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Grotius goes Google

Das Völkerrecht der Zukunft regelt das Internet im globalen öffentlichen Interesse

01.05.2014

Es gibt nichts Neues unter der Sonne: Nur zwölf Jahre, nachdem Samuel Morse das erste Telegrafensystem in New York vorgestellt hatte, schlossen Österreich, Preußen, Bayern und Sachsen 1850 den Staatsvertrag über die Bildung des deutsch-österreichischen Telegraphenvereins. Der Vertrag enthält Vorgaben, die sich wie eine Zusammenfassung der großen internetrechtspolitischen Fragen von heute lesen: eine Pflicht zur schnellstmöglichen Weiterleitung von Telegrammen (Art 4) – unsere Netzneutralität; Pflichten zur Zensur im Interesse des öffentlichen Wohls (Art 19) – unsere Internetzensur und unsere Diskussionen um Privatsphäre und Datenschutz; ein Zugangsrecht für „Jedermann“, auch sonntags und an Feiertagen (Art 6) – oder wie der BGH 2013 formulierte: Schadenersatz für mangelnden Internetzugang; und eine Pflicht zur Aufbewahrung der Originaldepeschen für zwei Jahre (Art 14) – fast 165 Jahre später diskutieren wir über die Vorratsdatenspeicherung und merken nach freundlicher Belehrung aus Luxemburg, dass die grundrechtlichen Berührungspunkte doch substanziell sind.

Mit anderen Worten: Informations- und Kommunikationstechnologien und das Internet als globales Netzwerk von Netzwerken dynamisieren sozioökonomische Prozesse, vereinfachen global wahrnehmbares kommunikatives Handeln, verflachen (manche) etablierte Hierarchien (und schaffen andere), aber sie stellen das Recht – und auch das Völkerrecht – nicht vor fundamental neue (oder fundamentale) Herausforderungen. Ubi Informationsgesellschaft, ibi Internetvölkerrecht: Das Völkerrecht regelt menschliches und staatliches Handeln mit Internetbezug und stellt die Grundlage der normativen Ordnung des Internets dar.

Der Prozess der Anwendung von Völkerrecht auf das Internet und internetbezogenes Handeln von Staaten indes ist nicht ohne seine Herausforderungen: Nach einer als regellos wahrgenommenen Frühzeit des Internets scheint das regulative Pendel in die Gegenrichtung ausgeschlagen zu haben. Oft ohne das entsprechende legistische Fingerspitzengefühl („Bundestrojaner“) und in Verkennung der legitimitätsstiftenden Funktion von Multistakeholder-Prozessen („ACTA“) haben Staaten internetbezogene Sachverhalte einem zunehmend strengeren Regulierungskorsett unterworfen. Sie überwachen, filtern, legen Twitter lahm (oder versuchen es zumindest) oder schalten einfach das Internet ab. Regelmäßig werden dabei Menschenrechte berührt, oft sogar verletzt, und völkerrechtliche (namentlich menschenrechtliche) Pflichten verkannt.

Vor diesem Hintergrund lege ich folgende fünf Thesen zur Zukunft des Völkerrechts in Bezug auf das Internet vor.

1. Der Schutz der Integrität des Internets liegt im globalen öffentlichen Interesse.

Die zentrale Rolle des Internets für den Schutz von Menschenrechten, menschlicher Sicherheit und menschlicher Entwicklung und (nebst anderem) für die Förderung nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums steht außer Frage. Das Internet ist ein Medium und Forum zur Ausübung zentraler kommunikativer Freiheitsrechte; und durch diese einer Vielzahl anderer Menschenrechte. Privatsphäre und Datenschutz schützen den im Netz aktiven Menschen; Netzneutralität und Anonymität befördern seine Aktivitätsvielfalt. Steigende Zugangsraten korrelieren mit wirtschaftlichem Wachstum, aber auch mit menschlicher Entwicklung. Die Staaten der Welt haben sich zu einer menschenzentrierten, entwicklungsorientierten Informationsgesellschaft bekannt, die auf den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen fußt und den Schutz der Menschenrechte, wie er sich aus der Allgemeinen Erklärung ergibt, vollinhaltlich respektiert und realisiert. Die Sicherheit, Stabilität und Funktionalität  des Internets – also sein Funktionieren – sind zentrale Möglichkeitsbedingung zur Erfüllung dieses völkerrechtlich relevanten Bekenntnisses. Der Schutz des Internets und seiner kinetischen und nichtkinetischen Infrastruktur (wie Internet Exchange Points, Interkontinentalkabel, Root Server) ist daher funktional im globalen öffentlichen Interesse. Dies ist eine völkerrechtliche Bewertung mit völkerrechtlichen Folgen.

2. Nationale Internetpolitik wird durch Völkerrecht determiniert.

Staaten müssen sich bei der Ausarbeitung und Anwendung nationaler Internetpolitik auf die Finger schauen lassen. Der völkerrechtliche Schutz der Stabilität, Sicherheit, Integrität und Funktionalität des Internets schränkt ihre Souveränität ein. Insoweit sie physisch auf das Internet und seine kritischen Ressourcen einwirken können, verfügen sie nur über die Souveränität (und die Verantwortung) eines Kustos. Diese wird durch Schutzpflichten eingeschränkt, die aus dem globalen Interesse am Internet gespeist werden. Dies lässt sich einerseits über die Geltung der Menschenrechte und den institutionellen Schutz des Internets als Vorbedingungen der Ausübung der Kommunikations- und Informationsrechte nach Art. 19 IPBürgR argumentieren, wie ich es hier gezeigt habe.  Andererseits über Verpflichtungsgründe aus dem Gewohnheitsrecht und allgemeine Prinzipien des Völkerrechts: namentlich mit Rückgriff auf eine dem Internet als Schutzgut verpflichtete Auslegung des Rücksichtsnahmeprinzips, des Nichteingriffsprinzips, des Vorsorgeprinzips und des Prinzips der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsprinzipien schützen die kinetischen Kernressourcen des Internets, die physisch unter der Kontrolle von Staaten liegen (und von denen manche zunehmend souveränitätsorientiert argumentieren). (Die Konturen dieser Pflichten und ihre Rolle in der Entwicklung einer normativen Ordnung des Internets sind Thema meiner aktuellen Forschungen.)

3. Der Staat vergeht nicht, muss aber auf andere Akteure zugehen.

Es kann nicht oft genug gesagt werden: Der virtuelle Raum bedeutet nicht das Ende des souveränen Verfassungsstaates. Der Staat muss sich auf seine zentralen Funktionen besinnen und seine Bürger schützen, ohne dabei aber deren Rechte zu verletzen (Stichwort: Vorratsdatenspeicherung). Das bedeutet auch, sich gegen die Überwachung der Bürger durch andere (auch EU-)Staaten konsequent und mutig zu wehren. Natürlich: Ganz ohne Überwachung wird es nicht gehen; aber die Verhältnismäßigkeitsprüfung macht nicht vor dem Cyberspace halt. Das muss internationaler Konsens bleiben, wie zuletzt durch eine GV-Resolution bestätigt, bedarf in der Praxis aber eines stärkeren Schutzes.

Alle internationalen Akteure („Stakeholder“) wie Staaten (Regierungen), der Privatsektor (Unternehmen) und die Zivilgesellschaft (Individuen) haben ein legitimes, funktional abgestuftes Interesse daran, dass alle anderen Akteure das Internet und die menschenrechtlich abgesicherte Aktivitätsvielfalt online schützen. Im Rahmen der Entwicklung von Normen zur Gestaltung des Internets geschieht dies über „Multistakeholder-Prozesse“. Multistakeholderismus wird dabei zunehmend zum Goldenen Kalb, das dringend in dem Sinne ‚geschlachtet‘ werden muss, dass multistakeholderbasierte Ansätze auf ihre konkrete legitimierende Funktion hinsichtlich der Ausübung quasiöffentlicher Gewalt in transnationalen Konstellationen hin befragt und kritisiert werden müssen. Staaten müssen jedenfalls verstärkt für die Rechte ihrer Bürger eintreten und sicherstellen, dass die normativen Ergebnisse auch deren Interessen reflektieren. Es reicht nicht aus, großen sozialen Netzwerken und Suchmaschinenunternehmen zu vertrauen. Hier gilt: Kontrolle in einem völkerrechtlich abgesteckten Rahmen ist besser.

Die Prozesse zur Verdichtung des Normenbestandes mit Internetbezug werden unter dem ausfransenden Begriff der „Internet Governance“ geführt. Sie laufen in einem völkerrechtlichen Rahmen ab; Völkerrecht muss auch inhaltliche Grenzmarken setzen, wenn Legitimation allzu begeistert prozeduralisiert wird.

4. Das Völkerrecht steckt den Rahmen der Internet Governance ab.

Internet Governance-Prozesse beschleunigen sich. Im April tagt in Brasilien die Netmundial-Konferenz und im September in Istanbul das Internet Governance Forum. Die Internationale Telekommunikationsunion (ITU) hält 2014 wichtige Konferenzen zur Novellierung ihres Normenbestandes ab. 2015 jährt sich zum 10. Mal der Weltgipfel der Informationsgesellschaft, was einen Rahmen für eine entwicklungsorientierte Kritik des Internets bietet. In ihrer Herbsttagung 2014 verhandelt die Generalversammlung Themen mit Internetbezug in drei Komitees. Seit Anfang 2014 denken zwei hochkarätig besetzte Kommissionen laut über die Zukunft der Internet Governance nach. Auch im Licht des Überwachungsskandals der Five Eyes-Staaten hat sich die EU-Kommission im Februar 2014 in einer Mitteilung zum Schutz der Menschenreche im Internet und zu transparenten, einschließenden und rechenschaftspflichtigen Multistakeholderprozessen bekannt (ohne indes darzulegen, was sie genau darunter versteht).

Ohne Völkerrecht hätten Internet Governance-Prozesse weder Finalität noch Bewertungsmaßstäbe. Transparenz, Inklusivität und Accountability, Entwicklungsorientierung und Menschenzentriertheit entfalten erst vor dem Hintergrund des Völkerrechts ihre spezifische Bedeutung für Governance-Prozesse. Dieser Schluss ist faktisch wie normativ, ist doch das Völkerrecht die einzige global akzeptierte Sammlung von Normen, um Themen des globalen öffentlichen Interesses zu verhandeln und globale öffentliche Güter zu schützen. Anders gewandt: Das Völkerrecht ist das ius necessarium des Internets.

5. Die Völkerrechtswissenschaft steht in der Verantwortung, die Herausbildung und Anwendung von völkerrechtlichen Normen  mit Internetbezug kritisch zu bewerten.

In den nächsten Jahren werden sich normative Prozesse um die Kristallisierung völkerrechtlicher Pflichten der unterschiedlichen völkerrechtlichen Stakeholder hinsichtlich des Internets beschleunigen. Das gemeinsame Ziel muss sein, die Integrität des Internets funktional zu schützen, um eine menschenzentrierte und entwicklungsorientierte Informationsgesellschaft zu schaffen, die, auf den Zielen und Prinzipien der Vereinten Nationen aufbauend, die Menschenrechte, wie sie sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in ihrer Weiterentwicklung in der Praxis ergeben, vollinhaltlich respektiert und schützt und in der menschliche Entwicklung im Einklang mit den internationalen konsentierten Entwicklungszielen verwirklicht werden kann.

Das verlangt dem Völkerrecht der Zukunft viel ab und stellt hohe Anforderungen an die Völkerrechtswissenschaft, die den Prozess systematisierend, aufklärend, erklärend begleiten muss. Zeit, dem jungen Invisible College ein reaktives und interaktives Kommunikationsforum an die Seite zu stellen: diesen Völkerrechtsblog, dessen Einrichtung ein wichtiger Schritt zur richtigen Zeit darstellt.

 

Zu diesem Text gibt es eine Replik und einen Rejoinder.

 

Dr. Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard) ist Post-Doc Fellow am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Lektor am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Karl-Franzens-Universität Graz.  

 

Cite as: Matthias C. Kettemann, “Grotius goes Google: Das Völkerrecht der Zukunft regelt das Internet im globalen öffentlichen Interesse”, Völkerrechtsblog, 2 May 2014, doi: 10.17176/20170104-155234.

Author
Matthias C. Kettemann

Matthias C. Kettemann is research program director at the Leibniz Institute for Media Research | Hans Bredow Institute (HBI), research group leader at the Humboldt Institute for Internet and Society, Berlin and at the Sustainable Computing Lab at the Vienna University of Economics and Business Administration, and adjunct professor of international law at Friedrich Schiller University, Jena.

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