Völkerrechtsgeschichte gibt es nur im Plural. Von den „histories of international law“ schreibt Martti Koskenniemi, der den „historiographical turn“ im Völkerrecht mit seinem „Gentle Civilizer“ um die Jahrtausendwende selbst kräftig angestoßen hat. Zuvor war es lange ziemlich still gewesen um die Geschichte des internationalen Rechts. Als „Aschenputtel der Disziplin“ hatte Georg Schwarzenberger die Völkerrechtsgeschichte 1952 bezeichnet. Die Jahrzehnte des Kalten Krieges waren auch für Geschichte und Theorie des Völkerrechts eine Eiszeit.
Nicht nur in der Praxis, auch in der Wissenschaft dominierten die Pragmatiker. Wilhelm Grewes „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“, 1984 im deutschen Original veröffentlicht und 2000 auf Englisch publiziert, gehörten im Grunde noch in die Welt vor San Francisco. Grewes völkerrechtshistorischer Bestseller war eigentlich schon 1944 fertiggestellt und erhielt vom Autor nach dem Ende seiner langen Karriere im diplomatischen Dienst vierzig Jahre später nur noch ein kleines Update.
Natürlich ging es im Völkerrecht nie ohne ein gewisses Maß an geschichtlichem und geographischem Faktenwissen. Die weitgespannten historischen Exkurse, die Wahlfachkandidaten in den sehr späten Neunzigern in den Vorlesungen des Würzburger Völkerrechtlers Dieter Blumenwitz (ein bekennender Schüler des Schmitt-Schülers Friedrich Berber) erleben konnten, dürften für dieser Zeit allerdings eine Ausnahme gewesen sein. Erst die Ernüchterung über die Unzulänglichkeiten der „Neuen Weltordnung“, die nach 1989 vielerorts vollmundig annonciert worden war, brachte eine Wendung zur historischen Reflexion.
Die Herausbildung neuer internationaler Institutionen, die rasante Proliferation internationaler und supranationaler Gerichte, neue Menschenrechtsregime und das Aufblühen des internationalen Strafrechts wurden schnell von Srebrenica, 9/11, dem transnationalen Terrorismus und der globalen Finanzkrise überschattet. Nicht nur die „Fragmentierung“ der Völkerrechtsordnung erweist sich in Kollision und Wettbewerb normativer Systeme als Herausforderung – die Ordnungsmuster des Völkerrechts selbst werfen Fragen auf. Um zu verstehen, wo das Völkerrecht und seine Institutionen heute stehen und was damit anzufangen ist, sollten wir fragen, wie es geworden ist.
Ach, Europa …
Unter diesen Vorzeichen hat die Völkerrechtsgeschichte in den vergangenen zehn Jahren einen veritablen Boom erlebt. Das „Journal of the History of International Law“, die zahlreichen Studien aus dem Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, das unlängst erschienene „Oxford Handbook of the History of International Law“ sind nur eminente Beispiele aus der gewaltigen und stetig anwachsenden Fülle der einschlägigen Literatur. Autorinnen und Autoren nehmen immer öfter auch das verhängnisvolle Erbe der europäischen mission civilisatrice unter die Lupe. Wachsendes Interesse findet gegenwärtig islamisches Völkerrechtsdenken. Einfach ausbürsten lassen sich die Spuren des europäischen Imperialismus aus der Textur des Völkerrechts aber nicht.
Keineswegs ist ausgemacht, wie mit dem vielbeklagten Eurozentrismus des Völkerrechts und seiner Geschichte angemessen umzugehen ist. Denn europäisch geprägt sind ja nicht nur Personen und Ereignisse, sondern auch Positionen und Begriffe – und die Maßstäbe der Historiographie selbst. Doch kann eine völkerrechtshistorische Untersuchung den europäisch geprägten konzeptionellen Rahmen des Völkerrechts außer Acht lassen, ohne damit auch den Anspruch aufzugeben, eine Geschichte des Völkerrechts (und nicht etwa einfach – wie es Rose Parfitt auf den Punkt bringt – nur eine Geschichte von irgendwas) zu schreiben?
Da scheint eine wohlüberlegte Kontextualisierung vielversprechender, die das Völkerrecht dezentralisiert und Europa auch einmal an die Peripherie rückt – ganz im Sinne der von Dipesh Chakrabarty propagierten „Provinzialisierung Europas“, die sich neuerdings auch Juristen auf die Fahnen schreiben. Nicht nur aus Gründen historiographischer Fairness, darf man vermuten – sondern auch im Blick auf ganz heutige Veränderungen des weltpolitischen Tableaus. Wie eine solcherart dezentrierte europäische Rechtsgeschichte im globalen Kontext aussehen kann, hat Thomas Duve in einem so ambitionierten wie inspirierenden Memorandum skizziert.
Recht und Geschichte, Juristen und Historiker
Wer sich mit der Geschichte des Völkerrechts beschäftigt, sollte neben transregionalen Erweiterungen des Bezugsrahmens der eigenen Forschung auch die Überschreitung disziplinärer Grenzen in den Blick nehmen. Längst befassen sich nicht nur Juristinnen und Juristen, sondern auch Historikerinnen und Historiker mit der Geschichte des Völkerrechts. Und es gibt, etwa zu Fragen der Rezeption des europäischen Völkerrechts in China, wichtige Studien von Soziologen und Sprachwissenschaftlern. Auch Anthropologen zeigen Interesse. Doch ein disziplinenverbindender Austausch zwischen den Akteuren ist die Ausnahme. Häufig forschen sie zwar parallel, aber nicht kooperativ.
Zwischen Juristen und Historiker herrscht eine irritierende Sprachlosigkeit, wenn es um Forschungsgegenstände geht, mit denen sich beide Professionen beschäftigen. Das bestreitet gern und mit Verve, wer beim gekonnten Flanieren übers Parkett der Geistes- und Sozialwissenschaften die Fachgrenzen hinter sich lässt. Wen kümmerten denn disziplinäre Zuordnungen? Entscheidend sei, was für eine konkrete Forschungsfrage von Interesse und Belang sei, betonte Martti Koskenniemi gerade in einem Gespräch mit Anne Orford und der Autorin (nachzulesen in der nächsten Frühjahrsausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte).
Klar, jeder hat inzwischen Koskenniemi und Osterhammel gelesen, Moyn und Mazower. Geht es aber, jenseits der großen Synthesen, in kleinteiligere Forschungsfelder, dann wird die gegenseitige Wahrnehmung dünn. Das Gespräch über Disziplingrenzen hinweg ist anspruchsvoll und voraussetzungsreich. Vorverständnisse sind oft auch Vorurteile. Juristen, deutsche zumal, bestehen auf begrifflicher Präzision und sauberer Dogmatik. Historiker (und Anthropologen, Soziologen und Politikwissenschaftler) mögen die technicalities nicht, die komplexen institutionellen Architekturen, die komplizierten Fälle und verschachtelten Urteile. Diese Differenzen zu überwinden ist nicht leicht. Doch es lohnt sich, das zeigt die Erfahrung mit drei Fellow-Jahrgängen des Berliner Programms Rechtskulturen.
Wie viel Kontext?
Ziemlich unzufrieden ist der Völkerrechtler und promovierte Historiker Jacob Katz Cogan mit der völkerrechtshistorischen Produktion aus juristischen Federn. Entweder betreibe man da, „intensely internalist“ (in methodischer Engführung, die nur auf bewährte juristische Methoden und Materialien setzt), eine Nabelschau, die nur auf die Vorläufer des heutigen Rechts, seiner Institutionen und Akteure schaue und diese affirmativ zu begründen suche. Oder man verfolge kritische Agenden, die genau jene Fortschrittsnarrative zu dekonstruieren suchten, die vielen „Internalisten“ lieb und teuer seien. Doch es werde besser, konstatiert Jacob Katz Cogan. Denn immer öfter widmeten sich neuerdings professionelle Historiker völkerrechtshistorischen Themen. Die bieten sorgfältige historische Kontextualisierung, betten ihren Gegenstand in seine Zeitläufte ein, erforschen Völkerrechtsentwicklungen „embedded in their specific places and moments“.
Aber können Völkerrechtler Historiker sein? Und sollen sie das? „Was wir als Völkerrechtsgeschichte erforschen, hängt zunächst einmal davon ab, was wir unter ‚Völkerrecht’ verstehen“, schreibt Martti Koskenniemi. Und während er der Kontextualisierung seines Stoffes durchaus etwas abgewinnen kann, zieht er ihr doch Grenzen– nicht zuletzt deswegen, weil die Reduzierung eines historischen Narrativs auf seinen Kontext eine künstliche Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart zieht und darüber hinwegtäuscht, dass schließlich auch der Kontext, die Auswahl von Gegenstand und Bezugsrahmen auf eine bewusste Entscheidung des (Völkerrechts-)Historikers zurückgeht.
Anne Orford geht noch einen Schritt weiter, unterzieht den britischen Ideenhistoriker Quentin Skinner einer aufmerksamen relecture und ermutigt zu einem radikalen Anachronismus, der dann doch gar nicht so radikal ist, sondern nur den Kontextbegriff von der Vergangenheit bis in die Gegenwart dehnt. Dabei setzt sie auf eine genuin juristische Perspektive und Methodik, ein „juridisches Denken“, das theoretisch, empirisch und politisch gewinnbringend scheint, weil es nicht darüber hinwegtäuscht, dass Völkerrechtlerinnen ihre Fragen an einen historischen Stoff als Juristinnen stellen – auch wenn sie Völkerrechtsgeschichte treiben. „Juridisches Denken prägt die Problemstellung, formt die Auswahl der Archivalien, die Konstruktion des Narrativs, der Erzählstruktur, des Arguments und gibt den Bezugsrahmen vor.“
Reflexive Disziplinarität
Das mag völkerrechtshistorisch Forschenden aus der Historikerzunft sehr verdächtig vorkommen – und ich kann ihnen das auch kaum verdenken. Vertreter der historischen „Zunft“ sind schließlich kaum weniger selbstbewusst und eigensinnig als Völkerrechtler, die ihr Fach häufig schlicht als „the profession“ bezeichnen. Entscheidend ist jedoch, dass Historiker und Juristen über (ihre) Völkerrechtsgeschichte(n) sprechen und streiten. Dass es Begegnungen gibt und Räume des Konflikts und der Kooperation, die die Herausbildung einer je eigenen reflexiven Disziplinarität fördern und fordern. Zentral ist dabei die Frage der individuellen Verortung der Forschenden.
Es geht darum, nicht nur wie ein guter Anwalt „fremde“ Perspektiven einzunehmen, sondern sich der eigenen Position und Situierung bewusst zu werden. Woher kommen meine Fragen? Warum interessiert mich, auf welche Weise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine transatlantische Perspektive auf die rechtliche Integration Europas entstanden ist und wie diese Einfluss auf konkrete Rechtsentwicklungen gewinnen konnte? Warum verstehe ich diesen Prozess als Teil der Völkerrechtsgeschichte, als Teil einer Geschichte des transnationalen Rechts und als Teil eines „neuen öffentlichen Rechts“, eines sich gegenwärtig neu konturierenden Rechts politischer Herrschaft in nationalem, supranationalem und globalem Kontext (anders als Frank Schorkopf in seiner Skizze eines Forschungsprogramms zur “Rechtsgeschichte der europäischen Integration” – aber das ist eine andere Geschichte und wäre ein eigener Blogpost)? Warum interessiere ich mich nicht nur für Institutionen und Netzwerke, sondern auch für konkrete Akteure und deren Biographien? Das hat mit mir zu tun, mit meinen Vorverständnissen und Vorurteilen, meiner eigenen professionellen Sozialisierung, mit meinen eigenen Fragen an das Recht und seine Geschichte.
Alexandra Kemmerer (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht) forscht derzeit als Grotius Research Scholar an der University of Michigan Law School in Ann Arbor (kemmerer@mpil.de).
Dieser Beitrag ist der Auftakt einer neuen Schwerpunkt-Serie des Völkerrechtsblogs zu „Völkerrechtsgeschichten“. Hier geht es zu weiteren Beiträgen und Reaktionen von Jochen von Bernstorff, Marcus Payk, Rob Howse, Matthew Specter, Christian Richter und Alexandra von Kemmerer.
This post begins a new series on “Histories of International Law”. The first three contributions of this series are also available in English on EJIL Talk!: “Völkerrechtsgeschichten” by Alexandra Kemmerer, “German International Law Scholarship and the Postcolonial Turn” by Jochen von Bernstorff, and Marcus Payk’s response “The History of International Law – or International Law in History?“
Cite as: Alexandra Kemmerer, “Völkerrechtsgeschichten”, Völkerrechtsblog, 3. September 2014, doi: 10.17176/20170105-181057.
Alexandra Kemmerer is a Senior Research Fellow and Academic Coordinator at the Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law in Heidelberg, and Head of the Institute’s Berlin Office.