Nach der Krise ist vor der Krise. Auf die Finanzkrise folgte die Flüchtlingskrise und stellte die Europäische Union erneut vor die Zerreißprobe. Aufgrund der intern nicht überwindbaren Meinungsverschiedenheiten hat die EU die Flüchtlingskrise durch eine Vereinbarung mit der Türkei in ihre Peripherie verschoben.
Seit dem 4. April 2016 werden Geflüchtete, die illegal über die Türkei nach Griechenland einreisen, abgeschoben. Als Gegenleistung hat die EU der Türkei finanzielle Hilfe sowie die Wiederaufnahme und Vertiefung der Beitrittsverhandlungen und nicht zuletzt „unrealistische“ Visaerleichterung für ihre Staatsangehörigen versprochen. Ob diese Vereinbarung die erhoffte Lösung bringt, lässt sich aufgrund der geopolitischen Lage in der Region (Syrienkrieg) einerseits und der politischen Lage in der EU (Brexit) und vor allem der Türkei andererseits, bezweifeln. Vor allem der Putschversuch in der Türkei lässt den EU-Beitritt der Türkei in die ungewisse Ferne rücken.
Das Grenzkontrollsystem der EU
Das Grenzkontrollsystem innerhalb des Unionsgebiets gestaltet sich nach dem sog. Schengen-System. Art. 77 AEUV sieht vor, dass an den Binnengrenzen keine Personenkontrollen durchgeführt werden. Für die Kontrollen an den Außengrenzen der EU gilt das sog. Dublin-System. Neben den Kontrollen an den Außengrenzen regelt Art. 78 AEUV i.V.m. Asylrichtlinie auch die Zuständigkeiten für die Behandlung von Asylgesuchen. Dieses basiert auf dem Grundsatz, wonach derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines im Dublin-Raum gestellten Asylantrags zuständig ist, in den der Asylbewerber zuerst eingereist ist. Dublin regelt damit die Zuständigkeit, überlässt aber Durchführung der Asylverfahren den Mitgliedstaaten. Den Migrationsstrom aus Drittstaaten in die EU lenkt sie anhand bilateraler Vereinbarungen mit betreffenden Nachbarstaaten wie der Türkei.
Inhalt der EU-Türkei Vereinbarung
Im Rahmen der Erklärung vom 18. März 2016 setzt sich die EU zum Ziel, den Migrationsstrom aus Drittstaaten über die Türkei in die EU gänzlich zu beenden. Ganz neu ist diese Vereinbarung allerdings nicht. Über die Rückübernahme von Geflüchteten hat die EU schon am 7. Mai 2014 ein Abkommen mit der Türkei abgeschlossen. Hierbei ging es jedoch nur um Personen, die keinen Schutzanspruch in der EU geltend machen konnten.
Was ist nun der Inhalt dieser Vereinbarung, die nach Ansicht des UNHCR gegen das Recht der EU, der Türkei und das Völkerrecht verstößt? Im Rahmen dieser Vereinbarung werden alle irregulären Migrant_innen, die nach dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen und die kein Asyl beantragen, oder die in türkischen Gewässern aufgegriffen werden, in die Türkei zurückgeführt. Um jegliche Art von Kollektivausweisung auszuschließen, die der EGMR im Pushback-Urteil Hirsi u.a./Italien angeprangert hatte, weist die Vereinbarung ausdrücklich darauf hin, dass bei ihrer Durchführung das Europa- und Völkerrecht, insbesondere der Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement) eingehalten werden. Dies sieht vor allem die Sicherstellung der ordnungsgemäßen Registrierung und die Einzelprüfung durch Griechenland vor. Geflüchtete, die kein Asyl beantragen oder deren Antrag gemäß der Asylverfahrensrichtlinie als unbegründet oder unzulässig abgelehnt wird, werden in die Türkei rückgeführt.
Im Rahmen der Flüchtlingsvereinbarung verpflichtete sich die Türkei, alle Maßnahmen zu ergreifen, um das reibungslose Funktionieren der Vereinbarung sicherzustellen und das Entstehen neuer See- oder Landrouten für irreguläre Migration zu verhindern. Diesbezüglich arbeitet sie mit der EU und Griechenland zusammen. Im Rahmen des Rücknahmeabkommens hat die Türkei bereits einige Reformen durchgeführt. So hat sie schon ihren Arbeitsmarkt für Syrer_innen eröffnet und neue Visabedingungen eingeführt. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 hat Türkei zwar unter dem Vorbehalt ratifiziert, wonach die Konvention nur auf Geflüchtete aus Europa Anwendung findet. 2013 hat die Türkei ein Ausländer– und Asylgesetz verabschiedet, das verschiedene Aufenthaltskategorien vorsieht und Geflüchteten aus nicht-europäischen Ländern umfasst.
Die EU verpflichtete sich ihrerseits, für jede_n von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschobenen Syrer_in eine_n Syrer_in aus der Türkei in der EU neuansiedeln („one in, one out“) – bis zu einer Obergrenze von 18.000 Personen. Andere Nationalitäten profitieren nicht von diesem Resettlementplan. Entscheidend bei der Auswahl ist die Schutzbedürftigkeit. Vorrang erhalten dabei diejenigen syrischen Migrant_innen, die vorher noch nicht irregulär in die EU gereist sind und dies auch nicht versucht haben. Bei weiterem Neuansiedlungsbedarf wird die EU bis zu 54.000 zusätzliche Personen aufnehmen. Die EU wird zusätzlich bis Ende 2018 drei Milliarden Euro freigeben, wenn die ursprünglich geplanten drei Milliarden vollständig ausgeschöpft und die Verpflichtungen erfüllt worden sind.
EU-Beitritt der Türkei – Überblick
Nachdem sich Angela Merkel vor der Flüchtlingskrise wiederholt gegen einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen und für eine privilegierte Partnerschaft plädiert hatte, versprach sie am 18. März 2016 der Türkei, als Gegenleistung den ewig verschobenen EU-Beitritt wieder auf die Agenda zu setzen. Die Geschichte des EU-Beitritts der Türkei ist relativ alt; sie geht auf das Assoziationsabkommen aus dem Jahr 1963 zurück. Das offizielle Beitrittsgesuch der Türkei aus dem Jahre 1987 wurde zunächst ablehnt, ihr allerdings eine Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt. Nach der Aufnahme der Türkei in die Zollunion (1996) wurde ihr schließlich 1999 der offizielle Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. Daraufhin wurde im Dezember 2004 der Beitrittsprozess in Gang gesetzt. Nach Aufnahme der offiziellen Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 kam es jedoch aufgrund der Weigerung der Türkei, die Zollunion auf die 2004 der EU beigetretene Republik Zypern auszudehnen, schon bald wieder zum Stillstand.
Quo vadis Türkei?
Die Türkei navigiert zurzeit sowohl innen- als auch außenpolitisch wie ein Schiff ohne Ruder; es ist schwer abzuschätzen, welche Route sie demnächst auf dem offenen Meer der Politik nimmt. Zu einer innenpolitischen Wende führten die Wahlen vom Juni 2015. Während die pro kurdisch-linke Partei in das Parlament einzog, verlor die Regierungspartei die absolute Mehrheit und ging zu Neuwahlen über, um die absolute Mehrheit wieder zu erlangen. Daraufhin brach der kurdische Konflikt wieder aus. Es kam außerdem zu wiederholten Anschlägen des IS.
Außenpolitisch sind zunächst die – vor kurzem wiederaufgenommenen – Beziehungen zu Russland wegen Abschuss ihres Militärflugzeuges in Syrien in die Brüche gegangen. Aufgrund der Flüchtlingskrise kam es zudem zu Spannungen zwischen der EU (vor allem Deutschland) und der Türkei. Unter dem Vorwand, den IS zu bekämpfen, hat die Türkei letzte Woche angefangen, kurdische Stellungen in Syrien zu beschiessen. Dies könnte zu einer erneuten Eskalation der Beziehungen zu USA führen, da die Kurden als Verbündete der USA gegen den IS kämpfen. Außerdem könnte dies den IS wieder stärken, der in den letzten Monaten durch Kurden beträchtlich zurückgedrängt wurde.
Vor diesem Hintergrund kam es am 15. Juli 2016 zu einem versuchten Putsch des Militärs. Dieser scheint die letzten Wiederbelebungsversuche der Beitrittsverhandlungen zur EU in den Sand gesetzt zu haben. Verlangte die EU zuvor die Reform der Antiterrorgesetze für die Beschleunigung des Fahrplans für Visaerleichterungen, kommt nach dem Putschversuch ein Ausnahmezustand dazu, in dessen Rahmen, die Europäische Menschenrechtskonvention suspendiert, die Diskussion über die Wiedereinführungen der Todesstrafe aufgenommen sowie tausende Menschen verhaftet, suspendiert oder entlassen wurden. Regiert wird das Land seitdem durch Notverordnungen, die das Parlament ausschalten; beachtenswert ist die vorangehende Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der Oppositionsparteien. Durch Notverordnungen wurden innerhalb von Wochen mehrere Institutionen dem Präsidenten untergeordnet, dadurch seine Kompetenzen erweitert und schleichend ein „quasi Präsidialsystem“ eingeführt. Dies alles wiederspricht den sog. Kopenhagener Kriterien (bzw. Art. 2 und Art. 49 EUV), sodass einige Politiker wie EU-Kommissar Günther Oettinger davon ausgehen, dass eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen „ein Thema für die Zeit nach Erdoğan“ sei.
Würdigung
Steht der Flüchtlings-Deal bereits auf der Kippe? Vor dem Hintergrund der Undurchführbarkeit der Visaerleichterung ist der Militärputschversuch beiden Seiten sehr entgegengekommen. Denn die Verhandlungen stocken seit einigen Monaten an neuralgischen Punkten. Seit dem Besuch des Parlamentspräsidenten Schulze ist es klar, dass die EU nicht wie vorgesehen den Fahrplan für Visaerleichterung einhalten und Beitrittsverhandlungen aufnehmen kann. Obwohl damit ein EU-Beitritt der Türkei in die ungewisse Ferne gerückt ist und trotz Drohungen des türkischen Präsidenten, die Flüchtlingsvereinbarung zu kündigen, wird die Türkei in der Flüchtlingspolitik mit der EU kooperieren. Dies vor allem wegen der geopolitischen Lage des Landes: Die türkische Außenpolitik ist mittlerweile Teil der Innenpolitik Europas bzw. Deutschlands geworden. In der mit Krisen überschütteten Region brauchen sich die EU und die Türkei gegenseitig mehr denn je.
Dr. iur. des. Hüseyin Celik ist Postdoktorand an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und Gastwissenschaftler an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.
Cite as: Hüseyin Celik, “Die EU-Türkei-Beziehungen und die Flüchtlingsvereinbarung”, Völkerrechtsblog, 5 September 2016, doi: 10.17176/20180522-181219.