Die Rückkehr des „Bloody November” im Iran
Das Urteil des Aban-Tribunals zu den Verstößen Irans gegen das Völkerrecht im Jahr 2019 in Anbetracht der aktuellen Lage im Iran
Das International People’s Tribunal on Iran’s Atrocities (dt. Das Internationale Tribunal zu den Gräueltaten des Iran, kurz Aban-Tribunal) verkündete nach zweijährigen Ermittlungen zu den Ereignissen vom November 2019 in Iran sein „Urteil“. Vor drei Jahren brachen landesweite Proteste infolge des Benzinpreisanstieges gegen die Regierung der Islamischen Republik Iran aus, wogegen die iranischen Sicherheitskräfte in kürzester Zeit gewaltsam eingriffen. Das Tribunal stellte in seinem Urteil die Begehung zahlreicher Menschenrechtsverletzungen fest. Insbesondere habe die Regierung unter der Führung von Ayatollah Khamenei Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, da die rechtswidrigen Handlungen weit verbreitet waren und systematisch durchgeführt wurden mit dem Ziel die Proteste zu unterbinden.
Der Zeitpunkt des Urteils hätte kaum besser sein können, da eine erneute Protestwelle infolge des Todes der 22-jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini, die aufgrund des Vorwurfes eines falsch getragenen Kopftuches in Gewahrsam der Sittenpolizei gewaltsam zu Tode kam, das Land ergriff. Seit September dieses Jahres protestieren Iraner und Iranerinnen täglich gegen das theokratische Regime der Islamischen Republik und fordern ihr Ende. Anlässlich des dritten Jahrestages der Ereignisse von November 2019 erreichten die Proteste eine noch höhere Stufe an Intensität.
Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf die Feststellungen des Aban-Tribunals eingegangen, um anschließend darzulegen, dass Iran erneut das Völkerrecht verletzt und internationale Maßnahmen dringend erforderlich sind.
Was geschah im November 2019?
Unmittelbar nach dem Ausbruch der Proteste wurde der Internetzugang beschränkt und gewaltsam gegen Protestierende vorgegangen. Der oberste Religionsführer Ayatollah Khamenei gab den Befehl, „alles zu tun, was nötig ist, um [die Proteste] zu beenden“. Darunter fielen laut Aussagen von Insider-Zeugen Schießbefehle, die an alle Sicherheitskräfte erteilt wurden (Rn. 498 ff.). Die Untersuchungen des Tribunals ergaben, dass Scharfschützen auf Dächern stationiert wurden, um gezielt Zivilisten zu töten (u.a. Rn. 183). Zudem wurden völkerrechtswidrige Waffen eingesetzt (Rn. 33). Schätzungen zufolge starben mindestens 1.500 Menschen, 7.000 wurden inhaftiert, weitere verschwanden, wurden gefoltert und sexuell missbraucht, darunter auch Minderjährige.
Was ist das Aban-Tribunal?
In Ermangelung einer rechtlichen Aufarbeitung wurde von Menschenrechtsorganisationen ein Gremium zur Aufklärung der Ereignisse initiiert. Laut dem Statut des Tribunals besteht das vorrangige Ziel darin, „die Wahrheit aufzudecken und festzustellen, wer nach den Grundsätzen des Rechts, des menschlichen Gewissens und der Gerechtigkeit die Verantwortung trägt“, da es an Maßnahmen zur Aufklärung durch die internationale Staatengemeinschaft fehlte. Der Islamischen Republik Iran und 160 Personen, darunter der derzeitige Präsident Ebrahim Raisi, werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Um dies zu belegen, sammelten der Rechtsberater und die Rechtsberaterin des Tribunals Beweise, die dem Gremium zur Bewertung vorgelegt wurden. Dessen Mitglieder sind renommierte und unabhängige Anwälte und Anwältinnen mit Erfahrungen in internationalen Gerichtsverfahren. Auch wenn das Urteil des Tribunals keine bindende Wirkung entfaltet und sich der Iran an dem Prozess der Wahrheitsfindung nicht beteiligte, schafft es dennoch ein Bewusstsein für die vom Iran begangenen Gräueltaten. Mit den mehr als 600 Zeugenaussagen liefert es eine wichtige Dokumentation und rechtliche Bewertung der Ereignisse, die auch für die Beurteilung der aktuellen Situation im Iran herangezogen werden kann. Außerdem können die Erkenntnisse in möglichen künftigen Verfahren gegen die Verantwortlichen der Islamischen Republik Iran eine Rolle spielen.
Die Idee der Initiierung von Tribunalen zur Aufarbeitung von internationalen Verbrechen beruht auf dem Russell-Tribunal von 1966, das zur Aufklärung von Kriegsverbrechen in Vietnam geschaffen wurde. Seitdem verschaffen solche Tribunale Opfern Gehör, wenn den Verbrechen durch internationale Rechtsmechanismen keine Gerechtigkeit zuteilwird.
Was sind die wesentlichen Feststellungen des Tribunals?
Menschenrechtsverletzungen
Das Gremium stellte die Begehung massiver und grober Menschenrechtsverletzungen durch die Islamische Republik Iran und ihre Sicherheitskräfte fest.
Nach Ansicht des Tribunals wurde durch die Niederschlagung der Proteste die Versammlungsfreiheit gemäß Artikel 21 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) (Rn. 452), den Iran ratifiziert hat, verletzt.
Insbesondere stelle die vorsätzliche Tötung der Zivilisten und Zivilistinnen eine Verletzung des Rechts auf Leben gemäß Artikel 6 IPbpR dar (Rn. 453).
Darüber hinaus kam es zu tausenden willkürlichen Verhaftungen, wodurch das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person gemäß Artikel 9 IPbpR verletzt wurde (Rn. 455). Die Haftbedingungen wurden als unmenschlich beschrieben (z. B. in Ziff. 348, 370). Zellen waren unter anderem von Insekten befallen und verfügten teilweise nicht über sanitäre Einrichtungen, Belüftungsmöglichkeiten und Heizungen. Den Inhaftierten wurde angemessene Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung verwehrt. Zudem wurden sie regelmäßig physisch und psychisch misshandelt. Zahlreiche Zeugenaussagen berichten von Folter, darunter Elektroschocks, sexuelle Gewalt, Schläge, Waterboarding und die Verbringung in Stresspositionen (Rn. 41). Ein derartiges Vorgehen stellt einen Verstoß gegen das Verbot der Folter und anderer unmenschlicher Behandlungen gemäß Artikel 7 IPbpR dar (Rn. 457).
Unter den Inhaftierten sind einige deren Verbleib bis heute unklar ist (Rn. 294). In der Folgezeit wurden zum Teil unbekannte Leichen an verlassenen Orten, wie Staudämmen, gefunden (Rn. 189). Auf der Grundlage dieser Aussagen und Beweise hat das Gremium daher festgestellt, dass es mehrere Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen gegeben habe, was einen Verstoß gegen Artikel 2(3), 7 und 9 des IPbpR darstelle (Rn. 456).
Das Tribunal stellte außerdem eine Verletzung von Artikel 15 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) fest, ebenfalls durch den Iran ratifiziert. Die Behörden wollten die Leichen der Verstorbenen nicht herausgaben und hinderten Angehörige daran ihre Liebsten zu beerdigen (Rn. 461).
Die Vorfälle im November 2019 wurden nicht aufgeklärt, es wurde keine Verantwortung übernommen und es wurde keine Entschädigungen gezahlt. Stattdessen versuchten die iranischen Behörden aktiv, die Ereignisse vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Den Opfern und ihren Angehörigen wurde jeglicher Rechtsschutz verwehrt, sodass Iran auch das Recht auf Zugang zu Rechtsschutz gemäß Artikel 2 IPbpR verletzt hat (Rn. 406 ff.).
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Das Statut des Aban-Tribunals definiert Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Anlehnung an die Definition in Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes als Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, die systematisch und ausgedehnt sind. Der Begriff „ausgedehnt“ bezieht sich auf das große Ausmaß der Verbrechen und die hohe Zahl der Opfer (Rn. 470). Das Kriterium „systematisch“ erfordert, dass die Taten nicht spontan, sondern in organisierter Weise begangen wurden (Rn. 471).
Nach Ansicht des Tribunals war das Vorgehen der Sicherheitskräfte Teil einer nationalen Strategie zur gezielten Unterdrückung der Proteste. Infolge der Eingriffe kam es landesweit zu mindestens 1.500 Todesfällen und 7.000 Verhaftungen. Willkürliche Verhaftungen und Tötungen wurden in mindestens 20 der 31 Provinzen festgestellt (Rn. 478) und erfolgten landesweit nach einem ähnlichen Muster (Rn. 491). Darüber hinaus führte das Gremium diese Handlungen infolge der Aussagen von Insider-Zeugen auf die Anordnungen der Regierung zurück (Rn. 496 ff.). Das Tribunal kam daher zu dem Schluss, dass der Iran Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen habe, da die Angriffe auf die Zivilbevölkerung systematisch und ausgedehnt waren (Rn. 539 ff.).
Empfehlungen
Das Urteil des Tribunals schließt mit Empfehlungen an den Iran und die internationale Gemeinschaft zur Untersuchung der Ereignisse und zur Verfolgung der Taten ab (S. 191 ff.). Gefordert wird unter anderem eine Intervention des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN) und eine Verweisung an den Internationalen Strafgerichtshof durch eine Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta, die nach Artikel 13 (b) des Römischen Statuts für Verbrechen gegen die Menschlichkeit möglich ist. Dies wäre ein begrüßenswerter Schritt, um die Ereignisse durch ein internationales Gericht aufzuarbeiten und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Wie ist die aktuelle Lage im Iran?
Seit dem 16. September 2022 finden täglich landesweite Proteste gegen das theokratische System der Islamischen Republik statt. Wie bereits im November 2019 wurde das Internet stark eingeschränkt. Daraufhin griffen die Sicherheitskräfte erneut gewaltsam ein und töteten hunderte Menschen, darunter auch Minderjährige. Die Proteste finden unter anderem in Schulen und Universitäten statt. Hunderte Schüler und Schülerinnen wurden deswegen inhaftiert. In Universitäten griffen bewaffnete Einheiten, Studenten und Studentinnen an. Insgesamt wurden bisher mehr als 16.000 Menschen verhaftet. Des Weiteren hat die Justiz Demonstranten zum Tode verurteilt. Seitdem das Parlament die Justiz aufgefordert hat, allen Demonstranten und Demonstrantinnen die Todesstrafe aufzuerlegen, droht tausenden Menschen die Hinrichtung.
Die von ethnischen Minderheiten bewohnten Regionen Sistan-Balutschistan und Kurdistan sind besonders starken Angriffen ausgesetzt. Allein in Zahedan wurden an einem Tag mindestens hundert Menschen erschossen. In Kurdistan werden kriegsähnliche Zustände beschrieben, die täglich zum Tod vieler Zivilisten und Zivilistinnen führen. In der Nacht des 19. November kursierten Videos in den sozialen Medien aus der Stadt Mahabad, auf denen Maschinengewehre und Schreie zu hören sind. Eingriffe des Militärs und die Nutzung schwerer Artillerie wurde zwischen dem 20. und 21. November auch in den kurdischen Gebieten Javanrud und Piranshahr gemeldet.
Die Lage ist äußerst instabil und macht ein weiteres brutales Eingreifen sehr wahrscheinlich. Darüber hinaus besteht die unmittelbare Gefahr der Vollstreckung der Todesstrafen, deren Rechtmäßigkeit zu bezweifeln ist.
Verstößt Iran derzeit erneut gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen?
Die Feststellungen des Aban-Tribunals infolge der Geschehnisse im November 2019 zeigen, dass die iranische Regierung Proteste gezielt gewaltsam unterdrückt. Es ist daher auch in der aktuellen Situation sehr wahrscheinlich, dass Befehle erteilt wurden, die Protestwelle um jeden Preis niederzuschlagen. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte gleicht dem von vor drei Jahren. Es kam erneut zu willkürlichen Verhaftungen, Entführungen von Demonstranten und Demonstrantinnen in zweckentfremdeten Krankenwagen sowie dem Einsatz von Schlagstöcken und scharfen Waffen gegen Zivilisten und Zivilistinnen. Da diese Maßnahmen auf friedliche Proteste folgten, verletzt Iran das Recht auf Versammlungsfreiheit nach Artikel 21 IPbpR. Darüber hinaus werden erneut Artikel 2, 6, 7 und 9 IPbpR verletzt.
Iran missachtet das Recht auf Leben, indem die Verurteilungen zur Todesstrafe nicht den strengen Anforderungen von Artikel 6 Absatz 2 IPbpR genügen. Die Urteile beruhen auf Handlungen, die durch das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit geschützt sind und stellen damit keine schwersten Verbrechen im Sinne von Artikel 6 Abs. 2 IPbpR dar. Zudem wurden die Urteile in Scheinprozessen erlassen, die den Grundsätzen eines fairen Verfahrens nicht genügen. Viel mehr ist anzunehmen, dass die Justiz der Regierung gefügig ist, was auch durch die Untersuchungen des Aban-Tribunals gestützt wird.
Darüber hinaus begeht Iran sehr wahrscheinlich erneut Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die gewaltsamen Eingriffe gegen die Proteste erfolgen landesweit auf die gleiche Weise und führten bereits zu hunderten Toten und tausenden Inhaftierten. In Anbetracht der Position des obersten Religionsführers Khamenei im Staatsgefüge und der hohen Wahrscheinlichkeit von erlassenen Anordnungen wie im November 2019, ist ein systematisches Vorgehen zur Unterdrückung der Proteste zu vermuten.
Aufgrund der besonders schweren Angriffe auf die Zivilgesellschaft in Kurdistan und Sistan-Balutschistan, die seit Jahrzehnten staatlicher Unterdrückung ausgesetzt sind, besteht zudem die Gefahr eines Völkermordes.
Was lehrt uns die Vergangenheit des Iran?
Die Islamische Republik Iran hat eine lange Geschichte von Menschenrechtsverletzungen und wird seit Jahren von Menschenrechtsorganisationen kritisiert.
Menschenrechtsverletzungen, die täglich durch Justiz, Sicherheitskräfte und Sittenpolizei verübt werden, sind Teil des Systems der Islamischen Republik und dienen seit Jahrzehnten der Machterhaltung der theokratischen Führung. Bereits im Jahre 1988 soll Iran für den Tod von tausenden politischen Gefangenen, unter der Beteiligung des amtierenden Präsidenten Ebrahim Raisi, verantwortlich sein. Iran setzt die Todesstrafe als politisches Mittel ein. Auffällig ist, dass vor allem politische Gefangene und Angehörige von Minderheiten hingerichtet werden. So machen beispielsweise Kurden 10 % der iranischen Bevölkerung aus, aber zeitweise bis zu 70 % der Hinrichtungen. Außerdem mangelt es an einem fairen Rechtsschutz. Viel mehr werden Anwälte und Anwältinnen für ihr Engagement verfolgt und zu Haftstrafen verurteilt, wie die Fälle von Shirin Ebadi und Nasrin Sotoudeh gezeigt haben.
Schlussfolgerung
Das Aban-Tribunal hat einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik Iran geleistet. Da die iranischen Sicherheitskräfte bei der Unterdrückung der aktuellen Proteste in ähnlicher Weise vorgehen, ist anzunehmen, dass Iran erneut seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzt. In Anbetracht der Vergangenheit der Islamischen Republik muss zudem damit gerechnet werden, dass die iranische Führung auch in Zukunft nicht davor zurückschrecken wird, Gräueltaten zu begehen, um politisch unliebsame Stimmen und Bewegungen systematisch auszuschalten.
Die iranische Zivilgesellschaft ist den Gräueltaten erneut schutzlos ausgeliefert. Die internationale Gemeinschaft muss den eklatanten Menschenrechtsverletzungen, die jeden Tag zu mehr Toten führen, mit aller Schärfe entgegentreten. Darüber hinaus müssen die Staaten die Sicherheit der Exil-Iraner und Iranerinnen gewährleisten, da sie auch im Ausland Angriffen des Regimes ausgesetzt sind, wie unter anderem die Ermordung von Abdul Rahman Ghassemlou in Wien gezeigt hat.
Die verhängten Sanktionen, die Resolution der UN-Generalversammlung und die einberufene Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrates sind wichtige erste Schritte. Jedoch müssen sie von konkreteren Maßnahmen begleitet werden, um den Menschenrechtsverletzungen so schnell wie möglich ein Ende zu setzen. Langfristig muss sichergestellt werden, dass die Verantwortlichen für die Gräueltaten rechtlich zur Rechenschaft gezogen werden und den tausenden Opfern Gerechtigkeit widerfährt.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag ist bereits auf englischer Sprache auf unserem Blog erschienen. Aufgrund der Wichtigkeit des Themas haben wir uns dazu entschieden, den Beitrag in zwei Sprachen zu veröffentlichen, um einen breiteren Leser*innenkreis anzusprechen.
Narin Nosrati is a Ph.D. candidate and Research Fellow at the Chair of Public International Law and Public Law at the Ludwig Maximilian University of Munich. She studied law in Bonn and Paris and did a 5-months traineeship at the European General Court in Luxembourg.