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Das Internetgrundrecht zwischen Völkerrecht, Staatsrecht und Europarecht (II)

09.10.2015

In Teil I habe ich gezeigt, dass das Völkerrecht den Internetzugang in beiden Dimensionen – Zugang zum Internet (Infrastrukturdimension) und Zugang zu Internetinhalten (Inhaltsdimension) – schützt. Ein Recht auf Internetzugang (oder kürzer: ein Recht auf Internet) ist Vorbedingung der Realisierung aller anderen Menschenrechte über das Internet. Es setzt jedoch zumindest eine grundlegende staatlich garantierte Kommunikationsinfrastruktur voraus. Nationales Verfassungsrecht, Völkerrecht und auch Europarecht spielen hier ineinander.

In einigen Staaten ist Recht auf Internetzugang gesetzlich festgeschrieben oder lässt sich dogmatisch ableiten. Im Fall Yıldırım v. Türkei bestätigte der EGMR, dass ein Recht auf Internetzugang dem Recht auf Zugang zu Informationen und Kommunikation, das durch nationale Verfassungen geschützt wird, eingeschrieben ist: „It can therefore be inferred from all the general guarantees protecting freedom of expression that a right to unhindered Internet access should also be recognised” (Rn 31).

Die völkerrechtlichen (und europarechtlichen) Verpflichtungen stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen Deutschland die Sicherung des Internetzugangs garantierten muss. Verantwortliche Staatsorgane sind aufgerufen, nicht nur passiv auf Entwicklungen des Völkerrechts zu warten und diese dann zu rezipieren, sondern aktiv an deren Bewältigung mitzuwirken (Tomuschat in HStR XI, 20133, § 226 Rz 4). Das bestätigt auch das äußerst (pro)aktive BVerfG: „Dem Gesetzgeber steht ein Gestaltungsspielraum zu […]; [dabei] ist er auch durch völkerrechtliche Verpflichtungen gebunden“ (BVerfG, 1 BvL 10/12 vom 23.7.2014, Rn. 74; aber auch schon in 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 vom 18.7.2012, Rn. 94). Was dem Völkerrecht über Internetzugang zu entnehmen ist, ist also relevant für die staatsrechtliche Ausgestaltung des Rechts auf Internet.

Vertrauen ins (Kommunikations)System?

Das Grundgesetz schützt primär subjektive Rechte, aber diesen sind grundrechtsdogmatisch entwickelte Gewährleistungspflichten eingeschrieben: objektiv-rechtliche Aufträge also, eine Infrastruktur als Vorbedingungen zur Ausübung der Kommunikationsrechte zur Verfügung zu stellen. Dem status negativus der Grundrechte – es besteht ein Recht auf „unbehinderten“ Zugang, wie im Fall Yıldırım – kann also ein Anspruch auf Gewährleistung eines Zugangs zur Seite gestellt werden. Konturen dieser Gewährleistungsgarantie lassen sich aber aus mehreren Entscheidungen Karlsruhes ableiten, die zusammen gelesen werden können.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2008 geurteilt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme einschließt. Der Fokus lag zunächst auf dem status negativus der Grundrechtswirkung: „Der Einzelne ist darauf angewiesen, dass der Staat die mit Blick auf die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung berechtigten Erwartungen an die Integrität und Vertraulichkeit derartiger Systeme achtet.“ (Rn 181)

Achten und gewährleisten

Der Staat muss „achten“, darf also nicht ungerechtfertigt eingreifen: die Achtung von Grundrechten ist dem status negativus klassisch eingeschrieben. Aber im Urteil geht um mehr – eben um die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Der Einzelne ist zu seiner Persönlichkeitsentfaltung angewiesen auf die Nutzung informationstechnischer Systeme (Rn. 200). Er hat ein Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit solcher Systeme, wenn im Gesetz Eingriffsermächtigungen bestehen, „die allein oder in ihren technischen Vernetzungen personenbezogene Daten des Betroffenen in einem Umfang und in einer Vielfalt enthalten können, dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten“ (Rn. 203).

Das muss der Staat gewährleisten. Entsprechende Gesetze müssen unter anderem den Geboten der Normenklarheit und Normenbestimmtheit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.

Diese Gewährleistung muss lückenlos sein. Daher entwickelte das BVerfG auch das ‚neue‘ Grundrecht: „Einer solchen lückenschließenden Gewährleistung bedarf es insbesondere, um neuartigen Gefährdungen zu begegnen, zu denen es im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und gewandelter Lebensverhältnisse kommen kann“ (Rn. 169).

Jeden Tag ins Internet

Mit der Technologie muss sich auch die Interpretation von Normen wandeln. Wie schon das BVerfG 2008 mit leicht anderer Terminologie („zentrale Bedeutung“ der Informationstechnik für die „Lebensführung“ vieler Bürger [Rn 171]) hat der BGH 2013 bestätigt, wie wichtig das Internet ist: Der „überwiegende Teil der Einwohner Deutschlands“ bediene sich täglich des Internets. Das Internet ist ein für die Lebensgestaltung prägendes Medium, dessen „Ausfall sich signifikant im Alltag bemerkbar macht“ – wer umzieht und Probleme mit dem neuen Internetanschluss hat (oder im ICE seine E-Mails checken will), wird das bestätigen können. Doch hat das Faktische normative Kraft?

Ein Recht auf Zugang lässt sich in der Tat dogmatisch als objektiv-rechtliche Grundrechtswirkung sowohl als eigenständiges Recht umfasst vom Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 1 GG) aber auch als rechtlich geschützte Vorbedingung der Ausübung anderer Rechte konstruieren (dies umfasst auch den Systemschutz, wie Hoffmann-Riem, JZ 2/2014, 53 zeigt.)

Angesichts der zentralen Rolle, die das Internet inzwischen einnimmt, entspricht diese Grundrechtswirkung einer positive Leistungspflicht des Staates: ein unmittelbar verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Das Existenzminimum, so das BVerfG im Hartz IV-Urteil, umfasst die „Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ (Rn 135). Wie Karlsruhe so schön schreibt: „Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält.“ (Rn. 136)

Noch einmal, weil es so wichtig ist: ein konkreter Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber einem Leistungsträger.

Zwischenmenschliche Beziehungen werden angesichts der Kommunikationsmöglichkeiten der Informationsgesellschaft maßgeblich über das Internet gepflegt. Es liegt am Gesetzgeber, die „jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten“ zu beachten und „die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt.“ (Rn. 138) Erst 2014 führte Karlsruhe dann erneut aus, dass das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum der „Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber“ bedarf.

Diese müsse ausgerichtet sein „an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe der Betroffenen“ (Rn. 74). Und wer könnte leugnen, dass die Kommunikationsbedürfnisse zu den Bedingungen der Informationsgesellschaft nur mittels des Internets erfüllt werden können? Es besteht also ein individuelles Recht auf Internetzugang, um am kommunikativen Leben teilhaben zu können, das mittels konkretem Leistungsanspruch durchgesetzt werden kann.

 

Teil III wird sich der Frage widmen, ob dieses Grundrecht ein Menschenrecht ist – also die Übertragbarkeit der eben angestellten Überlegungen auf Flüchtlinge in den Fokus rücken. Die kurze Antwort: Ja.

 

Dr. Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard), ist Post-Doc Fellow am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main und arbeitet zu Recht und Macht im Internet und bloggt. Der Beitrag beruht auf einem Gutachten des Verfassers zum „Völkerrecht des Netzes“ für die Friedrich-Ebert-Stiftung, das bei der #DigiKon15 in Berlin am 25.11.2015 vorgestellt wird.

 

Cite as: Matthias C. Kettemann, “Das Internetgrundrecht zwischen Völkerrecht, Staatsrecht und Europarecht (II)”, Völkerrechtsblog, 9 October 2015, doi: 10.17176/20170920-161818.

Autor/in
Matthias C. Kettemann

Matthias C. Kettemann ist Forschungsp­rogrammleiter am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI), Forschungsgruppenleiter am Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft, Berlin und am Sustainable Computing Lab der Wirtschaftsuniversität Wien und Vertretungsprofessur für Völkerrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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