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Gedenktag für Niemanden?

Das Erbe der UN-Resolution zum Srebrenica-Gedenktag

11.07.2024

Gedenken tendiert zum Scheitern und Gedenktage zur Enttäuschung. Mit dem „International Day of Reflection and Commemoration of the 1995 Genocide in Srebrenica“ manifestiert sich in UN-Resolution A/78/L.67/Rev.1 ein globaler Aufhänger der Empörung. Den Hinterbliebenen hilft das wenig; an alle anderen wird jedoch ausdrücklich die Anforderung gestellt, sich der Erinnerung zu verpflichten. Auf drei Ebenen führt die Resolution zu spezifischen Herausforderungen – und auf jeder einzelnen ist das Scheitern absehbar.

Im Juli 1995 eroberten bosnisch-serbische Truppen Srebrenica, eine von den Vereinten Nationen geschützte, demilitarisierte „Sicherheitszone“ im Osten Bosniens, und töteten systematisch mindestens 8000 bosniakische Männer und Jungen. Dieses mehrtägige Massaker an den muslimischen Bosniern, welches als Völkermord anerkannt wurde, ist eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist das Ausmaß eines Verbrechens, dessen Gedenken einerseits von Unwissenheit und Vernachlässigung im Westen geprägt ist und andererseits in der Region systematisch bekämpft wird.  Mitten in den angespannten Diskussionen zum Vorwurf eines aktuellen Genozids im Gazastreifen durch UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese wurde im Mai eine UN-Resolution verabschiedet, die den Opfern eines vergangenen und höchstrichterlich festgestellten Völkermords Anerkennung und Mitgefühl für ihr Leid ausdrücken soll. Deutschland und Ruanda haben die Verhandlungen federführend vorangetrieben. 84 Länder stimmten dafür. Neben den 19 Gegenstimmen (darunter auch Serbien, Russland und China), enthielten sich 68 Länder. Ungarn war der einzige EU-Mitgliedstaat, der sich gegen die Resolution aussprach. Damit liegt die Zahl der Länder, welche sich für eine Verabschiedung der Resolution ausgesprochen haben, knapp unter der Hälfte der Stimmbeteiligten. Entscheidend für die Annahme der Resolution ist aber nicht die absolute, sondern die einfache Mehrheit. Der internationale Gedenktag wird damit ab dem 11.07.2025 stattfinden – der 30. Jahrestag des Völkermordes in Srebrenica.

Die Resolution droht dabei jedoch ein Pyrrhussieg zu werden, der in gleich dreifacher Hinsicht ein Scheitern darstellen könnte:

Vor Ort: Die Opferverbände in Srebrenica

In Srebrenica selbst ist nur eine sehr begrenzte Wirkung der Resolution zu erwarten. Auf der einen Seite steht die Anerkennung des bosniakischen Leids, ein Sieg für die Opfer, die in Srebrenica um Gehör ringen. Auf der anderen Seite bleibt Srebrenica jedoch das, was es seit dem Krieg ist: eine Kleinstadt im Osten Bosnien-Herzegowinas, ohne Anbindung zu Sarajevo, ohne Besucher und ohne Perspektive. Die Opferverbände begrüßen zwar die Annahme der Resolution, aber waren mehr damit beschäftigt, jene serbischen Falschaussagen und Fehlinterpretationen des Abstimmungsverhaltens (vor allem in Bezug auf die 68 Enthaltungen) zu erklären, als dass sie tatsächlich die internationale Würde des Resolutionsbeschlusses vollumfänglich erleben konnten. Weiterhin handelt es sich bei UN-Resolutionen zum einen nur um Empfehlungen ohne rechtliche Bindung; zum anderen lassen sich daraus keinerlei konkrete finanzielle Unterstützungsleistungen ableiten. Dazu treten die brüskierten Reaktionen des politischen Establishments in der bosnischen Teilentität Republika Srpska. Eine Antwort der serbischen Kommunalpolitik: Wieso nicht Srebrenica einfach umbenennen? Was zuerst wie eine satirische Provokation erscheint, gewinnt allerdings an Ernst, wenn man bedenkt, dass die Meinungen über die Realität des Völkermordes auch in Srebrenica stark polarisieren – und zwar so sehr, dass selbst der serbische Bürgermeister, Mladen Grujičić, den Genozid abstreitet und das Gedenken daran für den wirtschaftlichen Misserfolg der Stadt verantwortlich macht.

Auf Anordnung des damaligen Hohen Repräsentanten Valentin Inzko wurde im Jahr 2021 eine Gesetzesänderung im bosnischen Strafrecht implementiert. Artikel 145a des bosnischen Strafgesetzbuchs erhielt fünf weitere Absätze, welche das Leugnen und Verherrlichen von international verurteilten Genoziden unter Strafe stellen (ohne Srebrenica explizit zu nennen). Allerdings divergieren hier Recht und Rechtspraxis, denn die Gesetzesänderung kommt praktisch nie zur Anwendung. Die ausbleibenden Strafverfolgungen entstammen aber nicht einem Mangel an Genozidleugnungen oder -verherrlichungen. Im Gegenteil: Bilder des damaligen serbischen Oberbefehlshabers (und heute vom MICT – dem Rechtsnachfolger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien – rechtskräftig verurteilten Kriegsverbrechers) Ratko Mladić lassen sich nach wie vor an den Straßenrändern der Republika Srpska, in welcher auch Srebrenica liegt, verorten; ganz zu schweigen von den jährlichen Glückwunschbekundungen und Pressemitteilungen anlässlich des Geburtstags von Mladić. In Srebrenica selbst finden sich ungewöhnlich wenige Hinweise auf den Genozid – keine einzige Straße oder Platz wurde nach dem Genozid oder seinen Opfern benannt. Die Gedenktafeln in der Stadt erinnern oft exklusiv an die getöteten Serben und an serbische Überlebende, die unter „den muslimischen Kriminellen litten“. Dass ab 2025 an den Universitäten dieser Welt nun häufiger Symposien und Workshops zum 11. Juli stattfinden, wird diese Situation absehbar nicht ändern.

In der Region: Institutionalisierter Nationalismus

Die Annahme der Resolution in der UN-Generalversammlung verschärft weiter die ethnischen Spannungen in der Region und wird wesentlich von den Regierungen in Banja Luka und Belgrad instrumentalisiert, um jene Strahlen der internationalen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In einer klassischen Täter-Opfer-Umkehr wird einerseits mit postkolonial geschulten Argumenten auf die welthistorische Nichtigkeit der hier zum Thema gemachten Gewalttaten rekurriert, um andererseits gleichzeitig die eigene Größe an den Gegenstimmen und Enthaltungen zur Resolution zu inszenieren. Auch wenn die UN-Resolution Serbien mit keinem Wort erwähnt, berichtet die regierungsnahe Zeitung Srpski Telegraf über die Abstimmung mit den Worten, dass die „Welt an Serbiens Seite stand“. Das bosnisch-serbische Präsidentschaftsmitglied Milorad Dodik und der serbische Präsident Aleksandar Vučić, die vermeintlichen Repräsentanten der serbischen Interessen, nutzen die UN-Resolution und das wachsende Interesse an Srebrenica für weitere Destabilisierung auf dem Balkan. Die „Büchse der Pandora“, wie Vučić das Thema Srebrenica bezeichnet, öffnen sie dabei selbst. Statt die blutige Historie auf dem Balkan aufzuarbeiten, setzt die serbische Politik auf Selbstviktimisierung, Nationalismus und Abspaltung. Vučić setzt diese Rhetorik gezielt ein: Mit der serbischen Flagge auf seinen Schultern nimmt er an der Abstimmung zur Resolution teil und betont danach (und mit ihm die serbische Presse), dass Serbien keine genozidale Nation sei – was die Resolution nicht postuliert. Die Resolution würde damit die internationale Anerkennung einer souveränen Republika Srpska unmöglich machen, Kollektivschuld verhängen und dem serbischen Ruf schaden. Dies dient auch dazu, die Aufmerksamkeit von ökonomischen Problemen auf historische Narrative zu lenken. Denn die Problematik, dass Belgrad beispielsweise nach wie vor die größte europäische Stadt ohne Metro ist, scheint in Wahlkämpfen nicht so instrumentalisiert werden zu können wie die vermeintliche Kollektivschuld des serbischen Volkes am Genozid in Srebrenica. Dabei fällt in der opferzentrierten Resolution kein einziger Hinweis auf Serbien, sondern es werden nur die Haupttäter individualisiert genannt.

Dennoch muss man versuchen, die serbischen Reaktionen zu verstehen, ohne sie zu legitimieren. Der deutsche Universalismus einer normativ ausgerichteten Erinnerungskultur, die über die Selbststigmatisierung den Faschismus (bisher) am Widererstarken (mit-)verhindert hat, ist nur begrenzt reisefähig. Das serbische Gedenken konzentriert sich auf die eigenen Opfer, die durch die feindlichen Mächte von den Osmanen bis zur NATO verursacht wurden. Dieses Gedenken kennt nicht die Möglichkeit der Kritik an vergangenen Taten, um die eigene aktuelle Demokratie zu stärken. Serbien nutzt die eigene Erinnerungskultur in der Außenpolitik, um Skepsis gegenüber feindlichen Mächten zu legitimieren und Allianzen zu festigen, während sie innenpolitisch als Quelle für den serbischen Nationalstolz dient. Die Forderung, nicht nur die eigenen Helden zu entthronen, sondern dies auch noch angeblich zum eigenen Wohl zu tun, geht der serbischen Politik dabei zu weit. Dieser Paternalismus wird mit Trotz quittiert, die dem (deutschen) Universalismus seinen eigenen Partikularismus nachzuweisen versucht – und damit den eigenen Partikularismus legitimiert. So erscheint es für einige Teile der Welt als Zumutung, dass gerade Deutschland und Ruanda den Lehrmeister spielen, nur weil sie die Singularität ihres eigenen Stigmas zu einem unverschämten Charisma der Schuld umwandelten (Lipp 2010). Die Deutschen haben sich daran gewöhnt nicht auf die eigene Geschichte, sondern auf ihre Geschichtsverarbeitung stolz zu sein. Dafür bedarf es jedoch der Einsicht – und diese lässt sich nicht vorschreiben.

International: Die Büchse der Pandora

Gedenken ist immer partikular. Das heißt im internationalen Raum, dass das Gedenken der einen das Vergessen der anderen zu bedingen scheint. Die Aufforderung, an die Opfer der einen zu gedenken, wird gleichzeitig als unzulässige Selektivität empfunden. Zumal doch bereits im gesamten Kalenderjahr nach dem offiziellen UN-Kalender ein Gedenktag dem anderen folgt. Und am 9. Dezember gedenkt man bereits der Opfer des Verbrechens des Völkermords und am 22. August der Opfer der Gewalthandlungen aufgrund der Religion oder der Weltanschauung – mal ganz abgesehen vom Tag der Menschenrechte, dem Tag für das Recht auf Wahrheit über schwere Menschenrechtsverletzungen oder dem Tag des Gewissens. Dass nun Srebrenica auch einen eigenen Gedenktag erhält, scheint begründungsbedürftig. Scheitern wir doch bereits fast täglich an den Anforderungen der bisherigen Gedenktage: Kaum jemand wird die bisherigen 9 offiziellen Gedenktage im UN-Kalender ausreichend würdigen können.

Aber nicht nur übt das Jubiläum einen zwanglosen Zwang aus, der die moralischen Kosten der Nichtbeachtung steigert; Srebrenica stellt in seiner spezifischen Singularität die Weltgemeinschaft vor die Aufgabe des ewigen Erinnerns, eben ob seiner Singularität. Das Versagen der Blauhelme, innerhalb der eigenen Schutzzone die Verschleppung und anschließende Ermordung von mehr als 8000 Zivilisten nicht verhindert zu haben, ist ein drängender Anlass zur niemals finalen Aufarbeitung. Vučić warnt zwar vor der Büchse der Pandora, in welcher er die Forderung nach weiteren Gedenktagen und damit weiteres politisches Chaos befürchtet, drückt damit aber eher die Sorge aus, dass dem serbischen Leid international zu wenig Beachtung geschenkt wird, anstatt eine fundierte Besorgnis zu äußern.

Wer aber meint, dass sich das Interesse der Generalversammlung an Srebrenica heute auch in lokalen Veranstaltungen niederschlägt, wird wohl enttäuscht werden. Dass dies in einem Jahr anders sein wird, darf eher bezweifelt werden. Da aber alle Organisationen der Vereinten Nationen, andere internationale und regionale Organisationen sowie die Zivilgesellschaft, einschließlich NGOs, akademische Einrichtungen und relevante Akteure eingeladen sind, am Gedenken zu partizipieren, wird die Ignoranz nur noch quälender, sei es von der internationalen Gemeinschaft oder von der serbischen Politik. Meist ist es dabei noch nicht einmal aktives Verschweigen, sondern eher die Ignoranz hinsichtlich des eigenen Unwissens, die aber aus dem geforderten Hochsprung einen moralischen Limbo macht. Die Latte des Gedenkens wird nicht gerissen, sondern unterlaufen.

Sind wir der Herausforderung gewachsen?

Die Frage, ob man nun eher Exkursionen nach Verdun oder Srebrenica organisieren soll, ob der D-Day oder der Volksaufstand des 17. Junis eher einen Tag des Gedenkens verdient hat, ist dabei ein Scheinproblem. Vielmehr besteht am Ende die Hoffnung, dass aus dem Bewusstsein der Gräueltaten und Toten eine Resilienz entsteht, die die Demokratie in Europa (und darüber hinaus) gegen verschiedene politische Erschütterungen stärkt. Unwissen ist die Vorstufe zur Leugnung und dies gilt es zu verhindern. Es ist die Hoffnung, dass die Leser und Leserinnen dieses Beitrags jene Provokation aufnehmen und zumindest das Scheitern aus Punkt drei (nämlich solches der internationalen Gemeinschaft) verhindern.

Gedenken ist eine Herausforderung, die teilweise auch lästig sein kann. Es wirkt rückwärtsgewandt und unproduktiv. Wie es Adorno polemisch gegen den scheinheiligen Anspruch auf Vergessen ausdrückte: „Wer sich keine unnützen Gedanken macht, streut keinen Sand ins Getriebe“ (Adorno 1979, 568). Das Argument des Bürgermeisters, Srebrenica müsse umbenannt werden, um Investoren nicht durch die historische Belastung abzuschrecken, greift aber zu kurz. Die wirtschaftlichen Probleme der Stadt resultieren nicht aus einem angeblichen zu beseitigenden Stigma, sondern aus den anhaltenden Spannungen zwischen Serben und Bosniaken, die wirtschaftliche Zusammenarbeit verhindern. Die Lösung liegt nicht im Vergessen, sondern in der Aufklärung und der Förderung von Dialog und Versöhnung, um nachhaltige wirtschaftliche Fortschritte zu erzielen.

Und für Europa und die gesamte Weltgemeinschaft sollte Srebrenica keine lästige Zumutung darstellen, sondern eine würdige Aufgabe, in dem Respekt gegenüber Opfern und in dem Aufbau eines (europäisch) kollektiv geteilten Geschichtsbewusstseins die Grundlagen für die zukünftige Zusammenarbeit zu finden. Srebrenica ist nicht einfach das Versagen einer einzelnen Nation, sondern das Scheitern der Vereinten Nationen. Jene ewige Selbstverpflichtung zu Demokratie und Rechtsstaat, die für Deutschland über die konstante Bearbeitung der Geschichte des Holocausts bedingt wurde, kann für die Weltgemeinschaft über jene Aufarbeitung der Völkermorde in Srebrenica und Ruanda stattfinden.

Das Narrativ unter den Hinterbliebenen der Genozidopfer bleibt – trotz Resolution – dasselbe: Niemand interessiert sich für Srebrenica. Ab heute bleibt ein Jahr Zeit, das Gegenteil zu beweisen. Gedenken kann dabei auch Formen annehmen, die den Opfern das Empfinden einer echten Hilfe vermitteln. Zur Erinnerung: Dazu zählt mehr als eine Schweigeminute im Bundestag. Spendenaufrufe, Exkursionen, Bildungsangebote vor Ort, das Bereitstellen von Plattformen für Künstler und Schriftsteller – das sind nur einige Vorschläge, um der Resolution zur vollen Geltung zu verhelfen.

 

Dieser Beitrag wurde auch auf dem ostBLOG veröffentlicht.

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Tim Huyeng

Tim Huyeng is a research associate at the Forschungskolleg normative Gesellschaftsgrundlagen and a lecturer in sociology at the University of Bonn. He is writing his doctoral thesis on informal institutions and corruption in Croatia.

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Selin Schumacher

Selin Schumacher is a student assistant at the Forschungskolleg normative Gesellschaftsgrundlagen and studies law at the University of Bonn. She is currently attending a summer school in Srebrenica.

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