Abwägung zwischen Schutzbedürfnis und Freiheitsrecht. Die Maßnahmen sollen die Realisierung von Freiheit ermöglichen, ohne sie dabei unverhältnismäßig stark einzuschränken.

Technische und repressive Maßnahmen wie Überwachung garantieren dabei nicht automatisch wirksamen Schutz. Vielmehr können anlasslose digitale Kontrollen, wie sie im Rahmen der Debatte um die EU-Chatkontrolle diskutiert werden, die Grundrechte der Nutzer*innen erheblich beeinträchtigen und darüber hinaus unbeabsichtigte „Chilling Effects“ auf die Kommunikationsfreiheit erzeugen, also eine Abschreckungswirkung, durch die Menschen ihre Kommunikationsfreiheit aus Angst vor Überwachung einschränken (vgl. Gesellschaft für Freiheitsrechte). Solche Effekte betreffen insbesondere Personen, die ohnehin stärker Beobachtung, Bewertung oder Kontrolle ausgesetzt sind, etwa Frauen, queere Menschen oder marginalisierte Gruppen. Zudem können sie dazu führen, dass Gewalt weiterhin primär als individuelles Risiko betrachtet und die strukturelle Komponente verkannt wird.

Die Vorstellung, dass Überwachung der alleinige Weg zu mehr Sicherheit sei, greift daher zu kurz. Technische Kontrolle kann Prävention nicht ersetzen; sie verlagert Verantwortung von strukturellen Lösungen hin zu individuellen oder technischen Maßnahmen. Während Überwachungsmaßnahmen wie die Chatkontrolle ein falsches Versprechen von Sicherheit abgeben, fehlt es an tragfähigen Alternativen, die Freiheit von Überwachung und effektiven Schutz miteinander versöhnen. Die Ablehnung staatlicher Überwachung darf nicht mit der Ablehnung staatlicher Verantwortung verwechselt werden.

Grundrechte als Ermöglichungsrechte – digitale Sicherheit ohne Freiheitsverlust

Ein wirksamer „positiver digitaler Gewaltschutz“ muss Strukturen schaffen, die Sicherheit gewährleisten, ohne Freiheitsrechte einzuschränken oder patriarchale Kontrolllogiken zu reproduzieren. Dazu gehören klare Pflichten der Plattformbetreiber*innen zur Löschung und Meldung rechtswidriger Inhalte, Schulungen für Polizei und Justiz, Transparenz- und Berichtspflichten, spezialisierte Ermittlungsstellen sowie ein einklagbares Recht auf die Entfernung intimer Aufnahmen – wie es auch Art. 23 und die Erwägungsgründe 50 ff. der EU-Richtlinie 2024/1385 über Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt vorsehen. Diese Maßnahmen schaffen konkrete Handlungsmöglichkeiten für Betroffene, erhöhen die Verantwortlichkeit der Plattformen und Behörden und verhindern so, dass digitale Gewalt ungehindert weiterwirkt und systemische Wirkungen entfaltet. (Feministische) Verantwortung im digitalen Rechtsstaat bedeutet folglich, Schutz und Freiheit nicht als Gegensätze zu denken, sondern als sich ergänzende Voraussetzungen wirksamer Teilhabe und Selbstbestimmung. Gesetzgebung, Plattformen und Gesellschaft sind gleichermaßen gefordert: Sie müssen aktiv dafür sorgen, dass digitale Räume geschützt, inklusiv und rechtsstaatlich gestaltet werden. Die Herausforderung besteht darin, konkrete Schutzmaßnahmen umzusetzen, die Grundrechte ermöglichen, statt sie einzuschränken, und dabei strukturelle Ursachen digitaler Gewalt ernst zu nehmen

Von Eckpunkten zum Schutzkonzept – ein Blick auf Deutschland

Auf nationaler Ebene spiegelt sich dieses Spannungsverhältnis im geplanten Gesetz gegen digitale Gewalt wider, für das bisher lediglich ein Diskussionsentwurf aus der Zeit der Ampelregierung vorliegt. Das Grundgesetz liefert die normative Grundlage, um Freiheit und Sicherheit im digitalen Raum gemeinsam zu denken. Nach Art. 1 Abs. 1 GG ist der Staat verpflichtet, die Würde jedes Menschen zu achten und zu schützen – eine Pflicht, die gerade in der digitalen Kommunikation relevant wird, wenn Gewaltausübung im Netz Würde, Selbstbestimmung oder körperliche Integrität bedrohen. Zugleich verpflichtet Art. 3 Abs. 2 GG den Staat dazu, die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern; in diesem Licht ist geschlechtsspezifische digitale Gewalt auch eine Gleichstellungsfrage.

Effektive Maßnahmen müssen daher grundrechtskonform sein und die digitale Selbstbestimmung und Gleichstellung stärken. Ein bloßes Mehr an Überwachung kann diesem Anspruch nicht gerecht werden. Notwendig sind vielmehr Schutzstrukturen, die Betroffene ernst nehmen und digitale Räume als Teil des öffentlichen Lebens anerkennen.

Schutz und Freiheit als Komplement – Verantwortung im digitalen Rechtsstaat

Feministischer digitaler Gewaltschutz bedeutet, dass Rechte nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern in einem wechselseitigen Verhältnis gedacht werden: Datenschutz schützt nicht nur vor staatlicher Überwachung, sondern ermöglicht wirksame Teilhabe und sichere Kommunikation im Netz durch Schutz vor Entblößung, Veröffentlichung nicht einvernehmlich erstellter Inhalte und vor dem Verlust der Kontrolle über das digitale Ich. Die Debatte um die Chatkontrolle zeigt exemplarisch, dass ein Fokus auf technische Überwachung allein die Verantwortung des Staates von strukturellen Lösungen auf individuelle Kontrolle verschiebt. Verantwortungsvoll gestaltete Schutzarchitekturen im Netz müssen darauf ausgerichtet sein, Freiheit und Sicherheit zu verbinden.

Das Recht sollte dementsprechend nicht nur als Abwehr- sondern auch als Ermöglichungsrecht betrachtet werden, das als Grundlage für sichere und selbstbestimmte digitale Teilhabe dient. Dabei müssen technische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt und bestehende Machtungleichgewichte in den Blick genommen werden. Digitale Räume könne nur dann wirklich sicher werden, wenn Schutzmaßnahmen die Rechte der Nutzer*innen stärken, ohne dabei Autonomie, Privatsphäre oder informationelle Selbstbestimmung zu beschneiden. Nur auf diese Weise kann digitaler Schutz die Grundlage für tatsächliche Freiheit sein.

Autor/in
Patricia Geyler

Patricia Geyler is a PhD law student at Philipps University Marburg. She is researching image-based sexual violence under Prof. Dr. Boris Burghardt and working as a research assistant in emerging technologies at an international business law firm.

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