Der Anfang ist gemacht!
Zwischenfazit nach einem Jahr „Al-Khatib-Prozess“ in Koblenz
Am 23. April 2020 begann am Oberlandesgericht Koblenz das Verfahren gegen zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes wegen Beihilfe und Mittäterschaft an Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Syria Justice and Accountability Centre (SJAC) begleitet und dokumentiert das Verfahren in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Forschungs– und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) der Philipps-Universität Marburg von Beginn an. In einem über 30-seitigen Bericht ziehen die beiden Organisationen nun ein erstes Zwischenfazit. Durch Erläuterung der praktischen und rechtlichen Hintergründe des Verfahrens macht der Bericht deutlich, dass es sich nicht um einen ‚normalen‘ Strafprozess handelt, dies aber vor allem in Umgang mit den Überlebenden der angeklagten Verbrechen nicht immer ausreichend gewürdigt wird. Verfahren nach dem sogenannten „Weltrechtsprinzip“ drehen sich nicht nur um Schuld, Unschuld und Strafmaß der Angeklagten. Vielmehr geht es um die Überlebenden der grausamsten Verbrechen, deren Geschichten in unabhängigen rechtsstaatlichen Verfahren zu Tage gebracht und gewürdigt werden. Gerade mit Bezug auf diesen notwendigerweise opferzentrierten Fokus von Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) stellt das Koblenzer Verfahren einen wichtigen Lernprozess dar.
Mangelnde Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung
Einer der meistkritisierten Aspekte des Koblenzer Verfahrens ist die für Zuschauer unzugängliche arabische Audiospurder Hauptverhandlung – ein Umstand mit dem sich inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt hat. Doch auch die entsprechend angeordnete Maßnahme, akkreditierten Journalisten Zugang zur arabischen Verdolmetschung zu bieten, ist praktisch ineffektiv. Aufgrund einwöchiger, ausschließlich deutschsprachiger Akkreditierungsphasen sind nur einige wenige arabischsprachige Journalisten akkreditiert. Die meisten können aufgrund von Reisebeschränkungen nicht persönlich vor Ort sein. Interessierte Syrer, für die das Verfahren auch ohne direkte Verbindung von großer Bedeutung ist, haben weiterhin keine Chance dem Verfahren vor Ort zu folgen. Auch anderweitige Informationen zum Verfahren werden ausschließlich auf Deutsch veröffentlich. Die einzige Möglichkeit des nicht-deutschsprachigen interessierten Publikums, sich über die Vorgänge vor Ort zu informieren, besteht in der Konsultation von Prozessberichten, die von NGOs wie SJAC oder dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) zur Verfügung gestellt werden oder über thematische Podcasts. Während das OLG Koblenz diese Praxis der Berichterstattung billigt, scheinen andere Gerichte – wie beispielsweise das OLG Frankfurt – einer derartigen Beobachtung kritisch gegenüberzustehen. Im Verfahren gegen Taha Al-J. vor dem OLG Frankfurt werden Prozessberichte von Amnesty Deutschland oder dem ICWCentsprechend erst nach Abschluss des Verfahrens öffentlich zugänglich sein.
Für die betroffenen Gruppen, die weitaus größer sind als die beteiligten Nebenkläger*innen und involvierten Zeugen, ist ein unmittelbarer Zugang zu den Geschehnissen im Gerichtssaal jedoch essenziell. Derartige Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip sind insbesondere im Kontext des syrischen Konflikts die aktuell einzige Möglichkeit, Täter von internationalen Verbrechen in rechtsstaatlichen und unabhängigen Verfahren zur Rechenschaft zu ziehen. Dieser Prozess muss für die betroffenen Gemeinschaften jedoch auch nachvollziehbar und sichtbar sein, um zum kollektiven Heilungsprozess beizutragen. Bezüglich internationaler Straftaten kommt nationalen Gerichten – ebenso wie internationalen Tribunalen – eine wichtige gesellschaftliche Funktion zu: Sie leisten einen Beitrag zur juristischen Aufarbeitung grausamster konfliktbezogener Verbrechen. Diese Aufarbeitung hilft den Betroffenen wiederum bei der Vergangenheitsbewältigung und trägt somit zur Bildung von langfristig stabilen und friedlichen Gesellschaftsstrukturenbei. Betroffene von internationalen Verbrechen sollten daher auch als Beobachter von Verfahren nach dem VStGB Zugang zu Übersetzung vor Ort und anderweitigen Informationen zu den Geschehnissen in den Gerichtssälen bekommen.
Mangelnder Zeugenschutz
Als Nebenkläger und insbesondere als Zeugen, sind Überlebende der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die derzeit vor dem OLG Koblenz verhandelt werden, integraler Bestandteil des Verfahrens. Viele von ihnen – auch Deserteure, die als Insider vor Gericht aussagen – berichten jedoch von Angst um ihre eigene und die Sicherheit ihrer Familien. Viele Zeugen (hier, hier und hier) schilderten im vergangenen Jahr dem Gericht, dass ihre Familien, die noch in Syrien, der Türkei oder gar in Europa leben, von Anhängern der syrischen Regierung bedroht wurden und werden. Ein Zeuge fasste mit Blick auf seine und die Sicherheit seiner Familie zusammen, dass er für seine Aussage vor Gericht „teuer bezahlen wird.“ Entsprechende Maßnahmen nach §68 StPO, wie beispielsweise die Erlaubnis keine persönlichen Angaben machen zu müssen, wurden von den Richter*innen in Koblenz jedoch nur zögerlich gewährt. Als zuletzt immer mehr Zeugen vorzogen, nicht persönlich vor Gericht auszusagen, machte der Senat jedoch deutlich, dass entsprechende Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen wie die teilweise Verdeckung des Gesichts, Anonymisierung oder Mitnahme einer Begleitperson gewährt würden.
An diese Entwicklung sollte auch in künftigen Verfahren nach dem VStGB angeknüpft werden. Zeugenaussagen vor Gericht sind nicht zuletzt essenziell für die Wahrheitsfindungsfunktion der Gerichte; sie helfen zudem, den direkten Überlebenden – und stellvertretend einer ganzen vom Konflikt betroffenen Bevölkerung – dabei, ihre Geschichte öffentlich zu erzählen und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung. Eine verstärkte Anwendung von verfügbaren Zeugenschutzmaßnahmen ist insbesondere dann relevant, wenn Regierungen oder Gruppierungen deren (ehemalige) Anhänger vor Gericht stehen, noch immer Macht und somit Druck auf die Zeugen ausüben können.
Niederrangige Deserteure als Insider und Angeklagte
Bezüglich der Rolle von ehemaligen Anhängern und Mitarbeitern der syrischen Regierung gab es weitere Kritik – nicht unbedingt am Gerichtsverfahren in Koblenz – sondern vielmehr an Entscheidungen der Bundesanwaltschaft hinsichtlich der Einstufung von Verdächtigen und Zeugen. Im Laufe des Verfahrens am OLG Koblenz wurde insbesondere seitens der Verteidiger des Angeklagten Eyad A. die Frage laut, nach welchen Kriterien die Bundesanwaltschaft entscheidet, welche syrischen Deserteure als Zeugen infrage kommen, und welche von ihnen als Verdächtige eingestuft und schließlich angeklagt werden. Die Vorsitzende Richterin betonte in der Urteilsverkündung im Verfahren gegen Eyad A., dass das Verfahren gegen ihn sowie seine Verurteilung maßgeblich auf seinen eigenen selbstbelastenden Angaben beruhte,, die er gegenüber BAMF und BKA gemacht hatte.
Eyad A. hatte zudem einen relativ niedrigen Rang innerhalb des Geheimdienstes inne, mit beschränkten Entscheidungs- und vor allem Verweigerungsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang stieß seine Verurteilung zu viereinhalb Jahren Haft auch bei einigen Syrern auf Kritik. Seine Verurteilung könnte ein verheerendes Signal an andere Deserteure senden, die nun womöglich aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen keine Informationen über die Machenschaften und Hierarchien innerhalb der syrischen Behörden preisgeben. Dies bedeutet selbstverständlich keineswegs, alle niederrangigen Deserteure zu amnestieren: Das Verfahren in Koblenz, und insbesondere das Urteil gegen Eyad A., haben hier vielmehr gezeigt, dass die Bundesanwaltschaft eingehend prüfen sollte, welche Deserteure als Insider besonders in Verfahren gegen höherrangige Mitarbeiter der syrischen Regierung von Nutzen sind und gegen welche Deserteure abgesehen von selbstbelastenden Aussagen genügend belastende Beweise für eine Anklage vorliegen.
(Zwischen)Fazit
Ein Jahr nach Prozessbeginn gegen zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes in Koblenz bleibt somit die Erkenntnis, dass Verfahren nach dem VStGB mit besonderem Fokus auf die Überlebenden der angeklagten Verbrechen geführt und insbesondere kommuniziert werden müssen. Für die Überlebenden von staatlich organisierten Verbrechen stellen derartige Verfahren einen wichtigen – und oftmals den einzig verfügbaren – Beitrag zu Vergangenheitsbewältigung und gesellschaftlichem Heilungsprozess dar. Dieser Effekt kann jedoch nur dann einsetzen, wenn die Überlebenden nachverfolgen können, wie Mitarbeiter*innen und Unterstützer der syrischen Regierung in unabhängigen, rechtsstaatlichen Verfahren zur Rechenschaft gezogen werden. Der Koblenzer Prozess zeigt allerdings, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.
Hervorzuheben sind an dieser Stelle die Flexibilität und Bemühungen des OLG Koblenz im vergangenen Jahr. Während das Verfahren bereits in vollem Gange war, wurde die ehemalige Bibliothek in einen Gerichtssaal umgewandelt, der trotz pandemiebedingter Schutzmaßnahmen vielen interessierten Beobachtern die Möglichkeit gibt, dem Verfahren vor Ort beizuwohnen. Dass der Zugang zur arabischen Audiospur per Kopfhörer oder Lautsprecher kein unlösbares Problem darstellt, hat das OLG bei der Urteilsverkündung im Verfahren gegen Eyad A. bewiesen, als die Simultanübersetzung per Lautsprecher in den Zuschauerraum übertragen wurde oder als aufgrund technisch bedingter Probleme an einem der Verhandlungstage entsprechende Geräte und Kopfhörer an Zuschauer*innen verteilt wurden. Die Oberlandesgerichte, welche erstinstanzlich mit Verfahren nach dem VStGB betraut sind, sollten mit den oben genannten Besonderheiten solcher Verfahren jedoch nicht allein gelassen werden: finanzielle, technische und fachliche Ressourcen, und weitere Sensibilisierung bezüglich konfliktbezogener Strafverfahren werden dringend benötigt. Ein Jahr nach Beginn hat das Koblenzer Verfahren bereits vor Abschluss wichtige Denkanstöße hinsichtlich einer möglichen Reform der StPO, Einführung einer VStPO oder schlichtweg flexibleren, opferzentrierten Anwendung der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen geleistet. Das Verfahren ist ein Anfang und eine wichtige Lernerfahrung auf dem Weg zu weiteren Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip, für Deutschland und andere Staaten.
Aber das heisst doch, dass es dieses Recht bisher nur auf dem Papier gab. Wie soll es dann schon vor der Tat in Geltung gewesen sein?