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Ungleichheit ist die wahre Pandemie

29.07.2020

Die aktuelle, durch COVID-19 verursachte globale Krise hat nicht nur die Schwäche des hegemonialen globalen Wirtschaftsmodells, sondern auch die dringende Notwendigkeit aufgezeigt, die Verteidigung der Menschenrechte aus einer transnationalen Perspektive zu überdenken. Seit mehr als 40 Jahren sind wir Zeug*innen eines Rückschlags beim Schutz und bei der Wahrung der Menschenrechte, insbesondere der kollektiven Rechte von Frauen, Arbeitnehmer*innen und indigenen Völkern. Beunruhigend ist vor allem, dass die Ungleichheit in fast allen Teilen der Welt zugenommen hat, sowohl zwischen den Ländern des globalen Südens und Nordens als auch zwischen verschiedenen Regionen innerhalb dieser Länder, was sich wiederum speziell auf die Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte ausgewirkt hat.

Frauen, Arbeiter*innen und indigene Völker gehören zu den verwundbarsten Gruppen, die mit der durch COVID-19 verursachten Krise konfrontiert sind. Diese Verwundbarkeit ist jedoch nicht auf diesen besonderen Kontext des Virus zurückzuführen, sondern vielmehr auf strukturelle Bedingungen der Prekarität und Armut, die sich in den letzten Jahrzehnten verschlechtert haben und die Wahrnehmung fundamentaler Rechte behindern.

Gewalt gegen Frauen ist eine globale Pandemie, die sich seit dem weltweiten Ausbruch von COVID-19 noch verschärft hat. So berichtet das WHO-Regionalbüro für Europa von einer sechzigprozentigen Zunahme von Notrufen und Beschwerden im Zusammenhang mit innerfamiliärer Gewalt im Vergleich zum April 2019 und geht davon aus, dass bis zu 31 Millionen weitere Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt auftreten werden, wenn die Sperrmaßnahmen noch sechs Monate länger in Kraft bleiben. In Mexiko hat das Nationale Netzwerk der Frauenhäuser seit Beginn der Abriegelungsmaßnahmen im März 2020 eine sechzigprozentige Zunahme der Telefonanrufe und der Anträge von Frauen auf Unterbringung verzeichnet. Das Exekutivsekretariat des Nationalen Öffentlichen Sicherheitssystems (Executive Secretariat of the National Public Security System) berichtete von einer zwanzigprozentigen Zunahme der Notrufe im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt, und pro Tag wurden im März 2020 zehn Frauen ermordet.

Insbesondere in Ländern des globalen Südens wird das Recht von Arbeitnehmer*innen auf menschenwürdige Arbeit und andere damit verbundene Rechte weiter ausgehöhlt. Weltweit haben Unternehmen von Outsourcing und temporären Arbeitsmigrationsprogrammen profitiert. Diese Modelle versuchen, die Beziehung zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen und damit den Zugang letzterer zu den Menschenrechten zu behindern oder gänzlich zu verwehren, wie z.B. einen angemessenen Lohn zu verdienen, Zugang zu sozialer Sicherheit und die Möglichkeit zu Kollektivverhandlungen und Vereinigungsfreiheit, um nur einige zu nennen.

Was die indigenen Völker betrifft, so gab es anhaltende Bemühungen, ihr Land und Territorium zu privatisieren, insbesondere dort, wo ihre Rechte auf Land und Eigentum anerkannt werden (kollektiv oder individuell wie z.B. in Mexiko). Diese Situation erlaubt es mineralgewinnenden Unternehmen, sich ihren unternehmerischen Sorgfaltspflichten für Menschenrechte zu entziehen, während sie gleichzeitig die Arbeitsrechte nicht vollständig schützen und der Umwelt irreversible Schäden zufügen.

Leider sind Frauen, Arbeiter*innen und Indigene oft nicht in der Lage, den Staat um den Schutz ihrer Rechte zu ersuchen. Einerseits, weil Staaten und ihre Institutionen häufig von den wirtschaftlichen Eliten vereinnahmt werden, und andererseits, weil wir den Aufstieg autoritärer Führer*innen mit einer klaren Agenda erleben, in der Minderheiten keine Rolle zu spielen scheinen. Die Folge ist die Verschlechterung der Qualität unserer demokratischen Systeme, die zum Teil mit der Zunahme und Verschärfung der Ungleichheiten zusammenhängt. Von Trumpism in den USA über Bolsonaro in Brasilien und Modi in Indien bis hin zu Johnson im Vereinigten Königreich begünstigt die aktuelle politische Agenda den Raubbau an natürlichen Ressourcen und die Ausbeutung der Arbeitskraft der Arbeiter*innen, trotz der wissenschaftlich fundierten und konsistenten Informationen, die wir über den Klimawandel und jetzt über die humanitäre Krise nach der COVID-19-Pandemie haben.

Gibt es in diesem Zusammenhang noch Möglichkeiten für die Verteidigung der Menschenrechte? Wenn ja, welche Rolle können wir als Verteidiger*innen derselben spielen? Werden der gegenwärtige völkerrechtliche Rahmen und die regionalen und universellen Menschenrechtsmechanismen im Zusammenhang mit COVID-19 in der Lage sein, künftigen Herausforderungen zu begegnen? Kann internationale Solidarität vor Ort einen wirklichen Einfluss auf die Verteidigung der Menschenrechte haben? Wenn nicht, was könnte ein neues alternatives Paradigma für ihre Durchsetzung sein?

Die Bewältigung der Verwundbarkeit von Frauen, Arbeiter*innen und indigenen Völkern erfordert einen radikalen Wandel des Wirtschaftsmodells, der wiederum eine politische Bewegung erfordert, die sich ausdrücklich für die Menschenrechte einsetzt und deren Aufbau im besten Fall Jahrzehnte dauern wird. Bis heute sehen wir allgemein eine Reihe von Regierungsmaßnahmen, die darauf abzielen, die globalen Wirtschaftseliten durch Steuererleichterungen zum Nachteil der Schwächsten und von COVID-19 am stärksten betroffenen Gruppen zu begünstigen.

In diesem Szenario könnte es Alternativen geben, bei denen die Rolle der Menschenrechtsverteidiger*innen entscheidend ist. Die Formung globaler sozialer Bewegungen, die sich für die Verwirklichung des Rechts auf eine saubere und gesunde Umwelt, das Recht auf Land, Ernährungssouveränität und -sicherheit, das Recht auf menschenwürdige Arbeit und soziale Sicherheit, auf Zugang zu Informationen und auf qualitativ hochwertige Bildung ohne Diskriminierung einsetzen, kann diese die Möglichkeiten schaffen und die Menschen befähigen, ihre Rechte zu verwirklichen. Die gegenwärtige Situation erfordert auch alternative Formen der Koordination zwischen Organisationen des globalen Nordens und des globalen Südens: eine echte, genuine Zusammenarbeit, die auf die Bedürfnisse von Kollektiven und organisierten Gemeinschaften eingeht.

Diese Art der Zusammenarbeit könnte nicht nur dazu beitragen, das strukturelle Versagen von Staaten beim Schutz der Menschenrechte zu identifizieren, sondern auch wirksame Maßnahmen zur Einhaltung unternehmerischer Sorgfaltspflichten durch umfassende transnationale Strategien festlegen. Unser Ziel muss es sein, das Machtgefälle zwischen den wirtschaftlichen Eliten und den verwundbarsten und ärmsten Teilen der Gesellschaft zu verringern und das, was diese Gruppen wieder und wieder erklären, auf der internationalen öffentlichen Tagesordnung sichtbar zu machen: “die wirkliche Pandemie ist die Ungleichheit”.

 

Alejandra Ancheita ist die Gründerin und Exekutivdirektorin des in Mexiko-Stadt ansässigen ProDESC-Projekts (The Economic, Social and Cultural Rights Project). Als Anwältin und Aktivistin kämpft sie für die Rechte von Migrant*innen, Arbeiter*innen und indigenen Völkern in Mexiko und setzt sich dafür ein, deren Lebensrealitäten deutlich zu verbessern.

Dieser Text erschien hier im spanischen Original. Translated by Michael Bader.

 

Cite as: Alejandra Ancheita, “Ungleichheit ist die wahre Pandemie”, Völkerrechtsblog, 29. Juli 2020, doi: 10.17176/20200729-115605-0.

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Alejandra Ancheita
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