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Wo kein Richter, da kein Wähler?

Die Bedeutung des Rückbaus der Rechtsstaatlichkeit für die polnische Wahlrechtsreform

13.04.2020

Polen und die Rechtstaatlichkeit – das ist seit Längerem eine schwierige Beziehung. Am Abend des 6. April 2020 änderte der Sejm (eine der beiden Kammern des polnischen Parlaments) zum zweiten Mal in kurzer Zeit unter Protest der Opposition, aber mit absoluter Mehrheit der rechtskonservativen PiS-Partei, das Krisengesetz und damit das Wahlgesetz, das bereits für die kommenden Präsidentschaftswahlen am 10. Mai in Kraft tritt. Statt die Wahlen aufgrund der aktuellen Situation zu verschieben, soll nun postalisch abgestimmt werden, obwohl dies in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Polnischen Staatsangehörigen im Ausland bleibt die Teilnahme an der Wahl vollkommen verwehrt. Wahlkampf findet auch nicht statt – mit der Ausnahme des amtierenden Präsidenten Andrzej Duda, der auf Stimmenfang durch Polen reist. Die Opposition ruft dazu auf, die Wahlen zu boykottieren und hat deshalb ihre eigenen Kandidaten zurückgezogen. Darüber hinaus reichte sogar der Wissenschaftsminister Jaroslaw Gowin seinen Rücktritt ein. Neben 70% der Polen, die sich Statistiken zufolge gegen die Abhaltung der Wahlen im Mai aussprechen, kritisieren auch polnische Verfassungsrechtler die Situation wegen des Ausfalls des Wahlkampfes und der Bevorzugung Dudas als verfassungswidrig. Die gerichtliche Durchsetzung solcher Kritik an der Wahlgesetzänderung im Eilverfahren steht jedoch vor einem Problem: Das Oberste Gericht, das für die Frage der Gültigkeit der Wahlen zuständig ist, steht nach der teilweise rechtswidrigen Justizreform unter der Kontrolle der Regierung. Die Situation in Polen verdeutlicht, wie wichtig die Wahrung der Autonomie der Gewalten besonders in Krisenzeiten ist. Doch die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte ist schon seit Längerem gefährdet. Angefangen haben die Schwierigkeiten nach dem Wahlsieg der PiS im Jahr 2015, der die polnische Gesellschaft tief spaltete. Danach folgten problematische Gesetzesnovellen im Jahr 2015, der Boykott des Verfassungsgerichtes im Herbst 2016 und die Einrichtung der umstrittenen Disziplinarkammer. Die Entwicklung eskalierte zuletzt weiter mit den sog. „Maulkorbgesetzen“, die es Verfassungsrichtern verbieten, Kritik an der Justizreform zu üben, sowie der EuGH-Entscheidung im Eilverfahren vom 8. April, die anordnet, dass die umstrittene Disziplinarkammer ihre Arbeit unverzüglich auszusetzen hat. Ihren vorläufigen Höhepunkt findet sie nun mit der neuerlichen Änderung des Wahlgesetzes.

Am meisten Aufsehen erregte in den vergangenen Jahren das Gesetz über das Oberste Gericht (pol. Sąd Najwyższy), das am 3. April 2018 in Kraft trat: Das Pensionsalter von Richter*innen am Obersten Gericht wurde von 70 auf 65 Jahre hinuntergesetzt. Das zog die Zwangspensionierung von 27 Richter*innen nach sich. Kritiker skandierten, damit würde die Regierung missliebige Richter*innen loswerden wollen, die u.a. noch zu Zeiten der vorherigen Regierung gewählt worden waren. Die Europäische Kommission reichte am 2. Oktober 2018 eine Vertragsverletzungsklage beim Gerichtshof ein; das neue Gesetz verstoße gegen den Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die große Kammer des Gerichtshofs gab der Verletzungsklage im Juni 2019 statt, mit der Begründung, Polen habe mit dem neuen Gesetz gegen seine Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen. Insbesondere liegen Verstöße gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richter*innen und den der richterlichen Unabhängigkeit vor, die nicht gerechtfertigt werden könnten. Die Große Kammer erklärte die Justizreform für teilweise rechtswidrig.

Mit dem Rückbau des Rechtsstaats verstößt Polen jedoch nicht bloß gegen EU-, sondern auch gegen Völkerrecht und internationales Soft Law. Wie die European Commission for Democracy through Law (Venice Commission) in ihrem Report on the Independence of the Judicial System Part I: The Independence of Judges feststellt, ist richterliche Unabhängigkeit eine Bedingung für ein funktionierendes System des Rechts- und Freiheitsschutzes. Die Justizreform in Polen zerstört diese Grundlage. Die Venice Commission verweist auf Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 14 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), die ein Recht auf ein unabhängiges und faires Verfahren garantieren. Gemäß Artikel 178 der Polnischen Verfassung gilt im nationalen polnischen Recht der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und gemäß Artikel 179 die Berufung auf unbestimmte Zeit. Die Maßnahme der Zwangspensionierung in der polnischen Justizreform führt jedoch dazu, dass besonders Richter*innen betroffen sind, die das 65. Lebensjahr bereits erreicht haben. So können Richter, die von einer vorherigen Regierung ernannt wurden und dadurch im Schnitt tendenziell eher älter sind, gegen „regierungsfreundlichere“ Richter ausgetauscht werden, um so günstigere Machtverhältnisse im Obersten Gericht zu sichern. Dadurch würde das Prinzip der Unabsetzbarkeit der Richter umgangen.

Darüber hinaus wurde dem Präsidenten die Möglichkeit eingeräumt, nach eigenem Ermessen Ausnahmen von dieser Regelung anzunehmen. Auf Antrag eine*r von der Zwangspensionierung betroffenen Richter*in kann das Eintrittsalter in den Ruhestand zwei Mal um jeweils drei Jahre erhöhen. Diese Option ist an keine objektiven Kriterien geknüpft, muss nicht begründet werden und kann auch nicht vor nationalen Gerichten angefochten werden – es besteht die Gefahr willkürlicher Entscheidungen. Eine parallele vom EuGH als teilweise rechtswidrig beanstandete Maßnahme vollzog sich auch an den ordentlichen Gerichten. Damit liegt nicht nur ein Verstoß gegen die unionsrechtliche Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte vor, sondern auch gegen die Rule of Law Checklist der Venice Commission. Das Soft Law Dokument, das nach Ansicht der Autoren “principles which form the basis of all genuine democracy” enthält, nennt als einen Grundsatz die prevention of abuse (misuse) of powers. Über dieses Erfordernis der Prävention von Machtmissbrauch setzt sich die Ermächtigung des Präsidenten hinweg. Die polnische Justizreform ist im Ergebnis nicht nur unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten rechtswidrig, sondern verstößt auch gegen internationale Standards. Am 21. November 2018 brachte die Regierung einen Gesetzesentwurf ein, der die vom EuGH als teilweise rechtswidrig beanstandete Maßnahme der Zwangspensionierung der Richter am Obersten Gericht rückgängig macht. Dies ändert jedoch nichts an der Situation an den ordentlichen Gerichten: Dort herrscht die EU-rechtswidrige Praxis der Zwangspensionierung nach Vorbild des Obersten Gerichts weiter vor.

Die Wahlrechtsreform stellt nun einen traurigen Höhepunkt in der Geschichte des rechtsstaatlichen und demokratischen Rückbaus in Polen dar. Da wie eingangs erwähnt, viele Mitglieder der polnischen Gesellschaft gar nicht wählen können, ist die Wahlrechtsreform nicht zuletzt menschenrechtlich höchst problematisch. Insbesondere die Vereinbarkeit mit Artikel 25 Absatz 2 des IPbpR ist zweifelhaft. Aber was ist Recht tatsächlich wert, wenn es sich angesichts parteiisch besetzter Gerichte nicht durchsetzen lässt? So zeigt die Wahlrechtsreform in Polen nun leider deutlich, mit welchem Ziel die Gerichte „entmachtet“ wurden.

 

Alina Wolski ist studentische Hilfskraft am Institut für Friedensvölkerrecht und bewaffnete Konflikte (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum.

 

Dieser Post erscheint als Teil einer Zusammenarbeit zwischen dem IFHV und dem Völkerrechtsblog.

 

Cite as: Alina Wolski, “Wo kein Richter, da kein Wähler? – Die Bedeutung des Rückbaus der Rechtsstaatlichkeit für die polnische Wahlrechtsreform”, Völkerrechtsblog, 13 April 2020, doi: 10.17176/20200413-152752-0.

Autor/in
Alina Wolski

Alina Wolski ist Doktorandin am Institute of General and Comparative Literature der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und RUB-Studierende des Programms „Nationales und europäisches Wirtschaftsrecht“ in Kooperation mit der Université François-Rabelais de Tours.

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