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Wie sind Atomkraftwerke im Krieg durch das Recht geschützt?

07.03.2022

Die Welt hielt den Atem an, als am Morgen des 4. März 2022 bekannt wurde, dass die russischen Streitkräfte das größte Atomkraftwerk in Zaporizhzhia in der Ukraine in der Nacht angegriffen hatten, so dass dies teilweise brannte. Glücklicherweise handelte es sich „nur“ um ein Verwaltungsgebäude und das Feuer konnte schnell gelöscht werden. Die Reaktoren nahmen keinen Schaden und es trat wahrscheinlich auch keine Strahlung aus. Mittlerweile wird das Atomkraftwerk in Zaporizhzhia wohl von den russischen Streitkräften kontrolliert. Bereits einige Tage zuvor hatten die russischen Streitkräfte mit militärischen Mitteln das ehemalige Atomkraftwerk in Tschernobyl eingenommen. Dabei soll auch ein Lager mit radioaktivem Abfall beschossen worden sein; zeitweilig wurden erhöhte Strahlenwerte gemessen. Bekannterweise besteht selbst im Friedenszustand eine Gefahr durch Atomkraftwerke, wenn Sie nicht korrekt betrieben werden. Im Konflikt, gerade wenn Sie direkt Teil von Kampfhandlungen sind oder sich in einem Gebiet der Kampfhandlungen befinden, ist dieses Risiko um ein Vielfaches höher. Doch wie sind Atomkraftwerde im Krieg geschützt? Kopf und Bauch sagen, dass sie aufgrund ihrer Gefahr für Mensch und Umwelt von den Kampfhandlungen ausgenommen werden sollten, aber haben sich die Staaten darauf auch einigen können? Schließlich kann grundsätzlich eine Unterbrechung der Stromversorgung des Militärs einen militärischen Vorteil bedeuten, auch wenn darunter die Zivilbevölkerung leidet. Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen und analysieren, inwieweit das humanitäre Völkerrecht Angriffe auf Atomkraftwerke trotz der drohenden Gefahren gestattet.

Atomkraftwerke sind nicht grundsätzlich von den Kriegshandlungen ausgenommen

Angriffskriege sind seit dem Briand-Kellogg-Pakt 1928 im Völkerrecht geächtet und insbesondere durch Art. 2 Abs. 4 der UN-Charter verboten. Es handelt sich dabei sogar um zwingendes Recht, also eine Norm des ius cogens . Trotzdem hat die Russische Föderation unter Präsident Putin am 24. Februar 2022 eine rechtwidrige Aggression gegenüber der Ukraine begonnen, die noch fortdauert. Auch wenn dieser Akt einen Bruch des Völkerrechts darstellt, so ist nach diesem Rechtsbruch das humanitäre Völkerrecht durch alle Konfliktparteien einzuhalten. Dies gilt für die Streitkräfte der Russischen Föderation wie auch die der Ukraine als kriegsführende Parteien eines internationalen bewaffneten Konflikts. Das humanitäre Völkerrecht, kodifiziert in den vier Genfer Konventionen und zwei Zusatzprotokollen, dient dem Schutz der Zivilbevölkerung vor den Kriegshandlungen. Zivilisten und zivile Objekt sind von den Kriegshandlungen zu verschonen und zu schützen, so besagt es u.a. das Unterscheidungsgebot als elementares Prinzip des humanitären Völkerrechts (vgl. Art. 51 des 1. Zusatzprotokolls); auch sind kollaterale Schäden an der Zivilbevölkerung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrund zu vermeiden. Trotzdem fallen unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger immer wieder Kriegshandlungen zum Opfer, so auch in diesem Konflikt. Neben der Zivilbevölkerung und zivilen Objekten gibt es weitere besondere Schutzgüter im humanitären Völkerrecht, die aufgrund ihrer Bedeutung oder ihres Gefährdungspotentials hervorgehoben geschützt sind. Dies gilt für kulturelle Güter, Kirchen oder medizinisches Personal, aber auch für Atomkraftwerke oder Staudämme.

Wegen der besonderen Gefahr, die von Atomkraftwerken ausgeht, konnten sich Staaten zumindest in den Zusatzprotokollen zu den Genfer Konventionen in den 70er Jahren auf eine Regelung einigen. Atomkraftwerke grundsätzlich von den Kriegshandlungen auszunehmen, fand jedoch keinen Konsens unter den Staaten. Unter gewissen Umständen können daher selbst Atomkraftwerke angegriffen werden, wenn der militärische Vorteil eines solchen Angriffs überwiegt. Dennoch einigten sich die Hohen Vertragsparteien des 1. Zusatzprotokolls darauf einigen, Atomkraftwerke im internationalen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Vertragsstaaten unter einen besonderen Schutz in Art. 56 zum

Schutz von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten

zu stellen.

Wie ist ein Angriff auf ein Atomkraftwerk völkerrechtlich einzuordnen?

Den Rechtsrahmen gibt diesbezüglich primär das 1. Zusatzprotokoll vor. Die Russische Föderation und die Ukraine sind jeweils Vertragspartei. Sie haben beide keine Vorbehalte bzgl. Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls eingereicht, so dass Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls für beide Konfliktparteien Gültigkeit hat.

In Art. 56 Abs. 1 S. 1 des 1. Zusatzprotokolls haben sich die Hohen Vertragsparteien – und damit auch Russland und die Ukraine – grundsätzlich darauf geeinigt, dass Kernkraftwerke nicht angegriffen werden dürfen, selbst wenn sie ein rechtmäßiges militärisches Ziel darstellen und damit angegriffen werden dürften. Dies geht auf den Unterscheidungsgrundsatz des humanitären Völkerrechts zurück, welcher die Unterscheidung in zivile und militärische Ziele verlangt, wobei nur militärische Ziele unter bestimmten Voraussetzungen angegriffen werden dürfen. Satz 1 konkretisiert das Verbot von Angriffen gegen Atomkraftwerke: Dieses Verbot besteht nämlich nur, wenn durch einen Angriff auf ein Kernkraftwerk die gefährlichen Kräfte, hier also bspw. radioaktive Strahlung, freigesetzt und dadurch schwere Verluste an der Zivilbevölkerung verursacht werden. Der vordergründige raison d’être des humanitären Völkerrechts, der Schutz der Zivilbevölkerung vor den Kampfhandlungen, wird damit in Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls spezifisch auf Kernkraftwerke angewendet. Dieses Verbot in Abs. 1 wird sodann in Abs. 2 eingeschränkt: Dieser Schutz gilt nicht für Atomkraftwerke,

wenn sie elektrischen Strom zur regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen liefern und wenn ein solcher Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, um diese Unterstützung zu beenden.”

Damit haben sich die Hohen Vertragsparteien in Art. 56 Abs. 2 des 1. Zusatzprotokolls eine hohe Hürde für rechtmäßige Angriff auf Atomkraftwerke geeinigt und eine Abwägung im Sinne des Grundsatzes der militärischen Notwendigkeit und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes getroffen. Es kann Konstellationen geben, in denen der militärische Vorteil durch einen Angriff überwiegt, selbst bei Atomkraftwerken. Berücksichtigt wird hier auch, dass Kernkraftwerke sogenannte Dual-use-Objekte darstellen können, also der zivilen und militärischen Nutzung zeitgleich dienen.

Auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit

Es ist davon auszugehen, dass die Atomkraftwerke in der Ukraine aktuell die Zivilbevölkerung und auch die Streitkräfte mit Strom versorgen. Damit liefern sie auch „unmittelbar Unterstützung für die Kriegshandlungen.” Fraglich ist jedoch, ob dies eine „bedeutende” Unterstützung darstellt, und ob ein Angriff auf Atomkraftwerke die einzige praktische Möglichkeit zur Beendigung dieser Unterstützung ist. Im Rahmen der Abwägung des militärischen Vorteils mit den Konsequenzen für die Zivilbevölkerung ist hier an mildere Mittel zu denken. Auch wenn es schwerfällt, in einem solchen Fall über „mildere“ Mittel nachzudenken, kann das humanitäre Völkerrecht aufgrund des militärischen Vorteils eine solche Aktion gewähren.  Nicht zu vergessen ist dabei aber, dass diese „milderen“ Mittel für die Zivilbevölkerung durch das Unterbrechen der Stromversorgung im Winter gravierende Folgen haben werden. Aufgrund unserer Werte und Moralvorstellungen fallen diese Überlegungen jedoch sehr schwer. Trotzdem hätte eine nukleare Katastrophe weitreichendere Konsequenzen. Bevor also das Atomkraftwerk und seine Reaktoren rechtmäßig angegriffen werden dürfen, könnten mit weniger gravierenden Folgen als bei einer nuklearen Katastrophe zunächst die Infrastruktur zum Atomkraftwerk (bspw. Stromleitungen oder Transformatoren) rechtmäßig angegriffen werden, um damit die Energiezufuhr der gegnerischen Streitkräfte einzuschränken. Auch ist an verdeckte Operation zum Herunterfahren eines Kernkraftwerks bei ausreichender Kühlung der Reaktoren zu denken, um das militärische Ziel der Unterbrechung der Energieversorgung des Militärs zu erreichen. Das „Unbrauchbarmachen“ ist schließlich nicht durch Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls verboten, wie es bspw. bei Art. 54 Abs. 2 des 1. Zusatzprotokolls in Bezug auf Gegenstände, die für das Überleben der Zivilbevölkerung unerlässlich sind, vorgesehen ist. Wobei in diesem Zusammenhang überlegt werden könnte, inwieweit die Stromzufuhr im Winter für das Überleben der Zivilbevölkerung heutzutage unerlässlich ist.

Ferner ist es aufgrund der unkontrollierbaren und schwerwiegenden Schäden, welche durch radioaktive Strahlung an der Zivilbevölkerung entstehen können, nur schwer vorstellbar, welche militärischen Vorteile einen derart massiven Schaden überwiegen könnten. Dies ist insbesondere im Hinblick auf Art. 56 Abs. 1 und. 3 des 1. Zusatzprotokolls und des Unterscheidungs- sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu bedenken. Die russischen Streitkräfte sind zudem gem. Art. 57 des 1. Zusatzprotokolls verpflichtet, Vorsichtsmaßnahmen zum Schutze der Zivilbevölkerung vor ihren Angriffen zu treffen. Bei Angriffen gegen Atomkraftwerke ist damit besondere Vorsicht geboten.

Angriffe im Umkreis von Atomkraftwerken

Das Gleiche gilt gem. Art. 56 Abs. 1 Satz 2 des 1. Zusatzprotokolls für militärische Ziele in der Nähe der Atomkraftwerke, auch wenn diese militärische Ziele grundsätzlich legal angegriffen werden dürfen. Hier gilt der gleiche Maßstab wie bei Angriffen von Atomkraftwerken.

Herunterfahren und Abschalten von Kernkraftwerken?

Zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung kann auch die ukrainische Regierung als angegriffene Partei angehalten sein, Schutzmaßnahmen anlässlich der russischen Kriegshandlungen zu treffen. Um die Bürgerinnen und Bürger vor radioaktiver Strahlung durch Angriffe auf Atomkraftwerke zu schützen, könnten die Atomkraftwerke bspw. heruntergefahren und abgeschaltet werden. Diese Schutzpflicht geht auf die Pflichten des Art. 58 Abs. 3 des 1. Zusatzprotokolls zurück. Diese Regelung richtet sich an angreifende wie auch angegriffene Parteien eines Konflikts. Hervorzuheben ist auch, dass die Ukraine als angegriffene Konfliktpartei nicht gleichfalls als Repressalie gegen Russland ein russisches Atomkraftwerk angreifen darf; der Grundsatz des Alten Testaments, „Aug um Aug, Zahn um Zahn,“ ist explizit in Art. 56 Abs. 4 des 1. Zusatzprotokolls verboten.

Schwerer Verstoß gegen das 1. Zusatzprotokoll

Besteht also das ernsthafte Risiko, dass ein direkter Angriff der russischen Streitkräfte gegen ein Atomkraftwerkradioaktive Strahlung freisetzt, die wiederum schwere Verluste in Form von ernsthaften und langfristigen Gesundheits- und Umweltschäden bei der Zivilbevölkerung auslöst, dann sind diese Angriffe ohne vorherige weniger gefährdende Angriffe mit gleicher Zielsetzung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit völkerrechtswidrig. Ein solcher Verstoß kann zudem aufgrund der schwerwiegenden Gesundheitsgefährdung der Zivilbevölkerung durch die radioaktive Strahlung als schwerer Verstoß gegen das 1. Zusatzprotokolls i.S.d. Art. 85 Abs. 3 lit. c des 1. Zusatzprotokolls gewertet werden und stellt damit gem. Art. 85 Abs. 5 des 1. Zusatzprotokolls Kriegsverbrechen dar. Zeitgleich ist die Ukraine aber auch verpflichtet, ihre Zivilbevölkerung zu schützen, ggf. durch Abschalten der Atomkraftwerke.

Ausblick: Gefahr durch andere gefährliche Anlagen?

Neben der Gefahr durch Angriffe gegen ukrainische Atomkraftwerke mit insgesamt 15 nuklearen Reaktoren bestehen ähnliche Risiken durch Angriffe gegen andere gefährliche Anlagen, wie bspw. bei Öldepots, Raffinerien, Pipelines, chemische Anlagen, metallurgische Anlagen oder auch Bergwerken. Es bestehen konkrete Gesundheitsgefahren für die Zivilbevölkerung sowie ein drohender und sehr ernstzunehmender Schaden an der Umwelt durch diese Art der Kriegsführung, wie von Präsident Selenskyj anlässlich des Angriffs auf Zaporizhzhia hervorgehoben. Diese anderen Anlagen stehen allerdings nicht unter dem besonderen Schutz des Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls; sie sind über andere und allgemeinere Regelungen (bspw. durch Art. 55 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls zum Umweltschutz) und u.a. durch den Unterscheidungsgrundsatz und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschützt. Erfahrungsgemäß führt diese Art der Kriegsführung zu langfristigen Gesundheits- und Umweltschäden, die nicht an den Grenzen der Ukraine Halt machen werden.

Autor/in
Anne Dienelt

Dr. Anne Dienelt, maître en droit (Aix-en-Provence) is a senior research fellow and lecturer at the Institute of International Affairs of the Faculty of Law at the University of Hamburg. In her doctoral thesis, she dealt in depth with questions of environmental protection in armed conflicts. In this context, she also assisted some members of the UN International Law Commission on the topic “Protection of the Environment in Relation to Armed Conflicts” as an assistant and scientific advisor. Anne is co-signatory of the Open Letter on the Environmental Dimensions of the Russian Invasion of Ukraine together with more than 900 experts and 155 organizations.

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