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Rewriting als Methode

Mit Feminist Judgments zu Push-Backs an Europas Grenzen

14.10.2022

Es war zur Jahrtausendwende, als das Rewriting in der Luft lag. Und das tut es heute wieder. Rewriting steht hier für die Methode, Gerichtsentscheidungen aus spezifischen Perspektiven und Regeln neu zu schreiben. Sie hat ihre Ursprünge in Kanada, wesentlicher Kontext ist die Feminist Judgments Bewegung. Sie stellt feministische Fragestellungen voran. Welches Potenzial die Methode für das Migrationsrecht bringt und warum sich gerade hier der Blick auf die Feminist Judgments Tradition lohnt, behandelt der Beitrag am Beispiel der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache N.D. and N.T. v Spain.

Von der Tradition der Feminist Judgments

„8:00 PM, 27 February 2004—the end of a long day. Ten feminist equality […] activists, lawyers, and academics are sitting around a long table eating pasta and drinking red wine in an Italian restaurant in downtown Toronto. We have spent the day together talking about section 15 of the Charter—recent cases, recent losses“

so eröffnet das Special Issue 2006/18 des Canadian Journal of Women and the Law. Es umfasst sieben Entscheidungen des Supreme Court of Canada, neu geschrieben durch den – an besagtem Pizzeriatisch gegründeten – Women’s Court of Canada. Gleichzeitig symbolisiert die Ausgabe den Anfang einer Bewegung, die unter dem Titel der Feminist Judgments bis heute unzählige Publikationen und Initiativen hervorgebracht hat.

Doch was hat den Women’s Court of Canada bewegt? Geht es nach Diane Majury, war es ein kollektives Gefühl von Frustration – und der kollektive Wunsch, nicht länger frustriert, sondern aktiv zu werden. Section 15 der Canadian Charter of Rights and Freedom war seit rund 20 Jahren in Kraft. Die Bestimmung legt Gleichheitsrechte fest; umfasst ein Gleichheitsgebot und eine Grundlage für positive Maßnahmen zur Gleichstellung. Aus feministischer Sicht repräsentiert sie eine feministische Errungenschaft on books; die Kodifizierung eines Kernanliegens. In Rechtspraxis und Alltag hatte sich für den Women’s Court of Canada jedoch zu wenig bewegt: Lesbische Frauen, Schwarze und Frauen of Color, Arbeiter:innen – zu viele waren noch immer eingeschränkt im Zugang zu Ressourcen, Partizipation, Mobilität. Mit 9/11 erstarkte ein Sicherheitsdiskurs, der neue Ausgrenzungen mit sich brachte. Kurz, es galt zwar formell Gleichheit, material – und insbesondere intersektional – gesehen, lebten jedoch anhaltend in diskriminierenden Lebensrealitäten, was auch ihren Zugang zu Recht beeinträchtigte. Daran störte den Women’s Court of Canada eines im Besonderen: Der Supreme Court of Canada trug aus dessen Sicht Mit-Verantwortung für den Missstand. Seine Judikatur erschöpfe sich in einem formellen Gleichheitsverständnis, der öffentliche Diskurs sei von Unverständnis für das Problem geprägt. Was wollten sie denn noch? Section 15 sei ja in Kraft.

Also beschloss der Women’s Court of Canada die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen: Über das Neu-Schreiben, das Rewriting von Entscheidungen des Supreme Courts sollte ein Judikaturbestand mit materialem Gleichheitsverständnis entstehen. Bereits 2002 war ein Sammelband erschienen, der rassismuskritische Rewritings der US-Supreme Court Entscheidung in Brown v Board of Education enthielt. Nun sollten feministische Erkenntnisse und Errungenschaften eine neue Judikaturlinie inspirieren. Es ging darum zu zeigen, dass ungleiche Verhältnisse kein Schicksal, sondern immer auch (rechtliche) Entscheidung sind – eine Entscheidung, die sich auch anders treffen lässt. Im Fall der Feminist Judgments wurde daraus eine Bewegung, die über die Grenzen des Common Law-Raums weit hinaus geht.

Zu den Push-Backs an Europas Grenzen

Wie verhält es sich nun mit der Situation an Europas Grenzen? Sie gilt als menschenrechtlich prekär, die Positionen zur Teilung der Verantwortung für den Schutz von Geflüchteten scheinen festgefahren. Auf welche Ausgangslage treffen Rewriting Ansätze hier konkret?

Illustrativ lassen sich diese Fragen an einer Entscheidung diskutieren, die im Jahr 2020 für Aufsehen gesorgt hat: N.D. and N.T. v Spain. Ihr Thema sind die Push-Backs oder Hot-Returns am spanisch-marokkanischen Grenzzaun in Melilla. Der Ausgangssachverhalt geht auf das Jahr 2014 zurück, als die Beschwerdeführer:innen gemeinsam mit unzähligen anderen versucht hatten, über die berüchtigte Grenzanlage zu gelangen. Der Versuch missglückte und spanische Behördenorgane wiesen sie unmittelbar – d.h. ohne Gelegenheit, Schutz zu beantragen – nach Marokko zurück. Die wesentliche Begründung: Es hätte legale Zugangswege nach Spanien gegeben und für die Beschwerdeführer:innen hätten keine zwingenden Gründe dagegen gesprochen, diese in Anspruch zu nehmen. Die Entscheidung erging durch die Große Kammer, und die Reaktionen waren so zustimmend wie schockiert und ablehnend. Wichtig ist dazu festzuhalten, dass in N.D. und N.T. keine Entscheidung im Anwendungsbereich des Refoulement-Verbots nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gefallen ist. Unberührt davon sind keine Zurückweisungen in Umstände zulässig, die für die Betroffenen ein reales Risiko von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bedeuten. Das ist durch die Verfahrensgarantien des Art 13. EMRK abgesichert. Im Fall N.D. und N.T. war ein solches Art 3 EMRK – Risiko allerdings im vorangegangenen Verfahren ausgeschlossen worden. Deshalb ging es vor der Großen Kammer ausschließlich um das Kollektivausweisungsverbot des Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zu EMRK, dem – der Judikatur des EGMR entsprechend – ein Recht auf Einzelfallprüfung inhärent ist. Mit der in N.D. und N.T. geschaffenen „illegal access-Ausnahme“ hat dieses Recht nun eine an Europas Grenzen brisante Einschränkung erfahren.

Aus grund- und menschenrechtsbasierter Perspektive lassen sich zwei wesentliche Kritikpunkte identifizieren: Der Gerichtshof habe (1) die tatsächlichen Umstände nicht geboten gewürdigt und sei (2) in wenig überzeugender Weise von seiner Vorjudikatur abgewichen. So hatten die Beschwerdeführer:innen vorgebracht, dass ihnen zwar theoretisch der Grenzübergang Beni Enzar zur Asylantragstellung offen gestanden wäre, die marokkanischen Sicherheitskräfte ihnen jedoch als Staatsangehörige von Mali bzw. der Elfenbeinküste (Subsahara Region) de-facto den Zugang zum Grenzübergang verweigerten. Der EGMR setzte sich mit diesen Vorgängen nicht näher auseinander, da diese dem Beschwerdegegner Spanien nicht zurechenbar wäre. Diese Position stieß umso mehr auf Kritik, als in der Vorjudikatur – anders als im Fall N.D. und N.T. – nur dort Ausnahmen vom Kollektivausweisungsverbot gemacht worden waren, in denen dem Staat die Einhaltung desselben praktisch nicht möglich gewesen wäre, etwa weil die Betroffenen Angaben verweigerten.

Was zeichnet diesen Fall nun aus Feminist Judgments-Perspektive aus? Wo sind Unterschiede, wo Parallelen zu den Problemen, die den Women’s Court of Canada in Bewegung gebracht haben? Welches Potenzial könnte dessen Rewriting Methode hier entfalten?

Rewriting Protection: Technik und Potenziale

Auf den ersten Blick scheinen die Gleichheitsfragen in Kanada mit den Schutzfragen in Europa eines gemeinsam zu haben: Law on books – das geschriebene Recht – und law in action – die Rechtspraxis – scheinen ein Missverhältnis zu bilden. Verbriefter Schutz kommt unzureichend bei Berechtigten an.

Diese Unterscheidung zwischen law on books und law in action ist rechtssoziologisch geprägt und verfügt über idealtypischen Charakter. Dieser Charakter wird im Fall von Höchstgerichten wie dem Canadian Supreme Court oder dem EGMR deutlich: Schutzbereiche werden aufgebaut und eingeschränkt; wie eine Rechtsnorm zu interpretieren ist (Wann umfasst das Kollektivausweisungsverbot ein Recht auf Einzelfallprüfung?), welche Sachverhalte daher als entscheidend zu werten sind (Sind ungleiche Startbedingungen maßgeblich?) und wie sich diese Fragen zur Vorjudikatur verhalten (z.B. bei Ausnahmen vom Kollektivausweisungsverbot), sind Fragen, die sich vor Höchstgerichten selten strikt nach law on books und law in action trennen lassen. Über die – hier besonders sichtbare – schöpferische Dimension von Rechtsprechung, das Verhandeln von Bedeutungsgehalten, bewegen sich die beiden Elemente in einer prozesshaften Beziehung. Ob und inwiefern ein Auseinanderklaffen zwischen möglicher und tatsächlicher Auslegung ein Missverhältnis bilden, ist eine Wertungsfrage, die sich aus der rechtssoziologischen Frage nach der Beziehung von law on books und law in action allein nicht beantworten lässt.

Eine entsprechend normative Einordnung von law on books und law in action im Fall der illegal-access Ausnahme lässt die hier vorgestellte Feminist Judgments Perspektive zu. Ausgehend vom Befund des Women’s Court of Canada liegt eine vergleichbare Problemstellung vor: Vergleichbar mit dem verwehrten Zugang zu Gleichberechtigung aufgrund von sexueller Orientierung oder etwa Klasse verwehrten Nationalität bzw. Race/Rasse der Beschwerdeführer:innen im Fall N.D. und N.T. den Zugang zum Grenzübergang Beni Enzar und damit letztlich eine erfolgreiche Beschwerde gegen den von ihnen monierten Verstoß gegen das Kollektivausweisungsverbot. Die Rechtspraxis entspricht der gewünschten Lesart der Norm nicht und verstellt damit gleichen und effektiven Zugang zum Recht. Diesem Problemaufriss liegt eine theoretisch basierte Unterscheidung von formeller und materialer Gleichheit zu Grunde und ein normativer Anspruch auf den Ausgleich von tatsächlichen – intersektionalen – Nachteilen, auf materiale Gleichheit; auch im Sinn effektiven und glaubwürdigen Rechtssystems. Formale Verständnisse von Gleichheit und Schutz können in einer ungleichen Welt im Ergebnis Ungleichheit und Ausschluss verfestigen. Kritische Rechtszugänge richten darauf ihren Fokus und fließen damit von jeher in feministisches Rewriting ein.

„[D]rawing on [your] own knowledge of feminist methods and theories, but bound by the facts and the law that existed at that time“, bringt das US Feminist Judgments Projekt in diesem Sinn einen wichtigen Grundsatz des Rewritings auf den Punkt. Er stellt nicht nur die Verbindung zum feministischen Erkenntnisstand her, sondern setzt dem Rewriting entscheidende Grenzen. Über die Bindung an die Rechts- und Tatsachenlage zum historischen Entscheidungszeitpunkt lässt sich zeigen, was schon dem Women’s Court of Canada ein Anliegen war: Feministische, gleichheitsorientierte Ansätze sind keine neuen Schlaglichter einer – zugeschrieben – woken Bubble. Sie sind dem laufend gebrochenen Versprechen des modernen Rechts inhärent. Mit der Methode des Rewritings lassen sie sich entsprechend frei legen und in den Fokus der Aufmerksamkeit stellen; und das in konkreter und praxisrelevanter Weise. Das kann gerade in verfahrenen Diskussionen entscheidende Anstöße geben. Im Fall von Europas Grenzen bietet ein Rewriting Ansatz Zugang zu alternativen Perspektiven aus Sicht der Rechtsunterworfenen. Im Zentrum steht dann nicht die Allokation, die Frage, wie Staaten – wie Marokko und Spanien oder die Staaten des Dublin-Übereinkommens – die Verantwortung für den Schutz von Geflüchteten untereinander aufteilen. Im Zentrum steht die Frage nach material gleichem – effektivem – Schutz für die Betroffenen, auch durch Gerichte. Mögliche Ansätze für Rewritings sind breit gefächert: Von rekonstruierten Judikaturpfaden (illegal access Ausnahme) über intersektionale Auseinandersetzungen mit dem Verbot der Kollektivausweisung bis hin zu Ansätzen, die Staaten in der Verantwortung für Fluchtblockaden sehen (Anna Lübbe). Die Methode des Rewriting und die Tradition der Feminist Judgments Bewegung stehen im deutschsprachigen Raum an ihren Anfängen – zum Beispiel hier in Berlin. Das Migrationsrecht bietet dafür brisante Problemstellungen.

Autor/in
Petra Sussner

Petra Sussner works as a post-doctoral researcher at the Humboldt University of Berlin and coordinates the DFG research project „Claiming a Common World? Gender in Environmental Law and Climate Litigation”. At the Center for Interdisciplinary Research at Bielefeld University, she convenes the cooperation group Normative Challenges of the European Asylum System.

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