Kommentar zum Beitrag von Jorrik Fulda
In seinem aufschlussreichen Beitrag argumentiert Jorrik Fulda, dass die Vereinten Nationen als System kollektiver Sicherheit dem antiken Modell der Koine Eirene (κοινὴ εἰρήνη) oder Amphiktyonie nachgebildet sind, einem Bündnis griechischer Stadtstaaten, das der Pflege eines gemeinsamen Kultes und der Verteidigung verpflichtet war. Beide seien partikular – und „auf die realpolitische Unterstützung durch einen ambivalenten Hegemon angewiesen“.
Fulda geht auf Parallelen und Unterschiede ein, vergleicht das antike griechische System der Friedenssicherung mit dem UN-System und konstatiert starke Ähnlichkeiten: der Sicherheitsrat agiert aus seiner Sicht wie das Synedrion der Griechen, Abkommen werden ohne zeitliche Befristung geschlossen (und gewinnen für Fulda so „einen gewissen konstitutionellen Status“), der Eid des Korinthischen Bundes findet seine Entsprechung in der Charta der Vereinten Nationen. Deutlich unterschiedlich ist indes der Geltungsbereich beider Systeme: als regionales System standen die antiken Bünde nur Griechen offen, während das UN-System auf Universalität angelegt ist.
Ähnlichkeiten mag es geben – doch begeht Jorrik Fulda hier nicht einen unverzeihlichen Anachronismus? Ist alles nicht viel komplizierter? Müsste man die griechischen Bünde nicht viel detaillierter im Kontext ihrer Zeit analysieren? Handelt es sich bei den Zusammenschlüssen, die hier beschrieben werden (etwa dem Korinthischen Bund), überhaupt um Amphyktionien – und nicht um Symmachien? Diese Fragen müsste ein kompetenter Althistoriker beantworten.
Ursprünge des Gegenwärtigen
Aber darum geht es dem Autor gar nicht. Der Politikwissenschaftler Fulda will nicht etwa Ereignisse einer fernen Vergangenheit besser verstehen – ihm geht es darum, die Ursprünge gegenwärtiger Ideen, Institutionen und Praktiken freizulegen, ihre Genealogien nachzuzeichnen und den Prozess ihrer Aneignung zu beschreiben. In seiner Hamburger Dissertation, die im Umfeld einer interdisziplinären Forschungsgruppe zum „Global Constitutionalism“ von Antje Wiener betreut wurde, entfaltet Fulda seine Theorie einer „Globalen Koine Eirene“, die davon ausgeht, dass es sich bei den Vereinten Nationen um eine „Kopie“ antiker Vorbilder handelt: „Die Ausdehnung des lokalen Prinzips der Koine Eirene des antiken Griechenlands auf die globale Ebene der Neuzeit, in der sich dieselbe Konstellation von Akteuren widerspiegelt: Die UN-Charta ist das Pendant der antiken Friedensverträge, die sich auch heute an alle beigetreten Staaten unter Wahrung ihrer völkerrechtlichen Autonomie richtet und auf unbestimmte Zeit angelegt wurde. Die USA sind die moderne Hegemonialmacht (das moderne Makedonien), welche dem Friedensvertrag realpolitische Stabilität verleiht – diesem aber auch gefährlich werden kann.“
Völkerrechtliche Konstitutionalisierung und hegemoniale Macht
Als Beitrag zur Theorie der Internationalen Beziehungen (IB) reagiert Jorrik Fuldas Arbeit auf Michael Zürns Aufruf von 2007, eine integrative Theorie von Normen und Macht zu entwerfen, welche die paradoxe Gleichzeitigkeit von egalitärer Konstitutionalisierung und unipolarer US-Hegemonie erklären kann – ein Thema, das spätestens seit dem Irakkrieg 2003 weit oben auf der Agenda von Politikwissenschaftlern und Völkerrechtlern steht. Noch immer lesenswert sind dazu die Beiträge eines von Georg Nolte und Michael Byers herausgegebenen Bandes, der die Erträge eines bereits vor 9/11 begonnenen Projektes versammelt. Nico Krisch hat sich 2005 in dem ebenfalls daraus hervorgegangenen vielbeachteten Aufsatz „International Law in Times of Hegemony: Unequal Power and the Shaping of the International Legal Order“ mit dem Verhältnis von Hegemonie und Völkerrecht befasst und die vielfältigen Formen untersucht, in denen dominante Staaten mit dem Völkerrecht interagieren, illustriert durch Beispiele aus der Geschichte der vergangenen 500 Jahre. Wilhelm Grewe argumentiert in seinen 1984 veröffentlichten, bereits 1944 als Habilitationsschrift fertiggestellten „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“, dass die Grundlagen der Völkerrechtsordnung von aufeinanderfolgenden Hegemonialmächten geprägt wurden.
Während Fulda sich auf die Vereinigten Staaten fokussiert, diskutieren Krisch und Grewe im historischen Längsschnitt verschiedene Hegemonialmächte. Veränderungen waren möglich – und sind es. Der nächste „ambivalente Hegemon“ könnte China sein, könnte Russland sein. Vielleicht gehen wir auch einer weltpolitischen Konstellation entgegen, in der mehrere Hegemonialmächte nebeneinander Raum haben.
Jorrik Fuldas „historische Schule“ (so seine eigene Charakterisierung) des Global Constitutionalism hat in der Völkerrechtslehre durchaus Parallelen, bei allen Unterschieden – derweil in seiner eigenen Disziplin, den Internationalen Beziehungen, in der Debatte um Hegemonie und Konstitutionalisierung die historische Perspektive schwächer ausgeprägt sein mag. Die Zwei-Zyklen-Theorie, in die der Autor seine These von der Übernahme des antiken Vorbilds der Koine Eirene einbettet und an fünf Fallbeispielen durchexerziert, wirft jedoch methodische Fragen auf.
Methodenfragen
Zwar spricht Fulda davon, dass die Charta der Vereinten Nationen ein „adaptiertes und modifiziertes Sicherheitssystem nach dem antiken Modell“ sei, doch gebraucht er in seinem Buch immer wieder den Begriff der Kopie. Und tatsächlich behandelt er das Konzept der Koine Eirene so, als habe es eine statische, kohärente Bedeutung.
Was aber meinten Kant und Rousseau, wenn sie von der Amphiktyonie schrieben? Ganz so forsch wie bei Fulda ist das nicht zu beantworten. Ein Beispiel: In ihrem Kommentar zur Kantischen Friedensschrift zeigen Peter Niesen und Oliver Eberl, dass die Beziehung zwischen Völker- / Friedensbund und Amphiktyonie bei Kant weitaus ambivalenter ist als uns Jorrik Fulda glauben macht. Und hatte Wilson wirklich die griechischen Städtebünde im Sinn, als er bei der Gründung des Völkerbundes vom „common peace“ sprach? Denken Habermas und Koskenniemi an die Griechen, wenn sie über Kant als Vordenker der Konstitutionalisierung des Völkerrechts schreiben?
Beim zügigen Gang durch die Jahrhunderte entgeht Jorrik Fulda immer wieder die komplexe Dynamik der Genealogien, die er rekonstruiert. Auch der gezielt zum Verständnis der Gegenwart eingesetzte Anachronismus braucht jedoch Kontextualisierung (die nicht notwendig eine zeitliche sein muss) – um „die Bewegung von Konzepten in Zeit und Raum dingfest zu machen und zu verstehen“ (Anne Orford, in einem Gespräch über Geschichte, internationales Recht und Völkerrechtsgeschichten; im Originalton hier nachzulesen). Mit den Nutzen, Nachteil und den Methodenfragen historischer Perspektiven im Völkerrecht und in der Politikwissenschaft, die an Fuldas anregende Studie zu richten sind, haben sich unlängst im Völkerrechtsblog die Autorinnen und Autoren des Symposiums „Völkerrechtsgeschichten“ beschäftigt.
Partikularer Universalismus
Ein wichtiges Thema war dabei auch die Frage des Umgangs mit dem Eurozentrismus, mit der Partikularität einer Völkerrechtsordnung, die sich selbst als universal ausgibt. Jorrik Fulda will durch die „Offenlegung des westlichen Partikularismus“ die Legitimität der Vereinten Nationen stärken. Seine eigenwillige Rekonstruktion der Vorprägung der UNO durch die antike Koine Eirene entlarvt das Universale als partikular, ganz im Sinne der von Dipesh Chakrabarty propagierten „Provinzialisierung Europas“. Der historische Zugang, der auch die individuelle Verortung des Autors fordert, fördert eine reflexive Disziplinarität, die auf Abstand geht von etablierten Erklärungsmustern.
Bei aller Kritik im Detail: mit seiner gewagten Studie eröffnet Jorrik Fulda einen ganz unkonventionellen Zugriff auf die Vereinten Nationen und die mit ihnen verbundene Völkerrechtsordnung. Sein Mut zu manchmal sehr grobmaschigen Verflechtungsgeschichten erlaubt einen weitgespannten Blick auf zeitliche, geographische und normative Konstellationen, der hoffentlich weitere Forschende aus der Politikwissenschaft, dem Völkerrecht und der Geschichte zu genauerem Hinsehen anregt.
Und seine Ausgangsfrage, die Frage nach dem Verhältnis von Hegemonie und Völkerrecht, bleibt in Zeiten grundlegender Machtverschiebungen in der internationalen Politik, neuer dominanter Mächte und eines sich abzeichnenden amerikanischen Isolationismus hochaktuell.
Alexandra Kemmerer ist wissenschaftliche Referentin und Koordinatorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und leitet das Berliner Büro des Instituts.
Cite as: Alexandra Kemmerer, Die UNO als Kopie antiker Vorbilder? Vom Nutzen und Nachteil eines Anachronismus, Völkerrechtsblog, 18 January 2017, doi: 10.17176/20170118-091051.
Alexandra Kemmerer is senior research fellow and academic coordinator at the Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law in Heidelberg, and head of the Institute’s Berlin Office.