„Klimaschutz jetzt Menschenrecht“. So formuliert es ein Kommentar in dem bekannten deutschen Rechtsmagazin LTO. Und das beschreibt tatsächlich ziemlich genau das, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 09. April, der wohl als Meilenstein in die Geschichte der Bekämpfung des Klimawandels eingehen wird, entschieden hat. Besonderes Interesse ziehen die Ausführungen zur Opfereigenschaft sowie zum Einschätzungsspielraum auf sich, da der EGMR seine dahingehende Rechtsprechung vor dem Hintergrund des Klimawandels jedenfalls konkretisiert, wenn nicht gar ändert. Dieser Beitrag beleuchtet die historische Entscheidung näher und kommt zu dem Schluss, dass die Richter:innen am EGMR den Völkerrechtsblog zu lesen scheinen.
Klimaseniorinnen gegen die Schweiz
Der EGMR hat am 09.04.2024 erstmals einer sog. Klimaklage stattgegeben (Verein Klimaseniorinnen Schweiz v. Switzerland). Solche Klagen werden von Einzelpersonen oder Verbänden angestrengt, um klimapolitisch wünschenswerte, realpolitisch aber nicht durchsetzbare Ziele juristisch zu erzwingen. Die gegen die (Heimat-)Staaten (oder Unternehmen) gerichteten Klagen sollen diese zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen bewegen. Von den mehreren beim EGMR anhängigen Klagen sticht diejenige der sog. Klimaseniorinnen aufgrund ihres Erfolges heraus. Während andere Klimaklagen bereits mangels Opfereigenschaft (Carême v. France, Rn. 83) oder Rechtswegerschöpfung (Agostinho and Others v. Portugal, Rn. 231) unzulässig waren, konnten die Klimaseniorinnen gegen die Schweiz einen Sieg erringen. Nachdem der EGMR die schweizerischen Klimaschutzbemühungen (Rn. 121 – 132) sowie die international bestehenden Übereinkommen zur Bekämpfung des Klimawandels (Rn. 133 – 229) analysiert, widmet er sich eingehend den von den Klägerinnen behaupteten Verletzungen ihrer Rechte aus Art. 8 EMRK (Rn. 296 – 574) und bejaht diese. Damit hat der EGMR erstmals positiv über eine Klimaklage entschieden und deutlich gemacht, dass die Schweiz ihre Verpflichtungen (positive obligations) aus zum Schutz des Privat- und Familienlebens verletzt, indem sie eine unzureichende Klimaschutzpolitik betreibt (Rn. 573).
Im Folgenden sollen die besonders umstrittenen Punkte näher betrachtet werden. Dabei geht es zum einen um die Opfereigenschaft (victim status) der einzelnen Individuen sowie des Vereins Klimaseniorinnen als solches und zum anderen um die immer wiederkehrende Frage zum Einschätzungsspielraum (margin of appreciation) der Staaten bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus der EMRK.
Die Opfereigenschaft
Eine der größten Zulässigkeitshürden für Klagen vor dem EGMR ist neben der Erschöpfung der nationalen Rechtsbehelfe die Bejahung der Opfereigenschaft – vergleichbar mit der eigenen, unmittelbaren und gegenwärtigen Beschwer im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde. Da der Klimawandel seiner Natur nach praktisch alles und jeden betrifft, sah sich der EGMR mit der Frage konfrontiert
“how and to what extent allegations of harm linked to State actions and/or omissions in the context of climate change, affecting individuals’ Convention rights […] can be examined without undermining the exclusion of actio popularis from the Convention system” (Rn. 481).
Die beklagten Staaten hatten auf eine Abweisung der Klagen als unzulässig gehofft. Wie vorhergesehen argumentierten sie, dass der Klimawandel allein keine hinreichenden Auswirkungen entfalte und es daher am Opferstatus fehle (Rn. 342f). Von anderer Seite wurde angebracht, dass gerade der „Klimawandel, als Gefahr für die gesamte Menschheit, jedem statt niemandem die Geltendmachung seiner Rechte ermöglichen muss“ (eigene Übersetzung) und ein enges Verständnis der Opfereigenschaft unangebracht wäre. Diesen beiden Sichtweisen trug das Urteil Rechnung, indem es eine neue, auf den Klimawandel angepasste Definition der Opfereigenschaft hervorbrachte.
“High Intensity and Pressing Need”
Nachdem das Gericht – unter Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung – die Wandelbarkeit („evolutive manner“, Rn. 482) der Definition der Opfereigenschaft hervorhebt, setzt es sich mit einer passenden Abänderung dieser Definition in Bezug auf Schäden, die durch den Klimawandel entstehen, auseinander. Um eine Opfereigenschaft durch den Klimawandel zu bejahen, müssen zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein. Antragstellende müssen (1) „in hohem Maße [high intensity] den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt sein“ und dazu (2) „muss ein dringendes Bedürfnis [pressing need] bestehen, den individuellen Schutz des Antragstellenden zu gewährleisten“ (Rn. 487, eigene Übersetzung).
Der EGMR selbst bezeichnet die von ihm aufgestellten Hürden zur Opfereigenschaft als „especially high“ (Rn. 488). Da es während der Hitzewellen, auf die sich die Klagen der einzelnen Mitglieder größtenteils bezogen, auch für ältere Menschen hinreichende Schutzmöglichkeiten gab und die betroffenen Personen zu keinem Zeitpunkt schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hatten, sprach der EGMR den Einzelpersonen die Opfereigenschaft ab (Rn. 533ff).
Auch im Fall Carême v. France konnten der Gerichtshof eine solche nicht erkennen, weil der klagende Bürgermeister nicht mehr in Frankreich wohnte und den behaupteten Einwirkungen folglich nicht mehr ausgesetzt war.
Insgesamt nimmt der EGMR eine vermittelnde Position zwischen „alle Menschen sind vom Klimawandel betroffen und damit Opfer“ und „niemand ist in einem ausreichenden Maß vom Klimawandel geschädigt“ ein. Entscheidend für zukünftige Klagen dürfte die Frage sein, wie der EGMR das „hohe Maß an nachteiligen Auswirkungen“ konkretisiert, d.h. wie weit er den Kreis der potentiell Betroffenen ziehen möchte. Jedenfalls müssen erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen zumindest zu erwarten und keine Schutzmöglichkeiten vorhanden sein. Die vom EGMR gefundene Kontruktion bringt allerdings auch methodische Schwierigkeiten mit sich.
Zirkelschluss?
Bemerkenswert ist insofern, dass die beiden Voraussetzungen – hohe Intensität der negativen Auswirkungen des Klimawandels sowie ein dringendes Schutzbedürfnis – unmittelbar zusammenhängen: Je höher das Maß an nachteiligen Auswirkungen durch den Klimawandel, desto dringender das Schutzbedürfnis. Das erkennt – jedenfalls implizit – auch das Gericht, wenn es die Opfereigenschaft der einzelnen Klimaseniorinnen auch deswegen ablehnt, weil nicht ersichtlich ist, dass „die Möglichkeit einer Gefährdung zu einem späteren Zeitpunkt mit einer Intensität besteht, die ein dringendes Bedürfnis für ihren individuellen Schutz begründet“ (eigene Übersetzung, Rn. 533). Unklar bleibt der eigenständige Gehalt der Voraussetzung „hohe Intensität negativer Auswirkungen“, wenn diese immer so hoch sein muss, dass ein „dringendes Schutzbedürfnis“ hervorgerufen wird, um die Opfereigenschaft zu bejahen. Die zweite Voraussetzung wird zur dominierenden und die Gefahr eines Zirkelschlusses drängt sich auf, wenn das Schutzbedürfnis (zweite Voraussetzung) mit der Intensität der nachteiligen Auswirkungen (erste Voraussetzung) begründet wird. Immer, wenn die erste Voraussetzung in einer gewissen Intensität gegeben ist, liegt so automatisch die zweite Voraussetzung vor. Dass dies vom Gericht intendiert war, scheint mindestens fraglich. Methodisch erhellend könnte eine Zusammenfassung der Voraussetzungen sein: Die nachteiligen Auswirkungen durch den Klimawandel müssen derart gravierend sein, dass sie ein besonderes Schutzbedürfnis hervorrufen. Dann liegen aber – anders als der EGMR suggeriert – keine getrennten Voraussetzungen mehr vor.
Locus standi von Vereinigungen
Da neben den Individualklagen einzelner Mitglieder auch der Verein als Ganzes geklagt hatte, musste das Gericht sich mit der Frage nach der Klagebefugnis (locus standi) von Vereinigungen beschäftigen. Auch hier zieht der EGMR aus der Natur des Klimawandels, seiner Bedrohungen für die gesamte Menschheit und der damit einhergehenden Gefahr von actio popularis, Konsequenzen hinsichtlich der Anerkennung der Opfereigenschaft einer Vereinigung (Rn. 499 f.): Vereinigungen können nur dann die Rechte ihrer Mitglieder geltend machen, wenn sie (1) rechtmäßig begründet und handlungsfähig sind, (2) satzungsgemäß den Zweck verfolgen, die Menschenrechte ihrer Mitglieder zu schützen sowie (3) nachweisen können, dass sie für diese Handlungen als repräsentativ angesehen werden können (Rn. 502).
Für den klagenden Verein sah das Gericht diese Voraussetzungen jedenfalls hinsichtlich Art. 8 EMRK als gegeben an (Rn. 525f). Damit war die Klage des Vereins zulässig und der Gerichtshof konnte sich im Rahmen der Begründetheit mit dem Ermessensspielraum der Staaten befassen.
Der Ermessensspielraum
Seit jeher betont der EGMR den weiten Ermessensspielraum (wide margin of appreciation) der Staaten, wenn es um die Frage geht, wie eine bestimmte Pflicht aus der EMRK erfüllt werden soll (Brincat and Others v. Malta, Rn. 101, m.w.N.). Dabei unterscheidet der EGMR sorgfältig zwischen zwei Bereichen. Auf der einen Seite geht es darum, wie sehr die Staaten den Klimawandel bekämpfen müssen, d.h. um konkrete Ziele und Vorgaben (bspw. Erreichung von C0²-Neutralität). Andererseits stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln der Staat diese Ziele erreichen muss (bspw. durch die Förderung erneuerbarer Energien). Der EGMR hat in seinem Urteil deutlich gemacht, dass der weite Ermessensspielraum nur für die zweite Frage gilt (Rn. 543).
Dafür stellt er zunächst fest, dass unter den Staaten ein allgemeiner Konsens (general consensus) hinsichtlich der effektiven Bekämpfung des Klimawandels in Form einer Reduzierung der Treibhausgasemissionen, also hinsichtlich der ersten Frage, besteht. Die Staaten sind sich nicht nur einig darüber, dass der Klimawandel bekämpft werden muss, sondern auch über den Grad dieser Bekämpfung (bis zur CO2-Neutralität). Danach lenkt der EGMR den Fokus auf einen Gesichtspunkt, der dem Klimawandel immanent ist. Die Tatsache, dass der Klimawandel irreversible und erhebliche Schäden erwarten lässt, spricht dafür, ihn mit starkem Gewicht in die Abwägung mit dem Einschätzungsspielraum der Staaten einzustellen. Insbesondere der globale Charakter des Klimawandels unterscheidet ihn von regional auftretenden Umweltschäden, bei denen ein weiter Einschätzungsspielraum unstreitig ist (Rn. 542ff). Dass die staatlichen Behörden die Gegebenheiten vor Ort besser einschätzen können (u.a. Powell and Rayner v. UK, Rn. 44; Handyside v. UK, Rn. 48), kann beim Klimawandel nicht mehr als Begründung für den weiten Ermessensspielraum dienen. Im Gegenteil kann kein einzelner Staat allein den Klimawandel effektiv bekämpfen. Unklar bleibt, in welchem Verhältnis dieser Faktor zum Konsens unter den Staaten steht, wenn der Gerichtshof meint:
„the nature and gravity of the threat and the general consensus [..] call for a reduced margin of appreciation” (Rn. 543, eigene Hervorhebung).
Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR genügt ein Konsens unter den Staaten, um einen kleineren Ermessensspielraum zu begründen. Eröffnet der Gerichtshof nun eine neue Begründung für die Verringerung des Ermessensspielraums, die neben den Konsens treten kann? Oder verschärft er gar seine Rechtsprechung und die Voraussetzungen sind als kumulatives Erfordernis zu verstehen? Jedenfalls weicht er ganz erheblich von seiner Rechtsprechung ab, indem er das Wesen der Gefahr – soweit ersichtlich erstmalig – als Begründung für einen engen Ermessensspielraum anführt.
Kritik an diesem Vorgehen äußert Richter Eicke in seiner abweichenden Meinung. Er hält die oben zitierten Faktoren für „vollkommen ungeeignet“, um diese neue Auslegung des Ermessensspielraums zu begründen (Rn. 67 seiner abweichenden Meinung).
Die Mehrheit der Richter:innen hingegen sah das Verhalten der Schweiz, insbesondere das Unterlassen einer Berechnung des eigenen verbleibenden C0²-Budgets, als nicht mehr von dem Einschätzungsspielraum gedeckt (Rn. 572). Die Schweiz muss sich daher, orientiert an ihren internationalen Verpflichtungen wie etwa dem Abkommen von Paris, konkrete Ziele zur Bekämpfung des Klimawandels setzen.
Lesen die EGMR-Richter:innen den Völkerrechtsblog?
Diese Argumentation ähnelt einer, die bereits zu Beginn der Verhandlungen der Klimaklagen auf dem Völkerrechtsblog geteilt wurde. Unter dem Titel „International Problems Require International Answers“ wurde eine Einschränkung des Ermessensspielraum mit der Begründung gefordert, dass die klassische Legitimation des Ermessensspielraums – die staatlichen Behörden seien „näher am Problem“ – im Rahmen des globalen Phänomens Klimawandel nicht trägt und daher ein nur kleiner Spielraum bei der Frage, wie sehr der Klimawandel zu bekämpfen ist, zugebilligt werden könne. Die Staaten sollten sich dabei insbesondere am Pariser Klimaabkommen orientieren müssen.
Zugegebenermaßen lag dieser Gedanke nicht allzu fern; dass die EGMR-Richter:innen den Völkerrechtsblog lesen, ist dennoch eine schöne Vorstellung.
The “Bofaxe” series appears as part of a collaboration between the IFHV and Völkerrechtsblog.
Joel Bella is a student assistant at Ruhr University Bochum’s Institute for International Law of Peace and Armed Conflict (IFHV).