Als eines der zentralen Prinzipien des Seevölkerrechts regelt das Flaggenstaatsprinzip die Verantwortung über Schiffe auf See. Nach Art. 5 (1) des Internationalen Abkommens über die Hohe See von 1958 (IAHS) und Art. 91 (1) des Seerechtsübereinkommens von 1982 (SRÜ) gilt, dass Schiffe die Staatszugehörigkeit des Staates besitzen, “dessen Flagge zu führen sie berechtigt sind”. Diese Berechtigung setzt dabei eine “echte Verbindung” (Art. 91 (1) SRÜ) zwischen Staat und Schiff voraus, die i.V.m. Art. 94 (1) SRÜ dem Flaggenstaat eine wirksame “Kontrolle in verwaltungsmäßigen, technischen und sozialen Angelegenheiten” abverlangt.
Hieraus erwächst die Frage nach der Zugehörigkeit von Schiffen und den damit einhergehenden Rechten und Pflichten der Flaggenstaaten, welche durch die Huthi-Angriffe auf Handelsschiffe seit vergangenem Dezember an völkerrechtlicher Relevanz gewonnen hat. So berufen sich Großbritannien, die USA und auch die Europäische Union (siehe Carli) bei ihren Angriffen gegen die Huthi-Rebellen auf das eigene Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charter. Aber warum sollten ausgerechnet Angriffe der Huthi auf fremde – überwiegend nicht-westliche – Handelsschiffe ein britisches, amerikanisches oder europäisches Recht zur Selbstverteidigung (im Form eines Geleitschutz-Mandates) begründen? Abseits einer (hier nicht ersichtlichen) kollektiven Selbstverteidigung, ist laut dem Internationalen Gerichtshof in Oil Platforms (para. 72) nur die Verteidigung eigener Flaggenschiffe legal.
Kontextualisiert durch die Information, dass bei rund zwei Dritteln aller von den Huthi angegriffenen Schiffe operationelle Strukturen (in Form des Managements oder des Eigentümers) in Europa vorliegen (Raina), könnte dieser vermeintliche Widerspruch allerdings darauf hindeuten, dass formell fremde Schiffe hier als faktisch eigene Schiffe begriffen werden. Eine ähnliche Neuinterpretierung der Zugehörigkeit von Schiffen kann man seit 2022 schon im britisch-kanadischen Umgang mit der Sanktionierung von russischen und nicht-russischen Flaggenschiffen beobachten.
Wem gehören Schiffe auf See?
Während die ökonomische Globalisierung in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Liberalisierung und Internationalisierung der Schifffahrt führte, bringt die neue Zerbrechlichkeit von Lieferketten und der „rise of economic sanctions as a tool of modern war“ (Mulder) eine Renationalisierung von Handelsschiffen mit sich. Für diese Kehrtwende ist das Seevölkerrecht in seiner heutigen Form nicht gewappnet. Der Grund hierfür liegt in einer mittlerweile anachronistischen Auslegung der „echten Verbindung“, die wie eingangs erwähnt eigentlich ein essenzieller Bestandteil des Flaggenstaatsprinzips sein müsste.
Die Qualifizierung als „echt“ stellt nach der Rechtsprechung des Internationalen Seegerichtshofs (ISGH) allerdings eine euphemistische Beschreibung einer höchst formalistischen Auslegung dar, bei der von einer echten Verbindung wenig übrigbleibt. So führte der ISGH in M/V Saiga (No.2) Case (St. Vincent and the Grenadines v. Guinea) zunächst aus, dass Artikel 91 SRÜ jedem Staat eine alleinige Hoheitsgewalt für die Zuerkennung der Staatsangehörigkeit von Schiffen (para. 63) einräume, also eine „Registrierfreiheit“ (Wolfrum, para. 3), sodass die Bedingungen für die Verleihung der Staatsangehörigkeit an Schiffe, für die Registrierung von Schiffen in seinem Hoheitsgebiet und für das Recht, seine Flagge zu führen, durch innerstaatliches Recht festgelegt werden. Die echte Verbindung stelle demnach kein Kriterium dar, durch welches andere Staaten die Nationalität eines Schiffes ablehnen könnten. Vielmehr diene sie der effektiven Umsetzung der Pflichten des Flaggenstaates (para. 83).
In M/V “Virginia G” Case (Panama/Guinea-Bissau) hat der ISGH im Jahr 2014 diese Interpretation bestätigt (para. 110) und ergänzend ausgeführt, dass die echte Verbindung auf die Pflicht des Staates verweist, nach der Registrierung eine effektive Kontrolle zur Durchsetzung von internationalem Recht und allgemeinen Schifffahrts-Richtlinien über die Schiffe zu haben. (para. 113).
Billigflaggen und Globalisierung
Diese voraussetzungslose Auslegung von echt, die den Besitzverhältnissen oder den Managementstrukturen der Schiffsbetreiber keine Relevanz einräumt, ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Vielmehr folgt der Seegerichtshof hier einer Staatenpraxis, oder besser gesagt einer Firmenpraxis, die nach der International Law Commission (Conclusion 5, para. 2) eine Staatenpraxis reflektieren kann. Diese zeichnet sich seit dem Ende des zweiten Weltkrieges durch ein Ausbreiten von sogenannten Billigflaggen “Flags of Convenience” aus (Özcyair, 1). Um Kosten zu senken und kompetitiv zu bleiben, können Schiffsbetreiber dabei auf “open registries” mit minimalen Anmeldungskosten und aufwendungsarmen Regularien in Ländern wie Panama, Liberia oder den Bahamas zurückgreifen, um ihre Waren kostengünstig unter fremder Flagge zu transportieren (Aladwan, 112). Nach Rüdiger Wolfrum (para. 6), sind Billigflaggen ein Symptom der “unterschiedlichen nationalen (…) Standards für Schiffe” und (para. 7) dafür, dass die “Weiterentwicklung eines (…) völkerrechtlichen Ordnungsrahmens (…) an strukturelle Grenzen stößt”.
Zusätzlich sind diese aber auch Ausdruck einer Welt des Freihandels, in der der internationale Schiffsverkehr eine zentrale Rolle einnimmt. Die Interdependenz von Globalisierung und Völkerrecht (Mégret, para. 43) zeitigt sich somit auch im Seevölkerrecht, das schon traditionell zur Unterstützung und Ausweitung des Freihandels beitrug (Moran, 13). Weil die Entwicklung als Folge einer “Globalization of Law” seit den 1950er Jahren weiter voranschreitet, ist es fraglich, ob diese Entfremdung des Welthandels von den Nationalstaaten langfristig auf Staatsebene akzeptiert wird. Wie Himainal Raina anmerkt, ist das System der Billigflaggen weiterhin die logische Folge einer “largely peaceful world”. Durch die Rechtsprechung des ISGH zementiert sich so eine rechtliche Sicht auf den Welthandel, die mittlerweile aber an den realen Verhältnissen vorbeisegelt – denn von einer solchen Welt kann heute nicht mehr die Rede sein.
Der Nexus von Handelsschiffen und staatlicher Souveränität
Schon 1960 erklärte der argentinische Richter Moreno Quintana in seiner abweichenden Meinung zum IMCO-Case, dass eine Handelsflotte keine „artifical creation” sei, sondern gewisse „indispensable requirements“ einer heimischen Wirtschaft ausdrücke. Die Flagge, als oberster Ausdruck der Souveränität, würde dabei die wirtschaftliche Unabhängigkeit eines Land und nicht die Interessen von Drittparteien oder Unternehmen verkörpern. Durch die Logik der Billigflaggen entfremde sich das Handelsschiff gewissermaßen von seinem eigenen Staat – auch durch die Mithilfe des Seevölkerrechts. Mit der geopolitischen Relevanz von Lieferketten, der Rückkehr der Industrialisierung und einer vermehrten Nutzung von Wirtschaftssanktionen (Mulder), kommt es zu einer Renationalisierung der Welt – was sich nun auch im Umgang mit Handelsschiffen, dem Rückgrat der Globalisierung, widerspiegelt.
Dies zeigt sich zunächst am bereits angesprochenen Fall der Huthi und der proklamierten Selbstverteidigung von fremden Handelsschiffen durch europäische und amerikanische Kriegsschiffe. Auf den ersten Blick scheint eine solche Verteidigung wegen des Flaggenstaatsprinzip abwegig – und primär rechtswidrig (u.A. Fink). Wenn man allerdings ergänzt, dass (wie oben erwähnt) ein Großteil der Schiffe Management-Strukturen in Europa besitzt und westliche Märkte beliefert, sollte hier auch der Ausdruck einer neuen Staatenpraxis sichtbar werden, der die Zugehörigkeit von Schiffen abseits des Flaggenstaatsprinzips durch andere Faktoren determiniert. Die Auswirkung der Huthi-Angriffe könnte also nicht nur ein „Reflagging“ mit dem Vorbild kuwaitischer Schiffe sein, die in den 90ern ihre Flaggen änderten, um fortan als formell amerikanisches Flaggenschiff durch die Kriegsschiffe der USA vor Luftangriffen des Iran beschützt zu werden. Denkbar scheint auch eine neue Staatenpraxis, die trotz gegenläufiger Rechtslage den Geleitschutz in u.A. Meerengen auf formell fremde, aber praktisch eigene (im Sinne der operativen Strukturen) Schiffe ausweitet.
Weiterhin zeigt sich auch am Beispiel der ökonomischen Sanktionen gegen Russland, wie ein umfassenderes Verständnis der echten Verbindung an Einfluss gewinnt (Raina). Ein Teil der Sanktionen gegen Russland legt fest, dass russische Schiffe nicht mehr in westliche Häfen einfahren können. So heißt es in der Council Regulation (EU) 2022/576 vom 8. April 2022, dass Schiffen, die unter der Flagge Russlands registriert sind, der Zugang zu den Häfen verboten wird (Recital 8). In ähnlicher Form findet sich dieser Wortlaut auch in den Regulationen von Kanada und Großbritannien wieder. Auffällig ist aber, dass das Verbot dabei auf Schiffe ausgeweitet wird, die „owned, controlled, chartered or operated by persons connected with Russia“ sind (para. 5 und in ähnlicher Form section 3.4). Das Einfahrtsverbot gilt somit nicht nur für russische Flaggenschiffe, sondern für alle Schiffe, die in Verbindung mit dem russischen Staat stehen. Da rund 60% der international-aktiven russischen Handelsschiffe (Raina) nicht unter russischer Flagge segeln, würde ein reiner Bezug zum Flaggenstaatsprinzip eine Umgehung von Sanktionen riskieren.
Ein neuer Wind der Globalisierung
Hierbei wird deutlich, wie Schiffe wieder als staatliches Kerninteresse verstanden werden und nicht mehr als unveränderbares Abbild des Freihandels. Dabei wird in beiden Fällen die echte Verbindung anders ausgelegt. Und zwar als eine Zugehörigkeit, die über den formellen Akt der Registrierung hinausgeht und Eigentümerverhältnisse der Schiffsbetreiber mitbedenkt. Aus dieser Logik erklärt sich, warum plötzlich nicht-russische Schiffe unter russische Sanktionen fallen und warum nicht-westliche Schiffe plötzlich unter westliche Selbstverteidigung fallen sollen. Dieser Richtungswechsel wird mit einer Rechtslage konfrontiert, die auf mittlerweile veralteten Prämissen beruht. Weil die gegenwärtige Auslegung der echten Verbindung eine Entfremdung von Nationalität und Flagge ermöglichte, gerät das Flaggenstaatsprinzip zunehmend in eine Sackgasse, weil der Nexus zwischen globalen Handelsschiffen und staatlicher Souveränität wieder sichtbarer wird.
Der wechselnde Wind der Globalisierung macht auch vor dem Seevölkerrecht nicht halt. Während in der Vergangenheit die Staatenpraxis und die Rechtsprechung des ISGH eine Rechtslage zementierte, die Billigflaggen als Symptom des expandierenden Freihandels ermöglichte, scheint sich auf Staatenebene ein Richtungswechsel anzudeuten. Diese Veränderung würde auch alte Fragen, wie die Haftung für schiffsbasierte Verschmutzung (u.A. Weston) oder Menschenrechtsverpflichtungen an Bord (u.A. Busco & Pizzuti) neu aufwerfen. Ob eine neue Auslegung der echten Verbindung dann noch im Sinne der Staaten wäre, die hier die Verpflichtungen für ihre Unternehmen outgesourced haben, ist fraglich. Ein divergierendes Verständnis der echten Verbindung innerhalb der Staatengemeinschaft ist nicht nur aus Gründen der Legalität (siehe Angriffe gegen die Huthi) problematisch, sondern auch langfristig ein Unsicherheitsfaktor für den internationalen Handel. Spätestens ein größerer Handelskrieg (im Pazifik) könnte Reedereien und Hafenbetreiber in eine rechtlich-schwierige Situation bringen. Auch in diesem Sinne bleibt abzuwarten, wie Staatenpraxis und Rechtsprechung in den nächsten Jahren auf die neue sicherheitspolitische Relevanz von Lieferketten reagiert.

Nikolai Ott studies International Relations at the Technical University of Dresden. He is a student assistant at the Center for International Studies.