Der kurze Atem der deutschen Strafverfolgungsbehörden
Regimeverbrechen in Belarus
Deutschland beansprucht seit einigen Jahren eine Vorreiterrolle in der Strafverfolgung von Völkerstraftaten. Doch die Ermittlungspraxis zu internationalen Verbrechen in Belarus zeigt erneut: Dieser Anspruch gilt nicht für alle Situationen gleichermaßen. Obwohl die Bundesanwaltschaft zu Ermittlungen verpflichtet war, ließ sie naheliegende Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung unberücksichtigt und lehnte es vorschnell ab, ein Strafverfahren einzuleiten. Dabei verlangt die Schwere der Repression in Belarus gerade jetzt nach einer nachhaltigen Aufklärung der Regimeverbrechen.
Fast vier Jahre sind vergangen, seitdem der belarusische Machthaber Lukaschenka und seine Schergen die friedlichen Proteste gegen die manipulierte Präsidentschaftswahl im August 2020 mit brutaler Gewalt niederschlugen. Lange Jahre, in denen die Betroffenen vergeblich auf einen Funken von Gerechtigkeit warteten. Auch wenn die westliche Staatengemeinschaft die systematische Unterdrückung der Zivilbevölkerung scharf verurteilt und Sanktionen gegen mehrere Regimefunktionäre verhängt hat, blieben diese Schritte in Belarus innenpolitisch weitgehend wirkungslos: Lukaschenka konnte seine Macht weiter konsolidieren und hat die Daumenschrauben der Repression noch stärker angezogen. Laut dem jüngsten Bericht des UN-Menschenrechtskommissariats (OHCHR) hielt das Regime im vergangenen Jahr mehr als 1.400 politische Gefangene in Haft, hat die Opposition, kritische NGOs und Medien weitgehend ausgeschaltet und nutzte weitgefasste Anti-Terrorismus-Gesetze, um vermeintliche oder tatsächliche Dissident*innen zu verurteilen und bestrafen.
Höchste Zeit für Ermittlungen zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Gerade aber weil die Repression in Belarus andauert und sich sogar verschärft, muss sie Anlass für verstärkte Bemühungen gegen die Straflosigkeit der Regimeverantwortlichen geben. Wie die Militärdiktaturen in Chile und Argentinien beispielhaft gezeigt haben, ist der Weg zur Aufarbeitung von politischen Massenverbrechen lang und ihre Spuren verblassen schnell. Da Belarus die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nicht anerkennt und eine Überweisung der Situation an das Gericht durch den Sicherheitsrat wegen des sicheren Vetos Russlands ausgeschlossen ist, liegen alle Hoffnungen auf einer Strafverfolgung durch nationale Gerichte. Diese können nach dem Weltrechtsprinzip tätig werden, denn es bestehen gewichtige Anhaltspunkte, dass das Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht: Allein zwischen dem 9. und 14. August 2020 inhaftierten staatliche Sicherheitskräfte mehr als zehntausend Personen in rechtswidriger Weise, folterten die Gefangenen mit Schlägen und Elektroschocks und hielten sie in überfüllten Zellen gefangen (OHCHR-Bericht 2022, Rn. 35 ff.). Demonstrationen wurden mit exzessiver, teils tödlicher Gewalt aufgelöst und die Welle der Repression hält bis heute an, orchestriert durch die Führungsriege des Regimes. Das OHCHR kommt vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis, dass der Angriff auf die Zivilbevölkerung nicht nur ausgedehnt, sondern auch systematisch ist.
Strafanzeige in Deutschland
Neben allen anderen Staaten, die im Ausland begangene Völkerstraftaten verfolgen können, ist auch Deutschland dazu aufgerufen, einen Beitrag zur Aufklärung der Verbrechen zu leisten. Mit drei völkerstrafrechtlichen Referaten, einem weitgefassten Weltrechtsprinzip und langjähriger Ermittlungspraxis zu IS- und syrischen Regimeverbrechen ist der Generalbundesanwalt in besonderer Weise auf diese Aufgabe vorbereitet. Einen konkreten Aufruf zu Ermittlungen gab es: Um der Straflosigkeit des Lukaschenka-Regimes entgegenzutreten, reichte das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) im November 2021 gemeinsam mit der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) Strafanzeige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Karlsruhe ein. Sie richtete sich gegen sechs namentlich benannte, hochrangige Mitglieder des belarusischen Sicherheitsapparats und fokussierte sich auf die rechtswidrige Inhaftierung, Folter und politische Verfolgung eines Betroffenen mit deutscher Staatsangehörigkeit, der im August 2020 die Brutalität des Regimes am eigenen Leib erfahren hatte. Auch sexualisierte Gewalt und der Einsatz von tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende waren Gegenstand der Anzeige. Auf diese reagierte die Bundesanwaltschaft zunächst vielversprechend – sie legte einen Beobachtungsvorgang an, befragte den Betroffenen zu den Geschehnissen, recherchierte online zu möglichen Zeug*innen und Tatverdächtigen und stellte Behördenanfragen, um deren Aufenthalt in Deutschland zu prüfen.
Umso ernüchternder war jedoch die nachfolgende Entscheidung: Die Behörde in Karlsruhe lehnte es ab, ein förmliches Ermittlungsverfahren einzuleiten und stützte sich hierbei auf § 153f der Strafprozessordnung – eine Vorschrift, die der Staatsanwaltschaft Ermessen bei der Strafverfolgung von im Ausland begangenen Völkerstraftaten einräumt, wenn sich die beschuldigte Person nicht im Inland aufhält und ein solcher Aufenthalt auch nicht zu erwarten ist. Die Regelung soll einer Überlastung der deutschen Justiz entgegenwirken, denn nach § 1 Völkerstrafgesetzbuch besteht eine Strafverfolgungszuständigkeit auch dann, wenn eine im Ausland begangene Völkerstraftat keinen Bezug zu Deutschland aufweist. In ihrer Entscheidung ist sie allerdings keinesfalls völlig frei: Je größer der Inlandsbezug der Taten, desto größer auch die Verpflichtung, Anhaltspunkten für Verbrechen nachzugehen. Oder mit den Worten der Gesetzgeber*innen: „Für Fälle mit Inlandsbezug ergibt sich aus § 153f StPO eine prinzipielle Verfolgungspflicht“. Umgekehrt heißt dies, dass ein Absehen von der Verfolgung nur in Ausnahmefällen zulässig ist, wenn – wie im Fall der eingereichten Strafanzeige zu Belarus – deutsche Staatsangehörige von der Straftat betroffen sind und damit das passive Personalitätsprinzip greift.
Versäumnisse der Bundesanwaltschaft
Auf einen ebensolchen Ausnahmefall berief sich die Bundesanwaltschaft und argumentierte, dass sie mit der Betroffenenbefragung und ihrer weiterführenden Recherche alle denkbaren Anstrengungen unternommen hätte, um die Voraussetzungen für eine spätere Strafverfolgung zu schaffen. Weitere Ermittlungen seien nur im Wege der Rechtshilfe mit Belarus möglich und damit nicht zielführend. Diese Einschätzung zu den Grenzen der Beweiserhebung mag zunächst einleuchtend klingen, liegen doch mehr als 1.000 Kilometer, zwei Landesgrenzen und ein autoritärer Sicherheitsapparat zwischen den Ermittler*innen in Karlsruhe und den Beweisen in Minsk. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es andere naheliegende Optionen gibt, den Sachverhalt weiter aufzuklären – und ausgerechnet die Bundesrepublik hat die Voraussetzungen hierfür auf politischer Ebene mitgeschaffen:
Gemeinsam mit 18 weiteren Staaten initiierte sie im März 2021 die International Accountability Platform for Belarus (IAPB), einen Zusammenschluss von NGOs, die das Ziel verfolgen, Beweise zu mutmaßlichen Völkerstraftaten in Belarus zu sammeln, sichern und auszuwerten. Zu den Zielsetzungen des Mechanismus erklärte das Auswärtige Amt, die gesammelten Beweise könnten „die Grundlagen für spätere Strafverfolgung in Belarus oder in Drittstaaten nach dem ,Weltrechtsprinzip‘ bilden“. Ähnlichen Zwecken diente auch der ebenfalls von Deutschland unterstützte, vom VN-Menschenrechtsrat eingesetzte Untersuchungsmechanismus zur Menschenrechtssituation in Belarus: Mit Resolution 46/20 vom 24. März 2021 wurde das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte ersucht, Beweise zu Menschenrechtsverletzungen zu sammeln und gegen die Verantwortlichen zu ermitteln. Dieses Mandat wurde mit den Resolutionen 49/26 und 52/29 jeweils um ein Jahr verlängert und die Verwendung der gesammelten Beweise durch Strafgerichte als ausdrückliches Ziel benannt. Zuletzt setzte der VN-Menschenrechtsrat mit Resolution 55/L.24 drei Expert*innen ein, die die Arbeit des Mechanismus fortführen sollen.
Obwohl die beiden von Deutschland unterstützten Mechanismen also das ausdrückliche Ziel verfolgen, Beweise für Strafverfolgungsbehörden zu sammeln, hat die Bundesanwaltschaft es unterlassen, diese mit Blick auf die angezeigte Straftat um Informationen zu ersuchen. Auch wenn es selbstverständlich keine absolute Garantie gibt, dass eine solche Anfrage entscheidende Hinweise für die künftige Strafverfolgung hervorgebracht hätte, verspricht bereits ein Blick in die Tätigkeitsberichte beider Mechanismen relevante Informationen zu weiteren Zeug*innen, Tatverdächtigen und Kommandostrukturen innerhalb des Regimes. Laut dem jüngsten OHCHR-Bericht hat die Untersuchungskommission mittlerweile 657 Interviews mit Überlebenden, Zeug*innen, medizinischem Fachpersonal und NGOs geführt und mehr als 5.400 weitere Beweisstücke gesichert. Auch die IAPB hat Aussagen sowie behördliche und medizinische Dokumente von mehr als 2.000 Zeug*innen erhoben und in diesem Zuge mehr als 20.000 Unterlagen mit nicht-öffentlichen Informationen archiviert.
Diese umfangreiche Beweissammlung wartet nicht nur auf das Interesse der Strafverfolgungsbehörden, sondern verdient dieses auch: Da die Bundesanwaltschaft mit vertretbarem Aufwand eine Anfrage hätte stellen können und die begründete Aussicht auf die Gewinnung tatbezogener Erkenntnisse bestand, ist sie wegen des Inlandsbezugs der angezeigten Straftaten nach dem Legalitätsprinzip verpflichtet, diese Möglichkeit wahrzunehmen. Dies gilt umso mehr, als der deutsche Betroffene in einer belarusischen Haftanstalt inhaftiert gewesen ist, in der bekanntermaßen viele Zivilist*innen in den Tagen nach der Präsidentschaftswahl 2020 festgehalten und misshandelt wurden, was die Verfügbarkeit von Informationen zu den dortigen Repressionspraktiken wahrscheinlicher macht.
Anfechtbar ist die Entscheidung der Bundesanwaltschaft trotz des Ermessensfehlers nicht: Da die Strafprozessordnung ein Klageerzwingungsverfahren bei Einstellungsentscheidungen nach § 153f StPO ausschließt, ist nach der Rechtsprechung (hier und hier) lediglich die Frage, ob der ermessenseröffnende Tatbestand erfüllt ist, einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich. Darüber hinaus seien Einstellungsentscheidungen nach § 153f StPO nur dahingehend kontrollierbar, ob überhaupt Ermessen ausgeübt und ob die Grenze zur Willkür überschritten wurde. Angesichts dieser schwachen Kontrolldichte bleibt nur das informelle Mittel einer Gegenstellungnahme – eine Rechtsschutzlücke, die geschlossen werden sollte (siehe z.B. ECCHR-Stellungnahme, S. 16 ff.).
Ausblick
Wie ist dieser Fall nun im größeren Kontext der völkerstrafrechtlichen Ermittlungspraxis in Deutschland zu bewerten? Festzuhalten ist zunächst: Der kurze Atem der Ermittlungsbehörde in Karlsruhe bei der Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Belarus ist bedauerlich und schmälert die Hoffnung der Betroffenen auf eine baldige Ahndung der Taten. Offenbar fokussiert sich die Bundesanwaltschaft weiterhin vorrangig auf Tatverdächtige im Inland und folgt damit dem sogenannten „No Safe Haven“-Prinzip. Zwar gibt es Strukturermittlungsverfahren, etwa zu Völkerstraftaten in der Ukraine und Syrien, in denen trotz der Abwesenheit von Beschuldigten in Deutschland umfangreiche Beweise gesichert werden. Darüber hinausreichende Bemühungen, mutmaßlichen Täter*innen über die Landesgrenzen hinweg habhaft zu werden, sind jedoch mit einigen Ausnahmen kaum bekannt. Gerade aber weil klar ist, dass Deutschland nicht als Weltpolizei alle Völkerrechtsverbrechen aufklären kann oder sollte, macht das Gesetz deutliche Vorgaben dazu, wann vertiefte Ermittlungen angezeigt sind: Bei einem Inlandsbezug ist die zukünftige Strafverfolgung so weit wie möglich vorzubereiten – selbst wenn diese erst in ferner Zukunft, außerhalb von Deutschland oder möglicherweise niemals stattfinden kann. Diesem Auftrag ist die Bundesanwaltschaft im vorliegenden Fall nicht gerecht geworden, als sie das Verfahren einstellte, ohne die Erkenntnisse der IAPB und des OHCHR abzurufen und hierauf aufbauend weitere Ermittlungen anzustellen. Was juristisch ermessensfehlerhaft ist, ist auf Ebene der internationalen Bemühungen gegen Straflosigkeit eine vertane Chance: Was nützen die Beweise, die beide Mechanismen für Strafverfolgungszwecke sammeln, wenn sie hierfür nicht verwendet werden? Positive Gegenbeispiele gibt es: Dass Kooperationen zwischen nationalen Behörden und den Vereinten Nationen fruchtbringend möglich sind, zeigt etwa die Verwertung von Beweisen des IIIM-Mechanismus in deutschen Strafverfahren zu syrischen Regimeverbrechen. Es bleibt daher zu hoffen, dass die Bundesanwaltschaft ihre Entscheidung überdenkt und weitere Staaten Ermittlungen zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Belarus aufnehmen. Wo eine Zivilbevölkerung ausgedehnt und systematisch angegriffen wird, darf das Recht nicht wegsehen.
Arne Bardelle is a legal advisor at the European Center for Constitutional and Human Rights.