Erlaubte Interessensvertretung oder unzulässige Einmischung?
Der ukrainische Botschafter und das Diplomatenrecht
In den letzten Wochen hat sich in der deutschen Öffentlichkeit eine Debatte über die Rolle des ukrainischen Botschafters in Deutschland entfacht. In diese politische Debatte hält zunehmend ein juristisches Argument Einzug: Die Äußerungen des ukrainischen Botschafters stellten eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik dar und verstießen daher gegen Artikel 41(1) S.2 Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (WÜD). Artikel 41(1) S.2 WÜD lautet:
„Alle Personen, die Vorrechte und Immunitäten genießen, sind unbeschadet derselben verpflichtet (…), sich nicht in dessen [des Empfangsstaats] innere Angelegenheiten einzumischen.“ (hier für rechtsverbindliche englische Sprachfassung)
Schien dieses juristische Argument zunächst nur eine untergeordnete Rolle in Diskussionen auf Twitter zu spielen, wird dieses Argument nun vermehrt von „traditionellen“ Medien (beispielsweise hier und hier) und auch in der Politik (hier) aufgegriffen.
Das Ergebnis vorweggenommen: Ein Verstoß gegen Artikel 41(1) S.2 WÜD liegt nicht vor. Die entscheidende Rolle des Artikel 3(1)(b) WÜD, wonach es die Aufgabe einer diplomatischen Mission ist die Interessen ihres Entsendestaates zu vertreten, wird in diesem Zusammenhang übersehen. Es ist hervorzuheben, dass sich die Untersuchung auf den aktuellen Stand bezieht und sich die rechtliche Lage mit weiteren Äußerungen ändern kann.
Sachverhalt – Kritik an fehlendem Energieembargo und bisherigen Waffenlieferungen
Doch was wird dem Botschafter der Ukraine konkret vorgeworfen? Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24.02.2022 setzt sich der ukrainische Botschafter in der Öffentlichkeit für Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine und einen Lieferstopp von Öl und Gas aus Russland ein. Er nutzt dafür zahlreiche Kanäle wie Talkshows, soziale Medien, Zeitungs-, Radio– und Fernsehinterviews. In seiner Kritik geht der ukrainische Botschafter häufig direkt auf das Verhalten oder Äußerungen von hochrangigen deutschen Politikern ein (Beispiele hier oder hier oder hier). Zu Beginn der letzten Woche wies der Pressesprecher des Bundespräsidenten Kritik des ukrainischen Botschafters an Bundespräsident Steinmeier zurück (hier). Einige Äußerungen des Botschafters und/oder deren Zusammenschau werden von manchen als unzulässige Einmischung gesehen.
Verstoß gegen Artikel 41(1) S.2 WÜD aufgrund der Einmischung in innere Angelegenheiten?
Ein Verstoß gegen Artikel 41(1) S.2 WÜD verlangt die Einmischung einer Person, die Vorrechte und Immunitäten nach dem WÜD genießt in die inneren Angelegenheiten des Empfangsstaats. Eine Person, die Vorrechte und Immunitäten nach dem WÜD genießt ist der ukrainische Botschafter gemäß der Artikel 1(e), 29, 31 WÜD unstreitig. Eine Einmischung iSd Artikel 41(1) S.2 WÜD kann definiert werden als
„conduct, adopted by a beneficiary of diplomatic privileges and immunities, which introduces an outside element into internal matters of the receiving State, and, by doing so, causes a disturbance“ (Behrens S. 55).
Die vom ukrainischen Botschafter geäußerte Kritik an der deutschen Ukraine-Politik muss sich daher innerhalb der Reichweite des Artikel 41(1) S.2 WÜD bewegen und muss darüber hinaus in ihrer „Art und Weise“ dem Artikel 41(1) S.2 WÜD Rechnung tragen (Oelfke et al., 332ff).
Äußerungen im Spannungsverhältnis von Artikel 41(1) S.2 und Artikel 3(1)(b) WÜD
Der Wortlaut des Artikel 41(1) S.2 WÜD spricht von „inneren Angelegenheiten“, weshalb umstritten ist, ob auch die Außenpolitik des Empfangsstaates von der Norm umfasst ist (Oelfke et al., 332). Die ILC, welche mit dem Entwurf des WÜD betraut war, hatte sich gegen die ausdrückliche Aufnahme des Wortes „Außenpolitik“ in Artikel 41 WÜD entschieden, da es ihrer Ansicht nach gerade die Hauptfunktion diplomatischen Personals sei, mit dem Empfangsstaat zu verhandeln und die Beziehungen des Empfangsstaates mit dem Entsendestaat zu beeinflussen (ILC, 143–9). Im Lichte des russischen Angriffskrieges handelt es sich bei den Fragen der deutsch-russischen Energiebeziehungen und den Waffenlieferungen an die Ukraine weniger um Innenpolitik, sondern vielmehr um Außenpolitik.
Geht man jedoch davon aus, dass Artikel 41 WÜD grundsätzlich auch die Außenpolitik des Empfangsstaates umfasst, ist ein besonderer Maßstab anzulegen, wenn die Äußerungen diplomatischen Personals nicht die Außenpolitik des Empfangsstaats gegenüber irgendeinem Staat betreffen, sondern gegenüber dem Entsendestaat des sich äußernden diplomatischen Personals. Denn in einem solchen Fall steht Artikel 41 (1) S.2 WÜD im Spannungsverhältnis mit Artikel 3(1)(b) WÜD, welcher wie folgt lautet:
„Aufgabe einer diplomatischen Mission ist es unter anderem (…) b) die Interessen des Entsendestaats und seiner Angehörigen im Empfangsstaat innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen zu schützen“.
Bereits die ILC erkannte dieses Spannungsverhältnis, vgl. S. 17, Artikel 40 Commentary (2). Artikel 3(1)(b) WÜD regelt die Repräsentationsfunktion der Mission im bilateralen Verhältnis und postuliert die rechtliche Aufgabe der Mission die Interessen des Entsendestaates im Empfangsstaat zu vertreten. In Auflösung des Spannungsverhältnisses dieser beiden Normen, bleibt es den Missionsmitgliedern unbenommen, sich zur Außenpolitik des Empfangsstaates zu äußern, soweit es sich um die Außenpolitik des Empfangsstaates gegenüber dem Entsendestaat handelt (Denza, 380; Oelfke et al., 333).
Im Lichte der vorgestellten Reichweite des Artikels 41(1) S.2 WÜD bleibt es dem ukrainischen Botschafter rechtlich unbenommen, sich inhaltlich wie bisher zu äußern. Die in Bezug auf die Waffenlieferungen geäußerte Kritik bezieht sich auf das bilaterale Verhältnis zwischen Deutschland und der Ukraine. Ein Energieembargo wäre eine Handlung gegenüber Russland, und damit streng genommen gegenüber einem Drittstaat. In der vorliegenden Kriegssituation dient ein solches Embargo jedoch auch den Interessen der Ukraine. Es würde bei einem solchen Embargo gleichermaßen um eine Unterstützung der Ukraine gehen, wie um eine Sanktionierung Russlands. In ihrer Ablehnung eines Energieembargos argumentieren deutsche Regierungsvertreter*innen nicht damit, dass es gelte, die diplomatischen Beziehungen zu Russland aufrecht zu erhalten, sondern verweisen auf einen möglichen Energieengpass (beispielsweise hier). Dies als Außenpolitik ausschließlich gegenüber Russland als Drittstaat zu betrachten wäre mithin formalistisch. Der ukrainische Botschafter bezieht seine Kritik daher in aller Regel auf das bilaterale Verhältnis von Deutschland und der Ukraine. Der Inhalt der Kritik ist rechtlich zulässig.
„Art und Weise“ von Äußerungen in staatlicher Ausnahmesituation
Die Frage ist, ob nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die „Art und Weise“, d.h. durch Form oder Mittel der Interessenvertretung gegen Artikel 41(1) S.2 WÜD verstoßen werden kann (Oelfke et al., 333f.). Gerade die „Art und Weise“ der Äußerungen des ukrainischen Botschafters scheinen der Hauptpunkt des Anstoßes zu sein. Explizit sagt das WÜD zur „Art und Weise“ nichts. Einige untersagte Mittel wären beispielsweise die Teilnahme an revolutionären Umtrieben oder Demonstrationen oder die persönliche Unterstützung einer Partei im Empfangsstaat.
Wer die Ansicht vertritt, dass bei einer schlichten Äußerung im Rahmen eines berechtigten Interesses die „Art und Weise“ heutzutage keine Rolle mehr spielt, sondern in einem derartigen Fall „Art und Weise“ der Äußerungen lediglich als „comity“, d.h. als außerrechtliche Kategorie der Höflichkeit, des Brauchs oder der Gewohnheit, betrachtet werden, würde einen Rechtsverstoß damit bereits ablehnen. Es ist jedoch zutreffend auch in Fällen schlichter Äußerungen im Rahmen eines berechtigten Interesses der „Art und Weise“ rechtliche Relevanz beizumessen. Denn auch die „Art und Weise“, unabhängig vom Inhalt, kann ein Eingriff in die inneren Angelegenheiten sein, wenn beispielsweise trotz des berechtigten Interesses diskriminierende Äußerungen gegenüber dem Empfangsstaat oder dessen Vertretern erfolgen (Oelfke et al., 334), welche das Ansehen des Empfangsstaates in der Staatengemeinschaft schädigen. Eine abstrakt klar definierbare Grenze bezüglich der „Art und Weise“ einer Äußerung festzulegen fällt allerdings schwer. Eine Grenze stellen in dieser Hinsicht die Strafrechtsnormen des Empfangsstaates dar, dies im Lichte des Artikel 41(1) S.1 WÜD, welcher die Einhaltung der Gesetze des Empfangsstaates auch für Mitglieder der Mission vorschreibt (Oelfke et al., 334).
Die dargestellte, unklare rechtliche Grenze bezüglich der „Art und Weise“ schlichter Äußerungen erlaubt eine Veränderung des Maßstabs in Krisensituationen. So formulierte beispielsweise die niederländische Regierung in einem Memorandum of Reply zu einer Anfrage des Parlaments im Rahmen der Zustimmung zur WÜD wie folgt: „[I]nadmissible interference in the internal affairs of a receiving State vary from place to place and from time to time“ (Denza, 379). In Anbetracht der aktuellen Kriegs- und Krisensituation entsteht der Eindruck, dass der generelle Standard diplomatischer Zurückhaltung in der Staatenpraxis absinkt, unabhängig davon, ob man dies nun als eine für die zwischenstaatlichen Beziehungen positive oder negative Entwicklung betrachten mag.
Insbesondere, und dies ist für den konkreten Fall der Ukraine das entscheidende Argument, erscheint „undiplomatische“ Kritik, im Lichte der existenziellen Bedrohung der Ukraine als unabhängiger Staat, zulässig, wenn sehr klar formulierte Forderungen und Kritik am Empfangsstaat Deutschland einen Beitrag dazu leisten können, die Existenz der Ukraine als Staat zu sichern. Auch hier erlangt Art. 3(1)(b) WÜD Relevanz, weil er als Maßstab zur Abwägung der „Art und Weise“ der Interessenwahrnehmung des Entsendestaats dienen kann (Oelfke et al., 334; vgl. Richtsteig, 102). Solange also inhaltlich keine Einmischung in innere Angelegenheiten vorliegt, ist auch bezüglich der „Art und Weise“, wie dieses berechtigte Interesse formuliert wird, eine Abwägung zwischen Artikel 41(1) S.2 WÜD und Artikel 3(1)(b) WÜD notwendig. Mithin muss „Art und Weise“ der Kritik am Verhalten des Empfangsstaates durch den Entsendestaat in Kriegszeiten öffentlicher und deutlicher als zu Friedenzeiten ausfallen dürfen, womit die dezidiert außenpolitischen, und damit hier relevanten, Äußerungen des ukrainischen Botschafters im Ergebnis zulässig sind.
Als äußerste Grenze verbleiben damit strafrechtlich relevante Äußerungen, welche aber im Zusammenhang mit einer potenziellen Einmischung in innere Angelegenheiten stehen müssen, sonst ist Artikel 41(1) S.1 WÜD anwendbar. Manche mögen einige Äußerungen des ukrainischen Botschafters als politisch irritierend oder deplatziert erachten. Dass die Grenze zur strafrechtlichen Relevanz überschritten wird, ist jedoch nicht erkennbar, wobei insbesondere bei Beleidigungstatbeständen Zurückhaltung vor vorschnellen Urteilen geboten ist. Die geäußerte Kritik an offiziellen Regierungsvertreter*innen, wie beispielsweise Bundespräsident Steinmeier, Bundeskanzler Scholz oder Bundesfinanzminister Lindner (für eine Zusammenstellung von Zitaten hier) mag harsch sein, stellt jedoch keine Beleidigung oder Verleumdung iSd des deutschen StGB dar.
Im Lichte der vorangegangenen Ausführungen stellen die relevanten Äußerungen des ukrainischen Botschafters keine Einmischung in innere Angelegenheiten Deutschlands dar. Die Interessen der Ukraine im Lichte des Artikel 3(1)(b) WÜD überwiegen rechtlich das deutsche Interesse an diskreter Kritik im Rahmen der üblichen diplomatischen Gepflogenheiten aus Artikel 41(1) S.2 WÜD.
Weder Inhalt noch Form eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten
Die Beurteilungen der Äußerungen des ukrainischen Botschafters verkennen mit Blick auf Inhalt und Form die entscheidende Rolle des Artikel 3(1)(b) WÜD. Weder inhaltlich, noch in Bezug auf die Art und Weise liegt daher ein Verstoß gegen Artikel 41(1) S.2 WÜD vor.
Nathanael van der Beek is a research fellow and PhD candidate at Freie Universität Berlin, working in the Berlin Potsdam Research Group “The International Rule of Law – Rise or Decline?”.