Statt dem Keil der Selbstverteidigung das feine Messer der Nothilfe
Militärischer Schutz für Handelsschiffe
Die Pflicht zur Hilfeleistung auf See ist eine seit langem etablierte Regel des Seevölkerrechts, die auf der zentralen Einsicht beruht, dass es auch auf See das Leben zu schützen gilt. Die völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtung für Kapitäne, Personen in Seenot zu helfen, sofern dies ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste möglich ist, wurde in einer Reihe von völkerrechtlichen Verträgen kodifiziert. Was mit Art. 11 der Salvage Convention aus 1910 begann, ist heute in Art. 98 des Seerechtsübereinkommens (SRÜ) von 1982 und im SOLAS-Übereinkommen von 1974 (Kapitel 5, Regulation 33) verankert. Seit den Massenfluchtbewegungen über das Mittelmeer und den damit verbundenen dramatischen Todeszahlen gilt sie als eine der bekanntesten Normen des SRÜ. Die Pflicht zur Hilfeleistung ist aber nicht nur für private und staatliche Seenotrettung von Bedeutung, sondern kann auch als Grundlage für die Bekämpfung von nichtstaatlichen Gewaltakteuren dienen, die auf See fremde Handelsschiffe und ihre Besatzung in Gefahr bringen. Es handelt sich hierbei um einen Vorschlag, der in der Literatur immer wieder bei der Bekämpfung von Piraten (u.A. von Sax, Pross, Trésoret, Stehr) vorgebracht wurde und den es nun auf einen anderen Sachverhalt zu übertragen gilt.
Militärischer Geleitschutz durch die Operation Aspides
Der Anlass ergibt sich aus der rechtlichen Debatte um die Angriffe der Huthi auf Handelsschiffe und die europäische Gegenreaktion, die in der Operation EUNAVFOR ASPIDES zu sehen ist. Im Gegensatz zur Operation Prosperity Guardian ist diese explizit “defensiv” ausgerichtet und verzichtet auf die völkerrechtlich umstrittenen (siehe Buchan, Henderson, Brassat, Talmon) Angriffe auf Huthi-Landstellungen. Was “defensiv” in diesem Kontext meint, konkretisiert sich in Art. 1 (5) des Beschluss des Rates 2024/583. So gibt das EU-Mandat drei Zwecke vor: a) die Begleitung von Schiffen, b) die Sicherstellung einer “maritimen Lageerfassung”, und c) Schiffe vor Angriffen auf See unter Achtung des Völkerrechts zu schützen. Wie c) nahelegt, meint eine defensive Ausrichtung also nicht, auf den Gewalteinsatz per se zu verzichten. So bekräftigt auch die Präambel (Rn. 8), dass bei einem “unmittelbar bevorstehenden oder andauernden Angriff auf ihre eigenen Schiffe oder Schiffe von Dritten” die Operation neben seevölkerrechtlichen Verpflichtungen inter alia im Einklang mit dem Recht auf Selbstverteidigung handeln solle. Wie auch Eugenio Carli feststellt, schafft der Beschluss somit eine rechtliche Grundlage, um gegen Angriffe der Huthi unter dem Banner der (kollektiven) Selbstverteidigung (Art. 51 UNCh) vorzugehen. Dass eine Verbindung aus Geleitschutz und einem Rechtsfertigungsgrund für das Gewaltverbot vorliegen muss, ist zunächst naheliegend. Die Verbindung aus Art. 1 (5) a) und c) ist kongruent und logisch zwingend, denn ein militärischer Geleitschutz ohne die Möglichkeit zum Gewalteinsatz ist schließlich ein zahnloser Tiger. Aber braucht es dafür wirklich einen Bezug zur Selbstverteidigung?
Militärischer Geleitschutz zum Schutz eigener Handelsschiffe ist grundsätzlich anerkannt (Stephens & Skousgaard, Rn. 1ff.) – aber den rechtlichen Vorgaben des SRÜ unterworfen. So schließt das Regime der Transitdurchfahrt (Art. 38ff SRÜ) die Gewaltanwendung oder -androhung grundsätzlich aus. Das Gebot friedlicher Durchfahrt scheint so auf den ersten Blick die Handelsschiffe in der Bab el-Mandeb Meerenge (in der ein Großteil der Angriffe stattfinden) schutzlos werden zu lassen, da die Republik Jemen als der zuständige Anrainerstaat seiner Pflicht zur Abwehr der Angriffe der Huthi nicht nachkommen kann oder will. In einer solchen Situation muss der Schutz von Handelsschiffen durch andere Militärschiffe grundsätzlich möglich sein (siehe H. von Heinegg, Kapitel 7, Rn. 65).
Der Rechtfertigungsgrund für den Gewalteinsatz wäre hierbei aber nicht das Recht auf Selbstverteidigung, sondern das Nothilferecht, das für die Hohe See seinen Ausdruck in Art. 98 (1) SRÜ findet. Obwohl diese Norm in seiner ursprünglichen Form für Notfälle infolge einer Naturkatastrophe oder eines Zusammenstoßes auf See gedacht ist, reflektiert sie eine allgemeine Verpflichtung zum Schutz des menschlichen Lebens (u.A., Sax 110). Wie Michael Trésoret (S. 272) anmerkt, ist konsequenterweise die in Art. 98 (1) SRÜ enthaltene Aufzählung als „nicht abschließende Benennung von spezifischen Einzelpflichten“ zu deuten, die grundsätzlich auch auf Angriffe von Seeräubern Anwendung findet (so auch Noyes, Rn.1). Aber nicht nur Piraten, auch andere Angriffe (Noyes, Rn. 1) durch inter alia terroristische Gruppierungen (H. v. Heinegg & Gries, 166) fallen in den Bereich des Nothilferechts. Voraussetzung ist dafür stets, dass eine konkrete Lebensgefahr für mindestens eine Person nach Art. 98 Abs. 1 lit. a) SRÜ vorliegt, die entweder andauert oder unmittelbar bevorsteht (Pross, 115). Diese Gefahr muss im Einzelfall vom Kapitän beurteilt werden – mit Blick auf die Intensivität und Brutalität der Angriffe der Huthi lässt sich eine solche aber konkret annehmen.
Welcher Rechtfertigungsgrund für das Gewaltverbot?
Der Bezug auf das Nothilferecht als Rechtsgrundlage hat einige Vorteile und bekräftigt darüber hinaus den Charakter als “defensive” Mission. Die Problematiken, die mit einer Selbstverteidigung als Rechtfertigungsgrund einhergehen, liegen auf der Hand und wurden bereits vielfach diskutiert (siehe u.A. Fink, Tondini oder Carli). Problematisch scheint diesbezüglich in erster Linie, dass ein Bruch von Art. 2 (4) UNCh nicht als Voraussetzung für Art. 51 UNCh ausreicht. Vielmehr muss ein „bewaffneter Angriff“ vorliegen, der sich gegen einen Staat richtet. Nach dem IGH in Nicaragua v. U.S (para. 195) muss für einen solchen die Gewaltanwendung in puncto „Gravity“ oder „Scale and Effect“ übertroffen werden. Mit Blick auf die UNGA-Resolution 3314 zur Definition der Aggression (Artikel 3(d)) und die IGH-Rechtsprechung in Oil Platforms ist es nicht auszuschließen, dass Angriffe auf Kriegsschiffe als „extraterritoriale Manifestation des Staates“ einen bewaffneten Angriff konstituieren. Bei einzelnen Handelsschiffe gilt das nicht. So klassifiziert die Resolution 3314 nur Angriffe auf die staatliche Flotte als Akt der Aggression. Zwar argumentieren manche Autoren, u.A. Dinstein, dass auch der Angriff auf ein einzelnes Schiff das Recht auf Selbstverteidigung auslösen könnte – im Falle der Huthi ist dies aber abwegig (dazu u.A. Fink). Fraglich ist, ob sich die Angriffe auf vereinzelte Handelsschiffe überhaupt gegen einen spezifischen Staat richten und dabei die Gewalt-Schwelle des IGH erreichen. Anstelle des groben Keils der Selbstverteidigung, könnte deswegen hier das feine Messer der Nothilfe zielgenauer wirken.
Das Nothilferecht zeigt fraglos Überschneidungen mit dem Recht auf Selbstverteidigung. Es folgt aber stets dem “Rettungsgedanken” und nicht dem “Verteidigungsgedanken”. Während der Verteidigungsgedanke auf die Wahrung der eigenen Staatlichkeit abzielt, ist der Rettungsgedanke zurückhaltender und basiert auf dem Schutz einzelner Schiffe und den dahinterstehenden Individuen. Im Kontext von Angriffen auf Schiffe unterschiedlicher Flaggen wäre diese Limitierung vollkommen ausreichend. Anstatt sich auf Selbstverteidigung zu berufen, sollte die EU deswegen den Weg des Nothilferechts gehen. In ihrer Kommunikation sollte sie dabei stärker den notwendigen Schutz des Schiffpersonals betonen, anstatt sich nur abstrakt auf den Schutz von Handelsschiffen zu berufen.
Zwar wären somit zwar der Umfang und die Intensität möglicher Maßnahmen vergleichsweise begrenzt. So schrieb auch der damalige ITLOS-Präsident Rüdiger Wolfrum 2006 (S. 4), dass die Möglichkeit zum „allgemeinen Schutz menschlichen Lebens“ nur eine Begrenzte sei – und mit Blick auf die Piraterie kein Mandat für eine unbegrenzte Unterdrückung der Seeräuberei in einem Gebiet darstelle. Einen unmittelbar bevorstehenden oder noch andauernden Angriff zum Schutz fremder Schiffe abzuwehren, wäre aber rechtens (Sax, 111). Womit sich, dem Wortlaut des Ratsbeschlusses folgend (siehe supra), für die Operation Aspides keinerlei nachteiligen Implikationen ergeben würden. Ganz im Gegenteil wäre dieser Bezug mit Blick auf den Sinn und Zweck der Mission stimmiger. Es würde auch der VNSR-Resolution 2722 (2024) folgen, die aufgrund einem fehlenden Bezug zu Kapitel VII der UNCh keinen Rechtfertigungsgrund für das nach Art. 2 (4) UNCh vorliegende Gewaltverbot darstellt, aber dennoch das Recht zur Verteidigung eigener Schiffe bekräftigt.
Ein universelles Schutzrecht fremder Schiffe
Den Weg des Nothilferechts zu gehen, ist aber nicht nur deswegen zu bevorzugen, weil dieser den Einsatz von Gewalt ohne das Vorliegen eines bewaffneten Angriffes gegen den eigenen Staat ermöglicht. Denn selbst wenn es anzunehmen wäre, dass die Schwelle aus Art. 51 UNCh durch die Intensität der Angriffe auf Handelsschiffe gegeben ist, wäre eine Bindung durch das Flaggenstaatsprinzip zwingend vorausgesetzt (Oil Platforms Case, para. 72). Im Falle der heutigen Schifffahrt, die überwiegend einer Logik von Billigflaggen folgt, fährt kaum ein Schiff unter europäischer Flagge – obwohl rund zwei Drittel aller Firmen in Europa operieren (Raina). Indem die Rechtsprechung des ITLOS eine „echte Verbindung“ des Schiffes zum handelnden Staat formalistisch auslegt (The M/V „Saiga“ (No. 2), para. 83), fällt deshalb die Selbstverteidigung in der Praxis weitgehend aus (siehe u.A. Raina). Als Folge dessen änderten beispielsweise kuwaitische Schiffe in den 90ern Jahren ihre Flagge, um fortan als formell amerikanisches Flaggenschiff durch die Kriegsschiffe der USA vor Luftangriffen des Iran beschützt zu werden. Zwar wäre auch eine kollektive Selbstverteidigung theoretisch denkbar, die dafür notwendigen Ersuchen der jeweiligen Flaggenstaaten wurden aber praktisch bislang nicht geäußert (siehe u.A. Buchan).
Mit Blick auf die strategische Bedeutung von Handelsschiffen ist somit der Rückgriff auf eine Rechtsgrundlage notwendig, die unabhängig vom Flaggenprinzip die Verteidigung fremder Schiffe ermöglicht. Als Alternative zum Nothilferecht wäre hier nur ein Bezug zum Verbot der Seeräuberei und dem daraus erwachsenden Recht aller Staaten zur Bekämpfung der Piraten als hostis humani generis (u.A. Pedrozo) denkbar. Doch selbst bei einer möglichst weiten Auslegung des privaten Zwecks (Art. 100 SRÜ) als reine Negation staatlicher Kontrolle – die ich nicht teile – ist es schwerlich zu argumentieren, dass organisierte Aufständische (hier: die Huthi) als Seeräuber wirken könnten (Wolfrum, Kap. 4 Rn. 51 ff.). Eine solche Ausweitung des „privaten Zwecks“, um das politisch motivierte Handeln von partiellen Völkerrechtsubjekten (zur vr. Klassifizierung der Huthi u.A Nowrat oder Brassat) zu umfassen, würden Sinn und Zweck der Piraterie gänzlich ad absurdum führen.
Im Falle der Operation Aspides wäre die Bekämpfung der Seeräuberei aber ohnehin selten eine geeignete Rechtsgrundlage. Ein Großteil der Angriffe findet schließlich in Küstenmeeren statt, in denen Kriegsschiffe nicht auf die Piraterie-Befugnisse der Hohen See (Art. 105 und 110 SRÜ) zugreifen können. Zwar stimmt es, dass auch die Nothilfe in den Abschnitt über die Hohe See fällt. Dem Wortlaut folgend, ist ihr Geltungsbereich in Art. 98 aber nicht mit „Hoher See“, sondern mit „auf See“ umschrieben (siehe auch Sax, 110f.). Es lässt sich somit vertretbar argumentieren, dass die Möglichkeit eines „assistance entry“ (Shearer, Rn. 33, Sax, 110) für Kriegsschiffe vorliegt. Der Verweis auf die staatliche Souveränität des Anrainerstaats überzeugt an dieser Stelle wegen der bereits dargestellten, fehlenden Hoheitskontrolle der jemenitischen Regierung nicht (darüber hinaus spricht der Antrag der Bundesregierung zur Operation Aspides sogar von einem Einverständnis der Regierung des jeweiligen Anrainerstaats (para. 3. f))). Ein solcher Verweis würde darüber hinaus auch, wie Michael Trésoret schreibt (S. 274), „die zentrale Bedeutung des Nothilferechts für das humanitäre Seerecht (…) und die Zielrichtung, den umfassenden Schutz menschlichen Lebens auf See“ verkennen. Anzumerken bleibt an dieser Stelle aber notwendigerweise, dass von einer zu expansiven Interpretation des Nothilferechts (wie u.A. von Trésoret vertreten) immer dann abzuraten ist, wenn der Anrainerstaat eine effektive Hoheitskontrolle über sein Küstenmeer ausübt. Von einer solchen Leseart auf Kosten staatlicher Souveränität gilt es schon wegen eines Mangels an Staatenpraxis (Sax, 112) abzusehen – im Falle der Huthi ist dies ohnehin nicht notwendig.
Während das Nothilfrecht in der Literatur grundsätzlich von einer Vielzahl von Autoren (inter alia Sax, Nowrat, Stehr, Noyes, Trésoret, H. v. Heinegg, Lerche, Pross) bejaht wird, ist der Schutzbereich des Nothilferechts teilweise umstritten und kann nur als Recht zum militärischen Schutz eigener Schiffe gedeutet werden (u.a. Lerche, 209). So wird auch in der VNSR-Resolution 2722 (2024) ausschließlich der Schutz eigener Schiffe bekräftigt. Im Hinblick auf Art. 98 (1) SRÜ überzeugt es aber nicht, das Nothilferecht als reines Instrument zum Schutz der Seeleute auf Schiffen unter eigener Flagge zu deuten. Eine solche Limitation wäre bei Opfern von Naturkatastrophen oder Schiffzusammenstößen gänzlich undenkbar. Ebenso wenig ist es im Umgang mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren plausibel. Wenn man mit Rüdiger Wolfrum (siehe supra) von der Verpflichtung zum Schutz des menschlichen Lebens ausgeht, ist Art. 98 (1) SRÜ weit auszulegen, um den Schutz von Kapitän und Besatzung auf See (egal welcher Flagge) zu gewährleisten. Insoweit lässt sich eine Parallele zur Evakuierung von Menschen aus dem Ausland bei akuten Krisensituationen ziehen. Auch dort werden militärische Rettungseinsätze nicht auf die eigenen Staatsangehörige begrenzt, worauf u.a. Karsten Nowrot (S. 17) hinweist. Eine zu restriktive Auslegung des Nothilferechts auf See würde dieser Praxis widersprechen.
Es zeigt sich: anstatt sich von Seiten der EU auf Selbstverteidigung zu berufen, wäre zunächst der Rückgriff auf das Nothilferecht kongruenter. Dabei sollte nicht der Schutz des Welthandels, sondern der Schutz des Personals der Schiffe im Zentrum stehen. All dies würde den defensiven Charakter der Mission bestätigen und gleichzeitig der VNSR-Resolution und der humanitären Verpflichtung zum Schutz des Schiffpersonals entsprechen. Im Hinblick auf weitere mögliche Angriffe durch nichtstaatliche Gewaltakteure auf See gilt es sich verstärkt mit dieser Rechtsgrundlage auseinanderzusetzen.
Ich danke Prof. Dr. Ulrich Fastenrath für seine Unterstützung und die zahlreichen Anmerkungen während des gesamten Schreibprozesses.
Nikolai Ott studies International Relations at the Technical University of Dresden. He is a student assistant at the Center for International Studies.