“Nun sag’, wie hast Du’s mit der Gerechtigkeit?”
Zur Antwort des IStGH auf die Gretchenfrage, in Afghanistan Ermittlungen aufzunehmen
Viel ist darüber gesagt worden (s. hier und hier), wie moralisch enttäuschend und politisch besorgniserregend die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) ist, keine Situationsermittlung nach Art. 15 Abs. 3 Rom Statut (RS) in Afghanistan zu autorisieren. In diesem Post untersuchen wir die Kernelemente der Entscheidung. Zunächst analysieren wir den Ablehnungsbeschluss der Untersuchung durch die Vorverfahrenskammer aus Gründen von „Interessen der Gerechtigkeit“. In einem zweiten Schritt beleuchten wir die Bedeutung der Extraterritorialität und die damit einhergehende Frage der Bindungswirkung der Anklägerin an den Genehmigungsbeschluss.
Die Anklägerin hat die Vorverfahrenskammer nach Art. 15 Abs. 3 RS um Autorisierung gebeten, schon das ist eine Seltenheit. Regelmäßig wird die Anklägerin von Staaten nach Art. 14 RS oder durch den Sicherheitsrat nach Art. 13 lit. b) RS zur Untersuchung ermächtigt (wie in Darfur, Sudan und Libyen). In diesen Fällen ist keine Autorisierung durch die Vorverfahrenskammer nötig. Anders liegt der Fall, wenn die Anklägerin wie hier aus eigener Initiative nach Art. 13 lit. c) und Art. 15 RS (proprio motu) tätig wird. Nach Art. 15 Abs. 4 RS erteilt die Vorverfahrenskammer die Genehmigung, wenn sie nach Prüfung der Auffassung ist, es bestünde eine hinreichende Grundlage für die Aufnahme von Ermittlungen und die Sache unterfiele der Gerichtsbarkeit des IStGH. Nach Art. 53 Abs. 1 S.1 RS leitet die Anklägerin selbst Ermittlungen ein, sofern sie nicht feststellt, dass es für die Einleitung nach dem RS keine hinreichende Grundlage gibt. Bei der Entscheidung prüft sie nach Art. 53 Abs. 1 S. 2 lit. c) RS die Schwere des Verbrechens und Interessen der Opfer. Dennoch können wesentliche Gründe für die Ablehnung vorliegen, wenn Ermittlungen nicht im „Interesse der Gerechtigkeit“ lägen.
Begründet wird dieser Ansatz damit, dass die Anklägerin im Rahmen der Vorprüfung ein Instrument benötigt, um auf „schwierige Situationen“ zu reagieren, wie Amnestien oder Wahrheitskommissionen. Sieht die Ankägerin von einer Untersuchung ab, so unterrichtet sie nach Art. 53 Abs.1 S.3 RS die Vorverfahrenskammer. Diese kann die Entscheidung sodann ggfs. korrigieren. Wie steht es aber mit dem umgekehrten Fall, wenn die Ankägerin also untersuchen, die Vorverfahrenskammer aber aus „Interesse der Gerechtigkeit keine Untersuchung will? Die Kammer versagte nämlich im vorliegenden Fall die Fortführungen der Untersuchungen mit Rückgriff auf diese „Interessen der Gerechtigkeit“ aufgrund der mangelnden Erfolgsaussichten des Verfahrens. Zu lange schon würden die Ermittlungen andauern, es sei zudem unwahrscheinlich, dass die Anklägerin die notwendigen Beweise für die Strafverfolgung vorbringen könne, auch stehe der erhöhte Ermittlungsaufwand in finanzieller und personeller Sicht nicht in angemessener Relation zur Effektivität des Strafverfahrens. Die Befugnis der Vorverfahrenskammer solche Überlegungen anzustellen, ist nicht explizit im RS vorgesehen. Bedeutet der im RS geregelte Fall – dass die Vorverfahrenskammer die Entscheidung der Anklägerin revidieren kann, im „Interesse der Gerechtigkeit“ Untersuchungen nicht durchzuführen – im Gegenzug auch, dass die Vorverfahrenskammer auch selbst unter Rückgriff auf diese Interessen eine von der Anklägerin gewünschte Untersuchung verhindern kann?
Die Antwort ist vielschichtig. Zwar spricht die Notwendigkeit einer unabhängigen Kontrolle der Entscheidungen für eine solche Korrektiv-Möglichkeit der Vorverfahrenskammer gerade in proprio motu Fällen. Aber es gibt auch gewichtige Gründe dagegen. Die Vorverfahrenskammer verkennt, dass die Beurteilung der „Interessen der Gerechtigkeit“ den Ermessensspielraum der Anklägerin erweitern soll, nicht den der Kammer. Dies kann aus der systematischen Stellung von Art. 53 RS, dem Telos und aus der Historie der Vertragsentwürfe abgeleitet werden. Erstens ist nicht dargetan, warum bei der Entwicklung des RS dieser Fall nicht geregelt wurde, wenn er doch ebenfalls gewollt gewesen wäre. Zweitens ergibt sich aus der negativen Formulierung des Art. 53 RS („sofern … nicht“, „dennoch“), dass eine Untersuchungsablehnung aus „Interesse der Gerechtigkeit“ die Ausnahme bleiben soll. Drittens hat die Vorverfahrenskammer in bisherigen Genehmigungen nie einen Schwerpunkt auf die Prüfung von „Interesse der Gerechtigkeit“-Erwägungen gelegt, insbesondere die Effektivität von Ermittlungen nicht angezweifelt, selbst bei erheblicher Verfahrenslänge wie in den Fällen Elfenbeinküste und Georgien. Und abschließend sollte die richterliche Kontrolle der Entscheidung der Anklägerin zur Untersuchung nicht allzu weit gehen – die Funktionen von Anklage und Gericht sind signifikant verschieden.
Das muss auch der Überprüfungsmaßstab der Vorverfahrenskammer widerspiegeln. Deswegen erscheint insgesamt für diesen ungeregelten Fall ein Mittelweg angemessen, der die Kontrolle mit Blick auf „Interessen der Gerechtigkeit“ durch die Vorverfahrenskammer bei proprio motu Ermittlungen generell zulässt, sie aber auf grobe Missbrauchsfälle oder klare Fehlentscheidungen der Anklägerin beschränkt. Diese Sicht wird auch durch die Tatsache gestützt, dass die Frage von proprio motu Ermittlungen bei den Verhandlungen des RS umstritten war und dass insofern Kontrollmechanismen gegen Missbrauchsfälle vorgesehen werden sollten (ratio legis des Art. 15 RS). Inwiefern hier ein solcher Fall vorlag, ist von der Vorverfahrenskammer indes nicht dargetan. Die Gefahr eines Missbrauchs ist schwerlich vorstellbar, wenn alle Voraussetzungen zur Einleitung von Situationsermittlungen vorliegen, wie hier von der Vorverfahrenskammer selbst angenommen.
Könnte die Vorverfahrenskammer aus Erwägungen von „Interessen der Gerechtigkeit“ den Antrag der Anklägerin in Gänze ablehnen, wäre auch der Anwendungsbereich des Art. 53 Abs. 4 RS quasi gesperrt, nach dem die Anklage eine Ermittlungsentscheidung jederzeit auf Grundlage neuer Tatsachen oder Informationen überprüfen kann. Die Ablehnungsentscheidung der Vorverfahrenskammer ist res iudicata. Die Anklägerin kann jedoch faktisch nie neue Informationen hervorbringen, die das Gerechtigkeitsempfinden der Kammer betreffen, um das Verfahren erneut aufzunehmen. Art. 53 Abs. 4 RS soll gerade die Ermittlungshoheit der Anklägerin schützen. Dieser Schutz würde aus objektiv schwer nachvollziehbaren Gründen gänzlich ausgehebelt, wenn die Vorverfahrenskammer quasi final Ermittlungen durch Rückgriff auf „Interessen der Gerechtigkeit“ stoppen könnte. Dies wäre eine besorgniserregend große Machtkonzentration auf die Vorverfahrenskammer.
Neben den Erläuterungen zu „Fragen der Gerechtigkeit“ hat die Vorverfahrenskammer in ihrer Afghanistan-Entscheidung den Anwendungsbereich des Territorialitätsprinzips und die Bindung der Anklägerin an den Antrag im Rahmen einer möglichen Vorermittlung bestimmt. Der Antragsgegenstand umfasste Kernverbrechen in und außerhalb Afghanistans. Seit den Anschlägen am 11. September 2001 beauftragten die USA ihre, Geheimdienste, die CIA, sowie Streitkräfte, gegen Täter und mittelbar Beteiligte zu ermitteln. Hierzu wurden Internierungslager in Afghanistan, aber auch Litauen, Polen und Rumänien (Vertragsstaaten des RS) sowie in Nicht-Vertragsstaaten des RS genutzt. Im Raum steht der Vorwurf von Folter, grausamer Behandlung, Beeinträchtigung der persönlichen Würde, Vergewaltigung und anderer sexueller Übergriffe an den Häftlingen als Subtatbestände von Art. 8 (Kriegsverbrechen) und möglicherweise Artikel 7 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) des RS.
Der IStGH hat nach Art. 12 Abs. 2 RS Jurisdiktionsgewalt über Kernverbrechen, die auf dem Territorium eines Vertragsstaates begangen wurden (lit. a) oder nach dem aktiven Personalitätsprinzip (lit. b). Mangels Ratifikation des RS durch die USA kommt nur erstere Variante als Anknüpfungspunkt in Betracht. Aber wie weit reicht das Territorialitätsprinzip, einerseits mit Blick auf die Reichweite der Genehmigung und andererseits bei der Anwendung des humanitären Völkerrechts, soweit Kriegsverbrechen in Rede stehen? Die Anklägerin wollte ausdrücklich auch Führungspersönlichkeiten der CIA in den USA der Ermittlung unterwerfen. Deswegen musste sie sich argumentativ eine quasi doppelte Brücke bauen. Erstens seien zwar die Anordnungen in der Regel aus dem Ausland (nämlich aus den USA) erfolgt; die unmittelbar handelnden Mittäter hätten die Taten aber in Afghanistan ausgeführt. Insofern sei zur Begründung der Gerichtsbarkeit auf die Tathandlung der Mittäter abzustellen. Zweitens hätten zwar auch die Befragungen in den Lagern selbst teilweise außerhalb Afghanistans stattgefunden. Die extraterritorialen Festnahmen und die auf ihnen basierenden Verhöre stünden jedoch mit dem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt (NIAC) in Afghanistan in Verbindung oder passierten im Kontext des NIAC, sodass auch diese Taten vom Territorialprinzip umfasst seien.
Die Vorverfahrenskammer trat diesem extraterritorialen Ansatz in ihrer Entscheidung entgegen, da beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen („associated and in context“ of, Details s. ICC-02/17, para. 52). Lediglich in Fällen, in denen Häftlinge auf afghanischem Boden festgenommen und in einem anderen Vertragsstaat des RS „verhört“ wurden, könne diese Verbindung angenommen werden (Details s. ICC-02/17, para 53). Die Kammer weicht damit von der Praxis des IStGH ab: Im Gaza-Flottillen Fall wurde eine extensive Auslegung des Territorialprinzips in Bezug auf vermeintliche Kriegsverbrechen bevorzugt. Damals hieß es, die Anklage sei gehalten umfassend zu ermitteln: Dies beinhalte auch die Untersuchung extraterritorial begangener Kernverbrechen mit der Begründung, die Zuständigkeitsnormen hinderten zwar die Ausübung des Strafverfahrens, nicht aber die Auseinandersetzung des Gerichts mit der Einordnung als [territoriale oder extraterritoriale] Tat anhand der zur Verfügung stehenden Informationen (Details s. ICC-01/13), para. 17). Dass die Kammer nun im vorliegenden Fall von diesen Standards abweicht, darf wohl als Ausfluss von Erklärungsnot angesichts politischen Drucks verstanden werden – denn eigentlich lagen alle Voraussetzungen zur Einleitung der Situationsermittlungen vor.
Die Bestimmung dieser Voraussetzung wirkt sich auch auf die Bindungswirkung des Antragsgegenstandes auf die Situationsermittlung durch die Anklägerin aus. Zu fragen ist: Wenn die Genehmigung eine bestimmte Situation umfasst, können nicht explizit im Antrag genannte Ereignisse auch ermittelt werden? Dies beträfe vorliegend etwa die Taten der CIA, da zum jetzigen Verfahrensstand keine spezifischen Feststellungen durch die Anklägerin getroffen werden konnten.
Laut Vorverfahrenskammer sei die Anklage bei Ermittlungen strikt an die Feststellungen (Ereignisse, Tatort, Zeitrahmen) im Antrag gebunden. Lediglich Verbrechen, die eng („closely“) und nicht nur hinreichend („sufficiently“) mit den Feststellungen der Genehmigung verknüpft („linked“) seien, dürften untersucht werden. Ereignisse in anderen Staaten seien demnach nicht umfasst. Daher reichen die von der Ankllägerin vorgeschlagenen „hinreichenden Verknüpfungen“ zur Begründung der Erweiterung des Ermittlungsgegenstandes nicht aus. Was unter „enger Verknüpfung“ zu verstehen ist, sei zudem im Einzelfall zu ermitteln. Die Genehmigung der Vorverfahrenskammer beziehe sich also lediglich auf einzelne Ereignisse innerhalb einer Situation. Treten bei der Ermittlung neue Verbrechen zu Tage, bräuchte die Anklage neue Genehmigungen. Ansonsten sei eine Genehmigung ein „Blankoscheck“ für die Anklage – eine Einladung zu Ermittlungen auch aus politischen Motiven.
Die Argumentation der Vorverfahrenskammer überzeugt auch hier nicht. Das Antragsverfahren beruht immer auf Informationen, die erst im Rahmen der eigentlichen Ermittlungen konkretisiert werden können. Auch wenn es zu begrüßen ist, dass die Vorverfahrenskammer ihre Kontrollfunktion über die Anklage ernst nimmt, übersieht sie hier andere Auffangmechanismen in weiteren Verfahrensabschnitten und verzögert künftige Ermittlungen durch das Erfordernis weiterer Genehmigungen potentiell erheblich. Sie verkennt dabei, dass die Anklage immer eine ganze Situation untersuchen kann: Das Risiko politisch motivierter Ermittlungen besteht dabei grundsätzlich. Die Vorverfahrenskammer stutzt mithin im Vergleich zu bisherigen Genehmigungen den Ermessensspielraum der Anklägerin erheblich zurecht. Sie lässt im internen Machtgerangel ihre Muskeln spielen – leider auf Kosten effektiver Strafverfolgung.
Pierre Thielbörger ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV).
Özgen Özdemir ist Doktorandin an der Ruhr-Universität Bochum und promoviert zum Völkerstrafrecht.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen dem IFHV und Völkerrechtsblog.
Cite as: Pierre Thielbörger & Özgen Özdemir, “‘Nun sag’, wie hast Du’s mit der Gerechtigkeit?’ Zur Antwort des IStGH auf die Gretchenfrage, in Afghanistan Ermittlungen aufzunehmen”, Völkerrechtsblog, 28. April 2019, doi: 10.17176/20190429-094058-0.
Özgen Özdemir ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum und Doktorandin an ihrer juristischen Fakultät. Kontakt: oezgen.oezdemir@rub.de
Pierre Thielbörger is a professor of German Public Law and Public International Law as well as Executive Director of the Institute for International Law of Peace and Armed Conflict (IFHV), both at Ruhr University Bochum. He serves as co-convener of the Interest Group on Human Rights within the European Society of International Law (ESIL), acts as President of the General Assembly of the Network on Humanitarian Action (NOHA) and is Adjunct Professor at the Hertie School in Berlin.