‘Populate or Perish’
Zu den Interessen Australiens und Venezuelas in den Verhandlungen der Genfer Flüchtlingskonvention
Die politische Aushandlung, Formulierung und Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention vor siebzig Jahren ging mit einer rassistisch gefärbten Modernisierungspolitik in Staaten des Globalen Südens einher, die es mitzuberücksichtigen gilt, wenn nach der historischen Herausbildung des modernen Migrationsregimes gefragt wird. Länder wie Australien oder Venezuela engagierten sich aktiv für eine eurozentristische Ausrichtung der Konvention, um dadurch ihre bevölkerungspolitischen Interessen voranzutreiben.
Als die Genfer Flüchtlingskonvention Anfang der 1950er Jahre diskutiert wurde, waren es nicht vornehmlich oder ausschließlich europäische Staaten, die darauf drängten, das international zu lösende ‚Flüchtlingsproblem‘ als ein rein europäisches zu definieren. Auch an der Diskussion beteiligte ehemalige europäische Kolonien, wie Australien, Kolumbien oder Venezuela unterstützten diese Ausrichtung. Der kolumbianische Abgeordnete, so zitiert Ulrike Krauseaus den Verhandlungsprotokollen, vertrat zum Beispiel vehement die Position, in Lateinamerika gebe es keine in der Konvention zu adressierenden ‚Flüchtlingsprobleme‘ und Kolumbien könne der Konvention nicht zustimmen, wenn das ‚Flüchtlingsproblem‘ geographisch über Europa hinausgehend gefasst würde. Der venezolanische Delegierte pflichtete seinem Kollegen bei.
Ulrike Krause hat dabei auf den wichtigen Umstand hingewiesen, dass die beiden lateinamerikanischen Staaten unter anderem internationale Einmischung in ihre regionale Interessensphäre fürchteten. Zu ihren Interessen, so die These des vorliegenden Beitrags, zählte aber auch, Europa ganz aktiv als alleinigen Gegenstand der Genfer Flüchtlingskonvention zu benennen. Rassismus zählte zu den Gründen, warum Staaten wie Australien, Kolumbien oder Venezuela ein ‚Flüchtlingsproblem‘ unbedingt in Europa zu verorten wünschten, zu dessen Lösung sie dann bereit wären beizutragen. Alle drei Länder wollten ein europäisches ‚Flüchtlingsproblem‘ nicht nur deshalb mit lösen, weil sie im Rahmen der Vereinten Nationen als gleichberechtigter Partner wahrgenommen werden wollten, sondern auch weil sie im Zuge der Genfer Flüchtlingskonvention auf europäische Einwanderung hofften, die sie als „weiß“ lasen, und lateinamerikanische beziehungsweise im Fall Australiens asiatische Einwanderung so elegant von sich weisen zu können.
Australien
In den Jahren vor der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention, zwischen 1947 und 1951, hatte Australien im Rahmen des Resettlement-Projekts der International Refugee Organization (IRO) rund 180.000 europäische Displaced Persons (DPs) und Flüchtlinge aufgenommen. Das dünn besiedelte Australien befand sich in einem wirtschaftlichen Modernisierungsprozess. Einwanderung bot sich daher als probates Mittel zur Bekämpfung der Arbeitskräfteknappheit an. Die Aufnahme europäischer Flüchtlinge war im Land dabei aber mit scharfem politischem Streit und öffentlichem Protest einhergegangen. Das nationale Selbstverständnis beruhte auf der Vorstellung einer „weißen Nation“ britischer Einwanderer und mit dem Gedanken, einer großen Zahl osteuropäischer Flüchtlinge die Einwanderung zu ermöglichen, gingen daher politischer Streit und nationalistisch-rassistisches Unbehagen einher. Jayne Persian hat diese Konflikte 2017 eindrücklich dargestellt.
Arthur Callwell, Minister für Einwanderung, wurde in Australien in den 1940er Jahren zum Architekten einer auch rassistisch argumentierenden Migrationspolitik. Das Land müsse dringend weiter bevölkert werden; „populate or perish“, lautete Callwells Devise. Da mit Brit*innen und Amerikaner*innen kriegsbedingt kaum zu rechnen sei, böte sich die Gruppe der osteuropäischen Flüchtlinge und DPs an. Rund 5000 Menschen, die während des Krieges aus Asien und den pazifischen Inselstaaten nach Australien geflohen waren, wurden Persian zufolge trotz der großen Nachfrage nach Arbeitskräften ausgewiesen. Um europäische Flüchtlinge und DPs warb man* nun aber sehr aktiv und in Australien wurde rassistischen Ressentiments mit einer regelrechten Propagandastrategie begegnet. „Australia’s first shipments“, fasst Persian zusammen, „were made up exclusively of the so-called ‚Beautiful Balts‘ – blond, blue-eyed migrants who would slip into a white Australian demographic.“
Als der inneraustralische Konflikt über den Charakter der Einwanderungspolitik gelöst war, warb das Land offensiv um europäische Einwanderer*innen. Diese waren zuvor von der IRO in Europa gesundheitlich versorgt und untersucht und beruflich geschult worden, Mitglieder einer australischen Delegation wählten sie aus und die IRO bezahlte die Schiffspassage; aus australischer Sicht also eine luxuriöse Lösung zur nationalen Modernisierungspolitik.
1951 würde die IRO ihr Resettlement-Projekt jedoch einstellen, eine weitere Versorgung mit europäischen Einwanderer*innen rückte in die Ferne. Was lag dem australischen Delegierten bei den Verhandlungen über die Genfer Flüchtlingskonvention also näher, als zu betonen, Australien wolle auch zukünftig zur Lösung des globalen ‚Flüchtlingsproblems‘ beitragen, vorausgesetzt, dieses werde als europäisch erklärt. Hätte die Konvention auch asiatische Flüchtlingsbewegungen zu ihrer Problemdefinition gezählt, wäre Australien früher oder später in Erklärungsnot darüber gekommen, warum es weiter gerne Europäer*innen, ungern aber geographisch viel näher liegende Asiat*innen hätte aufnehmen wollen.
Venezuela
Venezuelas Motivationen in den Verhandlungen über die Genfer Flüchtlingskonvention waren ähnlich gelagert. Nach dem Tod des seit 1908 regiereden Diktators Juan Vincente Gómez, dem vorerst letzten Caudillo Venezuelas, im Jahr 1935, begann im Land erstmals seit der Unabhängigkeit von Spanien ein Prozess der Staats- und Nationenbildung. Unterstützt wurde dieser Prozess von den enormen Finanzmitteln, über die das Land wegen der 1914 entdeckten, riesigen Ölvorkommen verfügte und die es, nicht zuletzt durch die kriegsbedingte Nachfrage nach Treibstoff in den USA, mittlerweile zum weltweit größten Ölexporteur gemacht hatten. Gleichzeitig war aber auch Venezuela viel zu bevölkerungsarm, um erstens sein gesamtes Staatsgebiet durch Besiedlung aktiv zu beanspruchen und um zweitens die für sein Modernisierungsprojekt nötige Arbeitskräftenachfrage auch nur annähernd decken zu können. Vor allem in der Landwirtschaft fehlten Arbeiter*innen.
Venezuela reagierte seit Mitte der 1930er Jahre mit einer aktiven Einwanderungspolitik auf die Nachfrage nach Arbeitskräften und Ende des Jahrzehnts schickte das Land eine erste Erkundungsmission nach Europa, um zu eruieren, ob es hier Menschen gab, die man* von einem neuen Leben in Venezuela überzeugen könne. Auch hier spielte nicht nur das Wissen um europäische Fluchtbewegungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs eine Rolle, sondern auch eine rassistische Vision der zukünftigen venezolanischen Gesellschaft. Einwanderung aus den benachbarten Karibikstaaten und Asien sollte nach der Vorstellung des 1938 gegründeten Instituto Técnico de Inmigración y Colonización verhindert werden, während es europäische Einwanderung zu befördern galt, basierend auf dem Kriterium der „Rasse, die natürlich weiß (nicht semitisch) und stark an unser Klima und unsere Bevölkerung anpassbar sein muss.“ So formulierte das Institut 1940 seine Politikvorstellungen.
Fündig wurde die venezolanische Delegation zunächst vor allem unter den spanischen Republikaner*innen, die nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg nach Frankreich geflohen waren. Für 1940 berichtete die Mission, knapp 2700 Europäer*innen gefunden zu haben, die zur Umsiedlung nach Venezuela bereit waren. Die Nachfrage war jedoch größer und wegen des Krieges stellte sich die logistische Herausforderung als zunächst unüberwindbar dar. Wie sollten die Menschen technisch nach Venezuela umgesiedelt werden, wo ein ziviler Schiffsverkehr kaum zur Verfügung stand?
Als die IRO 1946/ 1947 ihr Resettlement-Projekt begann, musste Venezuela also nicht zur Aufnahme europäischer Flüchtlinge und DPs überredet werden. Die Türen standen der IRO hier bereits weit offen und Venezuela schien endlich einen Weg gefunden zu haben, sein seit zehn Jahren geplantes europäisches Einwanderungsprojekt in großem Maßstab realisieren zu können. Allein für das Jahr 1947 sagte man* der IRO sofort zu, 17000 Europäer*innen aufzunehmen. Dass diese Zahl schließlich gerade einmal bis 1951 erreicht wurde, als die IRO ihr Projekt einstellte, lag nicht an der mangelnden Bereitschaft zur Aufnahme, sondern erstens an weiterhin bestehenden logistischen Schwierigkeiten zum Beispiel beim Transport, zweitens an wachsenden Vorbehalten auf Seiten der IRO, der immer öfter Klagen von Menschen zu Ohren kamen, die sie in Venezuela resettled hatte und die hier kaum mit den schweren Lebensbedingungen und einer eher planlosen Ansiedlungspolitik zurechtkamen. Drittens erschwerten ständige gewaltsame Machtwechsel in Venezuela eine konsistente Umsetzung der Einwanderungspolitik. Nach dem Tod des Diktators Gómez 1935 hatten zunächst reformorientierte Generäle die Macht übernommen. 1945 stürzten demokratische Kräfte das diktatorische Regime und bereiteten Wahlen vor. 1948 besiegte das Militär wiederum mit einem Putsch die mittlerweile demokratisch gewählte Regierung. Alle Regime wollten die europäische Einwanderung, änderten im Detail aber immer wieder ihre Vorstellungen und Bedingungen und ersetzen für die Einwanderung geschaffene Organisationen und Strukturen.
In den Diskussionen über die inhaltliche Ausgestaltung der Genfer Flüchtlingskonvention kam Venezuela vor diesem Hintergrund also wie Australien die Aufrechterhaltung und Exklusivität eines europäischen ‚Flüchtlingsproblems‘ entgegen. Mit dem zur Verfügung stehenden Ölreichtum hätte man* erfolgreich um Einwanderungswillige aus lateinamerikanischen und karibischen Nachbarstaaten werben können. Die Idee, weiterhin als „weiß“ gelesene Europäer*innen zur Einwanderung bewegen zu können, schien aber wesentlich reizvoller. Vielleicht orientierte man* sich hier auch nicht zuletzt an Argentinien und dem Nachbarland Brasilien, die ihre Staats- und Nationenbildungsprozesse früher begonnen und dabei ihrerseits erfolgreich auf europäische Einwanderungspolitik gesetzt hatten.
Das Migrationsregime aus Perspektive des Globalen Südens
US-amerikanische und europäische Geschichtsschreibung hinterließ lange den Eindruck, die einzigen aktiven Akteur*innen in der Ausgestaltung des modernen Migrationsregimes in den 1930er bis 1950er Jahren seien Staaten des Globalen Nordens gewesen. Akteur*innen aus dem Globalen Norden, so der Anschein, versuchten seit den 1930er Jahren globale ‚Flüchtlingsprobleme‘ zu lösen und Staaten fern Europas – Australien und Venezuela sind hier Beispiele – stellten eher passive Akteur*innen dar, die man* überzeugen konnte oder musste, Europäer*innen aufzunehmen und so zur Lösung des europäischen ‚Flüchtlingsproblems‘ beizutragen. Von der Genese der politisch motivierten Geschichtsschreibung über das moderne Migrationsregime in den 1940er und 1950er Jahren und ihrem politischen Einfluss handelt der erste Teil dieses Beitrags.
Der US-amerikanisch/ europäischen Erzählung gegenüber verfolgten Staaten im Globalen Süden aber in den 1930er bis 1950er Jahren ihrerseits eine auf Einwanderung bauende aktive Bevölkerungspolitik. Sie warteten nicht auf die USA und Europa, um ihnen gute Vorschläge zu machen. Sie folgten vielmehr ihren eigenen Agenden und vertraten diese international mit nicht zu unterschätzendem Nachdruck. Schließlich war das Migrationsregime auf ihre Bereitschaft angewiesen, Migrant*innen aufzunehmen. Vor diesem Hintergrund erstreckte sich ihr Engagement von der Beteiligung an internationalen Initiativen wie der Konferenz von Évian und der Gründung des Intergovernmental Committee on Refugees 1938 über die IRO zwischen 1946 und 1951 bis zur Gründung des UNHCR und der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention Anfang der 1950er Jahre. Aus der Perspektive dieser Staaten waren all diese Initiativen willfährige Mittel zur Realisierung ihrer nicht zuletzt auf rassistischen Vorstellungen basierenden nationalen Modernisierungspolitiken, die sie unabhängig von US-amerikanischem und europäischem Engagement entwickelt hatten, die zwischen den 1930er und 1950er Jahren eigenen Dynamiken folgten und die es durch aktive Interessenvertretung in internationalen Initiativen immer wieder aufrechtzuerhalten galt.
Rassismus ist dabei einer der Erklärungsfaktoren, warum nicht-europäische ‚Flüchtlingsprobleme‘ ab den 1950er Jahren immer schwerer lösbar werden sollten. Dass sich Verhältnisse schließlich auch umkehren könnte, wurde in Ländern wie Venezuela, das sich in den 1950er Jahren in einem unumkehrbaren Modernisierungsprozess wägte, offensichtlich nicht antizipiert. Heute – siebzig Jahre nach der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention – stellt Venezuela nach Syrien das Land mit den weltweit zweitmeisten Flüchtlingen dar.
Ein Aufsatz des Autors zur Rolle Venezuelas bei der Gestaltung des modernen Migrationsregimes ab den 1930er Jahren befindet sich derzeit im Begutachtungsprozess und kann bei Interesse – auch an den zitierten aber in diesem Blog nicht nachweisbaren Archivquellen – gerne zur Verfügung gestellt werden.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „70 Jahre UNHCR und Genfer Flüchtlingskonvention: Globale Entwicklungen“, die gemeinsam durch den Völkerrechtsblog und den FluchtforschungsBlog herausgegeben wird.
Sebastian Huhn, Historiker und Politikwissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Osnabrück und Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Historische Migrationsforschung, Gewalt- und Konfliktforschung, Migration und Gewalt, Diskurse über nationale Identität und Geschichtsbilder sowie Lateinamerikanische Geschichte.