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Die deutsche Völkerrechtswissenschaft und der „postcolonial turn“ – Teil 2

11.09.2014

Fortsetzung zum ersten Teil

Ein weiterer „blinder Fleck“ der Verfassungs- und Gemeinschaftsnarrative ist das fehlende Bewusstsein von der engen Verwobenheit des Völkerrechts mit globalen ökonomischen Strukturen. Im zwanzigsten Jahrhundert wird das Völkerrecht von der progressiveren deutschen Theorietradition vorrangig als ein Friedens- bzw. als ein humanitäres Projekt begriffen. Inwiefern das Völkerrecht mit seinen in Europa geschaffenen Normen schon seit dem 19. Jahrhunderts eine spezifische ökonomische Globalisierung vorantreibt, gerät der deutschen Staats- und Völkerrechtswissenschaft nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Blick. Der fehlende Sinn für die Ökonomie bzw. für strukturelle ökonomische Asymmetrien in der Völkerrechtsordnung lässt sich mit wenigen Ausnahmen als Tendenz schon Ende des 19. Jahrhunderts beobachten. Wenn  Vertreter der deutschen Staats- und Völkerrechtswissenschaft überhaupt die transformativen Kräfte der globalen Ökonomie und die stabilisierende Funktion des Völkerrechts erkennen, beschreiben sie diese Phänomene in zeittypisch eurozentrischer Weise grundsätzlich als positive Entwicklungen, wenn nicht sogar in euphorischem Tonfall.

Ausgeblendet wird dabei, dass die ökonomische Expansion Europas im 19. Jahrhundert etwa über bilaterales Vertragsrecht und über eingeforderte fremdenrechtliche Mindeststandards in der Regel zu Lasten der nicht-europäischen Völker erfolgte. Auch Japan und China, die phasenweise versuchten, sich der Öffnung ihrer Volkswirtschaften für den ausländischen Handel zu widersetzen, wurden sog. ungleiche Verträge gewaltsam aufgezwungen, welche fremdenrechtliche Mindestgarantien für ausländische Gesandte und Kaufleute oktroyierten. Liberale Vertreter der deutschen Staats- und Völkerrechtswissenschaft hielten dieses Vorgehen für gerechtfertigt. Im Hinblick auf einen Staat wie China, der versuche Fremden den Zutritt zu verwehren, spricht z.B. der berühmte Staats- und Völkerrechtswissenschaftler Robert von Mohl 1860 von einem „Feinde des Menschengeschlechts“, der mit Gewalt zur „Aufhebung seiner Verkümmerung der natürlichen Lebenszwecke genöthigt werden“ könne.

Glaube an internationale Gerichtsbarkeit

Ein zusätzliches hier relevantes Charakteristikum hergebrachter Verfassungs- und Gemeinschaftsnarrative ist der Glaube an die internationale Gerichtsbarkeit. Hervorgegangen aus den pazifistischen Kämpfen der Zwischenkriegszeit sowie später als trotzige Reaktion auf die realistischen Zweifel an der Durchsetzungskraft des Völkerrechts, wird die „Vergerichtlichung“ zu einem Leitmotiv auch der deutschen Völkerrechtswissenschaft. Als dieses Projekt nach dem Ende des kalten Krieges in Teilregimen wie dem Welthandelsrecht, der internationalen Investitionsschiedsgerichtsbarkeit und dem Völkerstrafrecht Realität wird, ist die Euphorie groß: endlich effektives Völkerrecht! Der Glaube an die Gerichte spiegelt das quasi unbegrenzte Vertrauen der staatsrechtlich geprägten Disziplin in das Bundesverfassungsgericht. Dabei wird dann aber schnell übersehen, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine obligatorische und durchsetzungsstarke Gerichtsbarkeit im Grunde nur im Wirtschaftsvölkerrecht entstanden ist.

 Aus Nord-Süd Perspektive wäre zudem zu berücksichtigen, ob und inwiefern die Eigenlogiken spezieller Teilregime des Völkerrechts als solche bereits strukturelle Machtasymmetrien zementierten und wer die Richter bzw. Schiedsrichter sind. Der kritischen Anfrage, ob sektoriale Gerichte überhaupt der richtige Ort – und in der Lage sind, den kollidierenden normativen Ansprüche der Gesamtrechtsordnung ausreichend Rechnung zu tragen, wird dann oft mit einer weiteren Verfassungsanalogie begegnet: völkerrechtliche Gerichte könnten doch durch Abwägungsentscheidungen normative Kollisionen auflösen (praktische Konkordanz!) und die Integrität der vermeintlichen Verfassung des Völkerrechts wieder sicherstellen. Wenn es aber um fundamentale globale Antagonismen, extreme Armut und strukturelle ökonomische Benachteiligungen ganzer Weltregionen geht, scheint das Vertrauen auf fragmentierte gerichtliche Abwägungslösungen wenig hilfreich, vor allem aber stabilisiert dieser Zugang die bestehenden Regime in ihrer jetzigen Struktur.

Perspektivenerweiterung für die deutsche Völkerrechtswissenschaft  

Gegen die Aufnahme neuer postkolonialer Perspektiven auf das Völkerrecht könnte eingeräumt werden, dass die Bundesrepublik in den letzten sechzig Jahren mit den propagierten deutschen, europäischen und globalen Verfassungswerten und dem Bekenntnis zum globalem Freihandel gut gefahren ist. Das ist zweifelsohne aus nationaler Perspektive einer rohstoffabhängigen Exportgroßmacht richtig und berechtigt. Da sich gute Völkerrechtswissenschaftlerinnen und Völkerrechtswissenschaftler aber gerade durch die Fähigkeit zu dezentrierter Perspektivenübernahme und reflexiver Distanz gegenüber spezifischen Regierungsinteressen auszeichnen (ausführlicher zur heutigen Rolle der Völkerrechtswissenschaft: v. Bernstorff, International Legal Scholarship as a Cooling Medium in International Law and Politics, EJIL 2014 im Erscheinen) , kann die nationale und europäische Perspektive alleine  nicht mehr ausreichen. Schon die Kelsen-Schule hatte in der Zwischenkriegszeit zu Recht eine Abkehr von der weitverbreiteten völkerrechtswissenschaftlichen Devise „right or wrong – my country!“ gefordert.

Weltweit sterben nach UNICEF-Angaben immer noch pro Tag über 29.000 Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung und vermeidbaren Krankheiten, die meisten hiervon im globalen Süden. Armut als täglich eingesetzte systemische Massenvernichtungswaffe. Auch wird es immer schwieriger zu behaupten, dass unser Wohlstand mit struktureller Armut und Gewalt in vielen Ländern der Dritten Welt nichts zu tun hat. Zudem werden die verheerenden Folgen des Klimawandels, historisch erzeugt durch die Industrialisierung des Nordens, welche zugleich die Basis seiner ökonomischen und militärischen Expansion im 19. Jahrhunderts darstellte, den globalen Süden überproportional stark treffen. Es ist auch deswegen notwendig, globale Normen und Institutionen daraufhin zu untersuchen, ob und wie sie strukturelle ökonomische Ungleichgewichte und Unterrepräsentation perpetuieren, auch wenn wir in Europa hiervon vielleicht lange profitiert haben. Hinzu kommt als Forschungsperspektive die wissenschaftliche Frage nach dem Gewordensein der Welt wie sie heute ist. Wo hätte die Geschichte des Völkerrechts und seiner Institutionen aus der Nord-Süd Perspektive anders verlaufen können? Welche alternativen völkerrechtlichen Konzepte wurden wann und von wem verworfen, wo gab es Widerstand und welches waren die nicht gegangenen Wege? Auch wenn wir nie sicher wissen werden, wohin sie die Welt geführt hätten.

 

Jochen von Bernstorff ist Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Menschenrechte in Tübingen.

Dieser Beitrag ist Teil der Völkerrechtsblog-Serie „Völkerrechtsgeschichten”. Der Auftaktbeitrag zur Serie findet sich hier

 

Cite as: Jochen von Bernstorff, “Die deutsche Völkerrechtswissenschaft und der „postcolonial turn“ – Teil 2”, Völkerrechtsblog, 11 September 2014.

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Jochen von Bernstorff
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1 Comment
  1. Lieber Jochen,
    Dein Beitrag wendet sich mit Recht gegen eine internationale Gemeinschaftsperspektive, die sich als “leidige Trösterin” für die Legitimierung der derzeitigen Weltordnung versteht. Dabei sollten aber zwei Elemente berücksichtigt werden: es handelt sich bei der Lehre von der internationalen Gemeinschaft um eine Beschreibung der Entwicklung von Rechtsstandards, also normativen Entwicklungen, nicht um eine faktische Beschreibung ihrer Verwirklichung. Daraus folgt zweitens, dass auf dieser Grundlage die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit nur noch bestürzender erscheint. Sich letzterem stärker zuzuwenden, dazu besteht in der Tat – traurige – Veranlassung.
    Andreas

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