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Zur Tötung von Qasem Soleimani: Wann darf man Soldaten töten?

16.01.2020

Der tödliche Drohnenangriff auf Qasem Soleimani und Mitglieder der „Popular Mobilization Forces“, darunter deren Anführer Abu Mahdi al-Muhandis, wirft eine Reihe rechtlicher Fragen auf. Neben dem (an dieser Stelle nicht näher behandelten) ius ad bellum und dem US-Verfassungsrecht betrifft das auch das Recht auf Leben und das humanitäre Völkerrecht: Schon jetzt ist klar, dass die traditionelle Definition internationaler bewaffneter Konflikte bei gezielten Tötungen an ihre Grenzen stößt. Zeit, hier nachzuschärfen.

Ein Ausnahmefall

Der Drohnenangriff auf Soleimani ist schließlich eine äußerst untypische Fallkonstellation: Das letzte vergleichbare Vorgehen gegen einen hochrangigen Militär durch die USA geht auf den Zweiten Weltkrieg zurück – Operation Vengeance, der Abschuss des Flugzeugs, in dem sich der für den Angriff auf Pearl Harbor verantwortlich gemachte japanische General Isoroku Yamamoto befand. Ein etwas anders gelagerter historischer Präzedenzfall wäre außerdem die versuchte Tötung Saddam Husseins während des Irakkriegs 2003. Allerdings handelt es sich hierbei um keine gezielte Tötung, sondern großflächige Angriffe auf Gebiete, in denen seine Anwesenheit vermutet wurde.

In beiden Fällen stellten sich keine grundsätzlichen völkerrechtlichen Fragen: Zum Zeitpunkt der Angriffe lag zweifelsohne ein internationaler bewaffneter Konflikt vor, Saddam Hussein war aufgrund seiner militärischen Funktionen ein legitimes Angriffsziel.

Heute ist die Rechtslage durch den technologischen Fortschritt und die verschwimmenden Grenzen zwischen Krieg und Frieden ungleich komplexer. Chirurgisch anmutende, minimal-invasive Präzisionsangriffe entziehen sich den klassischen Ordnungskategorien.

Krieg oder Frieden?

Die Schlüsselfrage bei der Beurteilung, ob die Tötung Soleimanis sein Recht auf Leben verletzt hat, besteht darin, ob zwischen den USA und dem Iran ein bewaffneter Konflikt vorlag. Erste Einschätzungen lehnten eine derartige Einstufung ab. Die UN-Sonderberichterstatterin für außergerichtliche Tötungen („extrajudicial killings“) Agnès Callamard erhob via Twitter unmittelbar nach dem Drohnenangriff den Vorwurf, dass Qasem Soleimani in seinem Recht auf Leben verletzt wurde, nicht auf Basis des Rechts bewaffneter Konflikte, auch Mary Ellen O’Connell beurteilte die Situation ähnlich. Vor Kurzem haben außerdem die wissenschaftlichen Dienste beim deutschen Bundestag das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts zwischen den USA und dem Iran verneint. Zuletzt sei erwähnt, dass der Iran und die USA nicht von einem bewaffneten Konflikt auszugehen scheinen – zumal sie wohl vermeiden wollen, dass ihre eigenen Kombattanten jederzeit zu legitimen Angriffszielen werden. Es sei freilich angemerkt, dass die Zurückweisung des Vorliegens eines internationalen bewaffneten Konflikts irrelevant ist: Was zählt, sind die „facts on the ground“.

Gezielte Tötungen im Rahmen der Menschenrechte

So gesehen ist die Situation allein aufgrund der Menschenrechte zu beurteilen – ungeachtet dessen, dass die USA eine restriktive Auffassung hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vertreten, derzufolge er nur innerhalb der USA gilt. Ganz allgemein wird diese Sichtweise – man denke allen voran an die Debatte rund um die Anwendung des Pakts auf das US-Gefangenenlager in Guantánamo – zurückgewiesen. Gezielte Tötungen und sonstige Kampfhandlungen fallen darüber hinaus unabhängig von jedweder Gebietskontrolle in den Anwendungsbereich des Rechts auf Leben (siehe dazu insbesondere den Banković-Fall), zumal es sich hier um eine völkergewohnheitsrechtliche Regel handelt.

Wie Callamard betont hat, sind gezielte Tötungen in Friedenszeiten nur erlaubt, um eine unmittelbare Bedrohung von Menschenleben abzuwenden.

Eine solche lag im vorliegenden Fall wohl nicht vor. Zwar stellte Soleimani aufgrund seiner Rolle im Nahen Osten eine generalisierte Gefahr für die USA dar. Dies umso mehr, als sie aufgrund der Geiselnahme von Teheran 1979/1980, der Ermordung ihres Botschafters in Bengasi 2012 und der jüngsten versuchten Stürmung der Botschaft in Bagdad berechtigte Sorgen vor einem neuerlichen Anschlag auf ihre Diplomaten oder diplomatische Einrichtungen haben.

Allerdings scheint die grundsätzliche Entscheidung, Soleimani zu töten, sobald ein US-Staatsbürger durch „iranische Aggression“ ums Leben kommt, bereits vor sieben Monaten getroffen worden sein. Die finale Ermächtigung dürfte bereits einige Tage vor dem Drohnenangriff erteilt worden sein. So soll Trump den Drohnenangriff im Vorfeld angekündigt, ja sogar damit „geprahlt“ haben. Unterdessen ist US-Außenminister Mike Pompeo der Frage nach einer konkreten Bedrohung mit einem pauschalen Verweis auf Geheimdienstinformationen ausgewichen.

Zusätzlich darf man an der Notwendigkeit zweifeln: Die USA hätten, wie etwa O’Connell ausführt, das Botschaftspersonal evakuieren oder in Absprache mit dem Irak die Sicherheitsvorkehrungen zusätzlich erhöhen können.

Gezielte Tötungen im humanitären Völkerrecht

Wie oben erwähnt gelten die engen menschenrechtlichen Grenzen für gezielte Tötungen nur außerhalb von bewaffneten Konflikten. Sobald ein solcher vorliegt, richtet sich die Frage, ob das Recht auf Leben verletzt wurde, wiederum nach dem humanitären Völkerrecht als lex specialis (siehe dazu das Nuklearwaffen-Gutachten).

Konkret gilt dann das Prinzip der Unterscheidung, einem von zwei, wie es der Internationale Gerichtshof (IGH) ausdrückte, „cardinal principles“ des humanitären Völkerrechts und eine ius cogens-Bestimmung (der IGH bezeichnte sie als „intransgressible“, also „unüberschreitbar“).

Diesem Grundsatz zufolge dürfen Kombattanten (in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten allgemein „Kämpfer“) jederzeit und überall angegriffen werden – unabhängig davon, ob sie bewaffnet sind oder eine Uniform tragen. Im Zuge von Kampfhandlungen wäre Soleimani unabhängig von der konkreten Einstufung der Quds-Brigaden also ein Lehrbuchbeispiel für ein legitimes Angriffsziel.

Zur weiten Definition internationaler bewaffneter Konflikte

Womit wir bei der Kernfrage wären: Gab es zwischen dem Iran und den USA wirklich keinen internationalen bewaffneten Konflikt? Allgemeiner gefasst: Ist das humanitäre Völkerrecht erst bei fortgesetzten zwischenstaatlichen Kampfhandlungen anwendbar oder bereits beim ersten Einsatz von Waffengewalt? Mehr noch, gilt es selbst bei isolierten Angriffen auf einzelne Kombattanten?

Auf den ersten Blick spricht mehr dafür als man gemeinhin annehmen mag. Immerhin haben die USA mit Soleimani einen ranghohen iranischen General getötet. Damit fällt der Drohnenangriff streng genommen unter die die gängige Definition internationaler bewaffneter Konflikte. Wie der Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) im Tadić-Fall festgehalten hat, liegt ein solcher vor, sobald Staaten untereinander auf Waffengewalt zurückgreifen (“an armed conflict exists whenever there is a resort to armed force between States”). Im Gegensatz zu nicht-internationalen bewaffneten Konflikten hat der ICTY keine bestimmte Dauer und Intensität verlangt.

Die „first“ shot“-Theorie

Man spricht hier von der auf den großen Jean Pictet und seine Kommentare zum gemeinsamen Artikel 2 der Genfer Konventionen zurückgehende „first shot“-Theorie. In seinem Kommentar zur ersten Genfer Konvention legte er fest, dass sie bereits auf einen einzelnen verwundeten Soldaten anwendbar sei: „If there is only at single wounded person as a result of the conflict, the Convention will have been applied as soon as he has been collected and tended.Im Kommentar zur dritten Konvention betonte er unterdessen, dass es keinen Unterschied mache, wie „lange der Konflikt andauert, wie viel Gemetzel („slaughter“) stattfindet oder wie viele Streitkräfte teilnehmen“. Vielmehr reiche es aus, wenn feindliche Soldaten in Gewahrsam genommen werden, die unter die Definition der Kriegsgefangenen fallen. Die dritte Genfer Konvention greift in solchen Fällen sogar ohne vorangegangene Kampfhandlungen. Zuletzt sei noch Pictets Kommentar zur vierten Genfer Konvention erwähnt, der ähnlich weit geht: „any difference arising between two states and leading to the intervention of members of the armed forces is an armed conflict.”

Das Internationale Kommittee vom Roten Kreuz (IKRK) folgt dieser Rechtsansicht bis heute: So spricht auch der aus dem Jahr 2016 stammende Kommentar zum gemeinsamen Artikel 2 in der ersten als auch in der zweiten Genfer Konvention ausdrücklich davon, dass die Gründe und die Intensität der Konfrontation bei der Beurteilung des Vorliegens eines bewaffneten Konflikts unerheblich sind („regardless of the reasons for or the intensity of the confrontation”).

Warum das humanitäre Völkerrecht auch den „first shot“ regelt

Im Zuge der Diskussionen der letzten Tage habe ich mehrfach das Argument vernommen, dass das humanitäre Völkerrecht nicht für den „first shot“ selbst gilt. Da er den internationalen bewaffneten Konflikt überhaupt erst auslöst, regelt es erst die darauffolgenden Kampfhandlungen. So gesehen wären gezielte Tötungen auch bei Kombattanten ausschließlich im Rahmen der Menschenrechte zu beurteilen. Staaten dürften beim ersten Angriff grundsätzlich nur militärische Objekte, nicht aber feindliche Soldaten ins Visier nehmen.

Das mag auf den ersten Blick durchaus vernünftig klingen, führt aber zu sinnwidrigen Ergebnissen, wenn man ungeachtet der strikten Trennung zwischen ius ad bellum und ius in bello die unterschiedlichen Rechtfertigungsgründe bedenkt: Ein Staat, der auf Grundlage einer Autorisierung durch den Sicherheitsrat handelt, dürfte erst beim zweiten Angriff auf Kombattanten zielen. Richtig absurd wird diese Einschränkung aber bei Selbstverteidigungshandlungen gegen unmittelbar bevorstehende bewaffnete Angriffe. Es ist schließlich mehr als fraglich, ob die Kriterien des zeitlichen Naheverhältnisses und der Notwendigkeit im Rahmen des Rechts auf Leben gleich weit gefasst sind wie im Rahmen des Rechts auf präemptive Selbstverteidigung. Anders gesagt: Erfüllt legitime präemptive Selbstverteidigung auch automatisch das Erfordernis der Abwendung einer Bedrohung für das Leben anderer?

Falls nicht, würde daraus folgen, dass ein Staat, der auf Grundlage des Rechts auf Selbstverteidigung zu einem früheren Zeitpunkt feindliche Kombattanten angreift als es das Recht auf Leben erlaubt (freilich ohne damit die Grenze zur – unerlaubten – präventiven Selbstverteidigung zu überschreiten), mit einem gezielten Erstschlag gegen feindliche Kombattanten nahezu unweigerlich deren Recht auf Leben verletzt. Weil ab diesem Zeitpunkt – egal, auf welcher Seite – das Prinzip der Unterscheidung gilt, wären dessen Aggressionshandlungen, sofern sie direkt auf Kombattanten zielen, wiederum keine Verletzung des Rechts auf Leben (sofern man aus Aggression nicht ipso facto eine Verletzung des Rechts auf Leben der Soldaten des angegriffenen Staats ableitet, siehe dazu aber unten). Militärstrategen wären bei der ersten Zielauswahl also stark eingeschränkt und könnten gegenüber einem Aggressor massiv benachteiligt werden. Es erscheint insofern wenig realistisch, dass Staaten derartig engmaschige rechtliche Fesseln akzeptieren. Es sei außerdem kurz erwähnt, dass selbst Human Rights Watch im Zuge des Irakkriegs und der möglichen Tötung Saddam Husseins von der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf den „first shot“ ausging.

Soldaten als wandelnde Zielscheiben?

Allerdings führt die Anwendung des humanitären Völkerrechts auf den ersten Angriff bei gezielten Tötungen von Angehörigen fremder Streitkräfte zu einem kontra-intuitiven Ergebnis: Ein vereinzelter Drohnenangriff würde einen internationalen bewaffneten Konflikt auslösen, der auch sogleich wieder vorbei wäre. Konsequent zu Ende gedacht dürften Soldaten damit immer getötet werden. Die Unterscheidung zwischen Kriegs- und Friedensrecht wäre damit endgültig obsolet.

Aus diesem Dilemma gibt es drei Auswege: Erstens kann man die strenge Trennung zwischen ius ad bellum und ius in bello aufweichen. Die zweite Möglichkeit besteht darin, auch in internationalen bewaffneten Konflikten ein Mindestmaß an Intensität zu verlangen. Drittens könnte man trotz des Vorliegens eines internationalen bewaffneten Konflikts nur bestimmte Regeln des humanitären Völkerrechts anwenden und gezielte Tötungen auch in solchen Situationen ausschließlich auf Grundlage der Menschenrechte beurteilen.

Aggression als automatische Verletzung des Rechts auf Leben?

Das Human Rights Committee geht in seinem General Comment No 36 zum Recht auf Leben jedenfalls bei völkerrechtlicher Aggression von einer automatischen Verletzung des Rechts auf Leben aus (an dieser Stelle ein Dank an Adil Haque für den Hinweis). Eine solche könnte im Falle Soleimanis vorgelegen haben. Jedenfalls bei hochrangigen Kommandanten kann man davon ausgesehen, dass auch eine einzelne Tötung Aggression darstellt: Die Definition von Aggression nennt ausdrücklich den „Angriff der Streitkräfte eines Staates auf die Land-, See- oder Luftstreitkräfte oder auf die See- und Luftflotte eines anderen Staates“ ohne auf das Territorium einzugehen. Dass Soleimani sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Irak befunden hat, wäre damit unerheblich. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sich die USA nach Bekanntwerden eines irakischen Plans, den damals bereits ehemaligen US-Präsidenten George H.W. Bush zu ermorden, auf das Selbstverteidigungsrecht beriefen, was gemeinhin auch akzeptiert wurde.

Allerdings führt diese Ansicht, wie Gurmendi Dunkelberg anmerkt, zu einem widersprüchlichen Ergebnis: Die Tötung Soleimanis wäre nach humanitären Völkerrecht legal – weil Soleimani ein Kombattant war – und zugleich ein Verstoß gegen die Menschenrechte – der „letzte Sargnagel“ für die lex specialis-Theorie, wie Gurmendi es ausdrückt.

Brauchen auch internationale bewaffnete Konflikte ein Mindestmaß an Intensität und Dauer?

Ein anderer Ausweg besteht darin, auch bei internationalen bewaffneten Konflikten eine gewisse Mindestintensität zu verlangen. Eine Sichtweise, die sich etwa im Bericht des Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen Philip Alston vom Mai 2010 findet. Ihm zufolge (para. 50) gibt es Situationen, in denen das Ausmaß der Gewalt nicht die Schwelle eines bewaffneten Konflikts überschreitet. Sie sind damit nicht auf Grundlage des humanitären Völkerrechts zu beurteilen. Andererseits ist Alston hier nicht auf die Unterscheidung zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten eingegangen. Außerdem hat er im nächsten Absatz ausgeführt, dass „[d]ie Kriterien für das Vorliegen eines internationalen bewaffneten Konflikts … nach dem humanitären Völkerrecht eindeutig [sind]: Jede zwischen zwei Staaten entstehende Streitigkeit, die zum Eingreifen von Streitkräften führt, ist als bewaffneter Konflikt anzusehen, ungeachtet ihrer Intensität, Dauer oder Größenordnung.“ – was wiederum auf die „first shot“-Theorie hindeutet.

Der Schlussbericht zum Begriff des bewaffneten Konflikts der International Law Association von 2010 ist hier konsequenter: Er geht davon aus, dass alle bewaffneten Konflikte eine gewisse Intensität verlangen. Isolierte zwischenstaatliche Vorfälle („incidents“) und Grenzscharmützel („border clashes“) würden folglich keinen internationalen bewaffneten Konflikt auslösen.

In derartigen Situationen würde damit allerdings ein rechtliches Vakuum hinsichtlich der erlaubten Mittel und Methoden der Kampfführung entstehen. Außerdem wären Soldaten, die ohne vorangegangene Gewalthandlungen gefangen genommen wurden, vom Schutz der dritten Genfer Konvention ausgenommen.

Conclusio: Haager Recht und Genfer Recht redux

Grund genug, mit Kleffner (siehe dazu hier oder hier) einen Mittelweg zu suchen: Ihm zufolge stellen zwar auch geringfügige oder isolierte zwischenstaatliche Kampfhandlungen einen internationalen bewaffneten Konflikt dar. Allerdings verneint er in solchen Situationen die zwingende Anwendung des gesamten humanitären Völkerrechts. Vielmehr entscheiden die faktischen Umstände, welche konkreten Regeln zur Anwendung kommen. Ein einzelner gefangener Soldat ist beispielsweise im Einklang mit Pictets Kommentar zur dritten Genfer Konvention als Kriegsgefangener zu behandeln (siehe dazu auch Djemila Carrons L’acte déclencheur d’un conflit armé international und den dazugehörigen Blogbeitrag von Julia Grignon auf EJIL:Talk!).

So gesehen kann man die gezielte Tötung Soleimanis trotz Vorliegens eines (extrem) kurzzeitigen internationalen bewaffneten Konflikts ausschließlich auf Grundlage der Menschenrechte oder einer strengen Beurteilung des humanitären Völkerrechts beurteilen (für letztere Vorgehensweise siehe den Blogpost von Callamard auf Just Security).

Diese Schlussfolgerung entspricht auch Pictets „first shot“-Theorie: Sie zielt schließlich darauf ab, den Schutz des humanitären Völkerrechts – das „Genfer Recht“ – möglichst weit zu fassen. Wie oben ausgeführt, soll Soldaten auch ohne Kampfhandlungen der Status als Kriegsgefangene zukommen oder Zivilisten in besetzten Gebieten von der vierten Genfer Konvention profitieren. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass die Genfer Konventionen wesentlich älter sind als die maßgeblichen menschenrechtlichen Verträge (mit Ausnahme der Europäischen Menschenrechtskonvention).

Gleichzeitig beinhaltet das humanitäre Völkerrecht nicht nur Schutzbestimmungen. Konzepte wie „militärische Notwendigkeit“ („military necessity“), „militärischer Vorteil“ („military advantage“) oder Verhältnismäßigkeit dienen dazu, gewisse Kampfhandlungen und Militäroperationen ausdrücklich zu legitimieren – das sogenannte Haager Recht. Es ist von der „first shot“-Theorie nicht erfasst. Die Genfer Konventionen beinhalten keine Regeln zur Auswahl von militärischen Zielen.

Pictet bezog sich folglich nicht auf die rechtliche Möglichkeit der Tötung fremder Soldaten. Die Verschmelzung der beiden Strenge des humanitären Völkerrechts erfolgte erst im Rahmen des ersten Zusatzprotokolls 1977. Bis heute hat die gängige Definition internationaler bewaffneter Konflikte daher primär die Schutzbestimmungen des humanitären Völkerrechts im Blick, das „Genfer Recht“. Ob auch das „Haager Recht“ möglichst früh zur Anwendung kommen soll, darf indes bezweifelt werden.

 

Ralph Janik ist Externer Lehrbeauftragter der Universität Wien.

 

Cite as: Ralph Janik, “Zur Tötung von Qasem Soleimani: Wann darf man Soldaten töten?”, Völkerrechtsblog, 16. Januar 2020, doi: 10.17176/20200120-122025-0.

Autor/in
Ralph Janik
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1 Kommentar
  1. Ich danke. Gerne würde ich zwei Fragen aufwerfen, die sich mir im Kontext solcher juristischen Argumentationen stellen, die ich aber – regelmäßig – nicht adressiert sehe.
    i) Wenn die Tötung von “Soldaten” / “Kämpfern” legitimiert wird, wo ist da die Grenze nach oben? In den Argumentationen wird dieser Schlüsselbegriff als ein Kontinuum genommen. Das Militär aber ist hierarchisch organisiert, die Stellung eines “Kämpfers” in einer Befehlskette könnte einen Unterschied machen. Zugespitzt gefragt: Der jeweilige US-Präsident ist nach US-Recht “Oberbefehlshaber” der Streitkräfte. Ist dessen Tötung ggfls. legitimiert, wenn die von Soleimani gerechtfertigt ist?
    ii) Damit zusammen hängt die Auslegung von “imminent threat” bei einer hochrangigen Person in einer Befehlskette, Argumentiert wird, dass die Gefahr von der Organisation ausging, die Soleimani befehligte. Nur implizit wird gesagt, dass die Gefahr beseitigt wird, wenn der (Ober-)Befehlshaber getötet wird. Nur bei dieser Unterstellung kann die Tötung legitim sein. Die Lehre von Organisationen aber sagt: Personen sind auswechselbar, konkret: Ein allfällige Planung von Angriffen wird nicht verändert, wenn Personen in der Befehlskette ausgewechselt werden. Mein Eindruck von den rechtlich verbreiteten Argumentationen ist, dass sie faktisch etwas Absurdes unterstellen, dass Soleimani selbst als Attentäter im Anmarsch gewesen sein, gleichsam, mit Schiller, “mit einem Dolch im Gewande”.

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