Eurozentrismus und strategische Interessen in der Wissensproduktion über Migration in den 1940er und 1950er Jahren
Die politische Aushandlung, Formulierung und Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention von siebzig Jahren ging mit einem Wissen über Migration als einem global zu lösenden Problem einher, das es kritisch zu hinterfragen gilt. Die These des vorliegenden Beitrags lautet erstens, dass die Ausrichtung und der Fokus sozialwissenschaftlicher Studien in den 1940er und 1950er Jahren zum Eurozentrismus der Konvention beitrugen und dass sich die dominanten politischen Akteur*innen zweitens der Macht einer kontrollierten Geschichtsschreibung bewusst waren und diese entsprechend steuerten.
Was führte 1951 zum Eurozentrismus der Genfer Flüchtlingskonvention, einer Konvention, die im Rahmen der jungen Vereinten Nationen verabschiedet wurde und damit vorgab, der Prämisse zu folgen, dass Probleme zukünftig global und staatengemeinschaftlich betrachtet und gelöst werden müssten, zumindest in der „freien Welt“?
Die „colonial roots“ dieses weltpolitischen settings zeichnete Ulrike Krause jüngst nach, die kollektive Ignoranz der am Entwurf der Konvention beteiligten westlichen Staaten gegenüber ihrer eigenen kolonialistischen Vergangenheit und Gegenwart, führten maßgeblich zu diesem Eurozentrismus. Die westlichen Staaten, die die Verhandlungen über die Formulierung der Konvention dominierten, nahmen ihre eigenen „Probleme“ wichtiger als die des Globalen Südens und zeigten gleichzeitig keine Einsicht in eine wirklich globale Dimension von Problembewusstsein, die sie gezwungen hätte, auch den eigenen Kolonialismus zu thematisieren. Ein europäisches Flüchtlingsphänomen wurde dadurch und durch die gleichzeitige Metaerzählung des Kalten Krieges zu dem globalen Problem, das es zu lösen galt. Flucht in Asien war ein Problem der „Anderen“ und würde man dortige Flüchtlingsproblematiken mitbedenken und weltpolitisch lösen wollen, so würde die Konvention außerdem scheitern. Vertreter*innen diverser Verhandlungsstaaten äußerten Krause zufolge ganz offensiv, den Konventionsentwurf abzulehnen, würde er nicht nur ein europäischen Flüchtlingsproblem benennen.
Koloniale Ignoranz wurde also auch mit Pragmatismus gleichgesetzt und noch gab es weder (post‑)koloniale Politiker auf der Bühne der Internationalen Gemeinschaft, wie bereits kurze Zeit später in Person Gamal Abdel Nassers, Josip Broz Titos, Jawaharlal Nehrus oder auch Fidel Castros, noch Intellektuelle wie Frantz Fanon oder Albert Camus, die den dominanten westlichen Kräften in den Vereinten Nationen diesen einfachen Weg erschwert hätten, indem sie deren eurozentristische Sichtweisen benannten und beanstandeten. Nur wenige Jahre später würden diese Akteure die Kolonialmächte in ihrem Glauben kritisieren, dass sie die Interessen der Menschen in den bestehenden und ehemaligen Kolonien durchaus angemessen repräsentieren könnten.
In zwei Teilen möchte ich im Folgenden zwei weitere Akteure und Aspekte beleuchten, die vor siebzig Jahren maßgeblich zur eurozentristischen Ausgestaltung des modernen Migrationsregimes beitrugen: Erstens die politikberatenden Wissenschaftler*innen, die Wissen über das Migrationsregime herstellten und dabei die eurozentristische und westliche Sichtwiese prägten und zweitens – in einem folgenden Beitrag – die aktiven staatlichen Akteur*innen aus dem Globalen Süden, die sicher vornehmlich relativ passiv waren, wie Ulrike Krause betont, gleichzeitig aber auch einer eigenen politischen Agenda folgten, in der Rassismus eine wichtige Rolle spielte und die ihrerseits ebenfalls zum Eurozentrismus der Genfer Flüchtlingskonvention beitrugen.
Das vermeintlich globale Migrationsproblem, dass die Genfer Flüchtlingskonvention zu adressieren gedachte, wurde nicht nur in den entsprechenden Verhandlungen bei den Vereinten Nationen definiert. In sozialwissenschaftlichen Auftragsstudien mit politikberatender oder sogar strategischer Intention, war dieses Problem bereits umrissen worden bzw. wurde zur selben Zeit definiert.
Einer der einflussreichsten zeitgenössischen Texte, den die meisten Teilnehmer*innen der Verhandlungen der Genfer Flüchtlingskonvention auf jeden Fall zumindest in seinen Kernaussagen kannten, war sicherlich Eugene M. Kulischers Buch „Europe on the Move “ von 1948, das zunächst durch den Titel deutlich macht, wo Migration geografisch verortet wurde. Der russisch-amerikanische Soziologe hatte in den USA unter anderem für das Office of Strategic Services gearbeitet, der seinerzeit wichtigen Nachrichtendienstabteilung des US-Kriegsministeriums und für das International Labour Office und formulierte auch aus diesen strategischen Positionen heraus Interpretationen globaler Problemlagen. Kulischers Buch kann als Pionierstudie über das moderne Migrationsregime gelten und der Verdienst liegt auch darin, dass der Autor europäische Migrationsbewegungen und demographische Fragen historisch und geografisch so umfangreich und analytisch so komplex beschrieb und einordnete, wie niemand vor ihm.
Dennoch verdeutlicht seine Studie den eurozentristischen Charakter der politikberatenden oder ‑flankierenden Wissensproduktion über Migration in den 1940er und 1950er Jahren. Während Kulischer sein Buch verfasste, hatten, wie Peter Gatrell nachzeichnet, zumindest die japanische Invasion in China, der Indochinakrieg und die japanische Eroberung Burmas bereits große Fluchtbewegungen in Asien ausgelöst. Gegenstand Kulischers Untersuchung war Flucht in Asien jedoch nicht beziehungsweise nur dort, wo diese sich geographisch in die Region hineinbewegte, die ihn interessierte, nach Ost- und Westeuropa, wenn er also zum Beispiel für die Zwischenkriegszeit feststellte: „The total proportion of persons of the yellow race in the Soviet far east was about one fifth.“ Und nein: der Sinn des Zitats ist dabei kein billiges fishing for Empörung („Hat er yellow race gesagt?“). Ein 1948 veröffentlichter Text soll hier nicht am Diskussionsstand und wording des Jahres 2021 gemessen werden. An dieser Stelle geht es vielmehr um einen interessanten eurozentristischen turn in Kulischers einflussreicher Arbeit. Zu Beginn seiner Studie benannte er Migration zunächst als eines der zentralen welthistorischen Phänomene, „the often-neglected part which migration […] has played in world history …“, um dann einzuleiten, sich dem Thema nun mit Blick auf Ost- und Westeuropa anzunehmen und schließlich (nicht zu Unrecht) mit der Forderung zu schließen, dass „[t]he resettlement of „nonrepatriable“ refugees should be the initial step. It is the first concrete problem to be solved by the United Nations.” Konkret bezog sich diese Forderung auf die Arbeit der International Refugee Organization (IRO), in den kurz danach beginnenden Diskussionen über die Genfer Flüchtlingskonvention hallte sie aber sicherlich noch nach. Das global zu lösende Problem lag also in Europa.
Kulischers Buch war seinerzeit die vermutlich einflussreichste Studie, die den Eurozentrismus der Genfer Flüchtlingskonvention mitbedingte. Dabei sah Kulischer durchaus voraus, dass auch in Asien zukünftig mit größeren Migrations- und Fluchtphänomenen zu rechnen sei. „For the near future“, prognostizierte er, „the outlook for Asia’s demographic process seems to be a series of repressive checks by famine and civil war.“ Und obwohl er Migration in und aus Asien in seinem Schlusswort nicht explizit benannte, meinte er diese in seinen zukunftsblickenden Ausführungen über Geburtenkontrolle, die Gefahr atomarer Kriege und Migrationspolitik als globaler Problemlösung vielleicht sogar mit. Den Leser*innen musste dennoch der europäische Fokus seines Buchs im Gedächtnis bleiben und eine entsprechende Studie mit Blick auf Migration in Asien als einem Gegenstand globaler Ordnungspolitik gab es nicht.
Das es nun, zu einem Zeitpunkt, als innerhalb der Vereinten Nationen begonnen wurde, über Flüchtlinge und ihren Schutz zu debattieren, an der Zeit sei, (eurozentristische) Geschichtsschreibung in die eigene Hand zu nehmen und zu forcieren, entdeckten die an den Verhandlungen der Genfer Flüchtlingskonvention beteiligten Akteur*innen aber auch selbst. Die US Displaced Persons Commission legte beispielsweise bereits 1948 im US Displaced Persons Act fest, dass die Geschichtsschreibung über das eigene Handeln Teil der US-Flüchtlingspolitik sein sollte und diese geplante Geschichtsschreibung nicht nur ein Bericht US-amerikanischen Engagements sein sollte, sondern „an actual analysis and a look to the future. The chief historian reported for duty in November 1951. “
Mit der Idee, die eigene Geschichtsschreibung gleich mitzuplanen und zu prägen, folgte die US Displaced Persons Commission dabei beispielsweise der 1943 gegründeten United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die die Erzählung von sich selbst von Anfang an mitgedacht hatte. Alles Material wurde dafür während der politischen Operation gesammelt und katalogisiert und bereits 1950, wenige Jahre nach Beendigung der UNRRA-Operationen konnte George Woodbridge die mehrbändige „History of the United Nations Relief and Rehabilitation Administration“ veröffentlichen. Nach dem Vorbild Woodbridges und der UNRRA orientierte sich wiederum auch die 1946 bei den Vereinten Nationen gegründete IRO. Auch sie baute nicht auf nachträgliche Geschichtsschreibung durch unabhängige Historiker*innen, sondern nahm ihre Geschichtsschreibung von Anfang an selbst in die Hand. So veröffentlichte ihr damaliger Generalsekretär Donald Kingsley 1951 mit dem Buch „Migration from Europe“ eine erste Geschichte der IRO, die schon durch den Titel wiederum deutlich auf die bewusste eurozentristische Perspektive verweist. Und das Buch sollte gelesen werden und entsprechenden Einfluss auf Problemwahrnehmungen ausüben; dafür erschien es gleichzeitig in englischer, französischer, spanischer, deutscher und italienischer Sprache.
Die IRO beschäftigte aber auch ein Historiker*innen-Team unter Leitung des Briten L. Michael Hacking, dessen Auftrag wie folgt definiert wurde: „[to write] an objective study of the Organization’s activities, the origin and development of its policies and practices, as well as the final result and achievements”. Auf die Arbeit Hackings griff die US Displaced Persons Commission wiederum ihrerseits zurück, als sie 1952 das Buch „The DP Story “ veröffentlichte, als einer “history of a unique and most significant experience in American foreign policy.” Gleichzeitig wurde Hackings Studie letztendlich nach einem Streit zwischen den beauftragenden politischen Akteur*innen nicht veröffentlicht. George Warren, US-Delegierter im General Council der Vereinten Nationen, attestierte Hackings Manuskript Antiamerikanismus und bezeichnete den Historiker selbst als unfähig, etwas Besseres produzieren zu können. Daraufhin wurde die Politikwissenschaftlerin Louse Holborn beauftragt, Hackings Arbeit zu übernehmen. 1956 erschien unter dem Titel „The International Refugee Organization “ dann ihre beauftragte Geschichtsschreibung der Organisation, in deren Vorwort sie George Warren für seine konstruktive Kritik dankte, L. Michael Hacking hingegen unerwähnt ließ.
Die beauftragte Wissensproduktion, die die Ausgestaltung der Genfer Flüchtlingskonvention begleitete, hatte zusammengefasst also einen deutlichen eurozentristischen Fokus und die Beauftragung selbst zeugt dabei vom Wert, den die politische Akteur*innen dieser eurozentristischen Wissensproduktion beimaßen. In jeder migrationspolitischen Aktion der 1940er und 1950er Jahre war die eigene Geschichtsschreibung schon mitgedacht und Politik wurde wiederum (auch) auf grundlage dieser Geschichtsschreibung gemacht.
Eine Wissensproduktion, die somit in der Konsequenz zumindest von großer Gleichgültigkeit gegenüber Migrationsbewegungen in Asien zeugte. Das Ignorieren Afrikas und Lateinamerikas bei der Verhandlung der Konvention und in der flankierenden Wissensproduktion hatte dabei eher mit weltpolitischer Kurzsicht zu tun. Dass sich zukünftig neue Fluchtphänomene im Globalen Süden entwickeln könnten, wurde in den Diskussionen über die Genfer Flüchtlingskonvention noch nicht mitgedacht. Afrika und Lateinamerika wurden in der Wissensproduktion über Migration der späten 1940er und frühen 1950er Jahre vor allem als Kontinente wahrgenommen, auf denen noch Platz für Menschen war und die entsprechend Zielland internationalen Resettlements sein konnten. Dass politische Unruhen, Bürgerkriege, Autoritarismus oder Hungersnöte auch hier zu Migration in großem Umfang führen könnten, wurde in der Diskussion nicht berücksichtigt.
Dass ein Rassismus in diesen Zielländern in den 1940er und 1950er Jahren wiederum seinerseits zur eurozentristischen Ausrichtung der Genfer Flüchtlingskonvention beitragen sollte, wird in Teil 2 dieses Beitrags thematisiert.
Ein Aufsatz des Autors zum Thema dieses Beitrags befindet sich derzeit im Begutachtungsprozess und kann bei Interesse – auch an den zitierten aber in diesem Blog nicht nachweisbaren Archivquellen – gerne zur Verfügung gestellt werden.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „70 Jahre UNHCR und Genfer Flüchtlingskonvention: Globale Entwicklungen“, die gemeinsam durch den Völkerrechtsblog und den FluchtforschungsBlog herausgegeben wird.
Sebastian Huhn, Historiker und Politikwissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Osnabrück und Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Historische Migrationsforschung, Gewalt- und Konfliktforschung, Migration und Gewalt, Diskurse über nationale Identität und Geschichtsbilder sowie Lateinamerikanische Geschichte.