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Verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit in der Klimakrise

Der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts stellt die Weichen für Kausalitätsfragen im Klimaschutzrecht

01.02.2022

Ein unterschätzter Entscheidungsaspekt

Kaum eine Gerichtsentscheidung der jüngeren Vergangenheit hat so viel Aufruhr verursacht wie der
Klimabeschluss (1 BvR 2656/18) des Bundesverfassungsgerichts vom März letzten Jahres. Nicht nur im schnelllebigen Raum der sozialen Netzwerke und Newsportale sorgte die Entscheidung für erhitzte Gemüter, auch die zuweilen trägere Jurisprudenz war plötzlich in heller Aufregung. Es dauerte nur wenige Stunden bis zu den ersten Blogeinträgen von Rechtswissenschaftler*innen, die sich mit den juristischen Feinheiten und interdisziplinären Auswirkungen dieser Entscheidung befassten. Besonderes Interesse weckte dabei die neuartige Grundrechtsdimension der intertemporalen Freiheitsrechte, die das Bundesverfassungsgericht als Grundlage für die Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführenden heranzog (s. etwa hier, hier und hier). Die Erregung über dieses Rechtskonstrukt hat allerdings den eigentlich bahnbrechenden Gehalt der Entscheidung überschattet: die Beurteilung der klimarechtlichen Verantwortlichkeit deutscher Staatsgewalt vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Unsicherheiten.

Der vorliegende Beitrag würdigt diesen zu Unrecht vernachlässigten Aspekt des Klimabeschlusses und hebt dessen Brisanz hervor. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass sich Bundestag und Bundesregierung nicht hinter verhältnismäßig geringen CO2-Ausstößen und klimawissenschaftlichen Unwägbarkeiten verstecken dürfen. Diese grundlegende Aussage wird erhebliche Auswirkungen auf zukünftige Klimaschutzverfahren haben.

Fehlende Kausalität aufgrund naturwissenschaftlicher Ungewissheit?

Im Rahmen der vier Klimaverfassungsbeschwerden musste sich das Bundesverfassungsgericht mit einer Problematik befassen, die sich in vielen Klimaklagen stellt: Das vielschichtige Phänomen der Erderwärmung lässt sich aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Eigenheiten nur schwer in die Schablonen geltender Rechtsprinzipien pressen. Eine rechtlich adäquate Aufarbeitung des Klimawandels bereitet somit erhebliches Kopfzerbrechen. Zwar bestehen keine Zweifel daran, dass der Klimawandel durch Hitzewellen und Extremniederschläge – wie jüngst im Westen des Landes – auch in Deutschland grundrechtlich geschützte Güter wie Leib, Leben oder Eigentum in erheblichem Ausmaße bedroht. Extremwetterereignisse lassen sich jedoch nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft weder vorhersagen noch im Einzelfall eindeutig auf den Klimawandel oder gar auf konkrete Treibhausgasemissionen zurückführen. Diese naturwissenschaftliche Ungewissheit bereitet, trotz des sicheren Wissens um die Gefährlichkeit des Klimawandels, erhebliche Schwierigkeiten für die Geltendmachung der betroffenen grundrechtlichen Positionen vor dem Bundesverfassungsgericht. Insbesondere die Frage nach der Ursächlichkeit staatlichen Handelns für Klimawandelfolgen stellt eine kaum zu überwindende Hürde dar.

Für den Erfolg einer Verfassungsbeschwerde muss der Nachweis erbracht werden, dass ein Tun oder Unterlassen der deutschen Staatsgewalt die Beschwerdeführenden in ihren Grundrechten verletzt. Hierfür bedarf es nach ständiger Rechtsprechung neben dem hinreichenden Einwirken auf eine grundrechtlich geschützte Position der Kausalität staatlichen Handelns oder Unterlassens für eben diesen grundrechtsbeeinträchtigenden Erfolg. Im Kontext des Klimawandels stellt sich hier im Umkehrschluss die Frage, ob durch ein alternatives staatliches Handeln Schäden durch Extremwetterereignisse oder sonstige Klimawandelfolgen verhindert werden könnten.

Dagegen – und somit auch gegen eine entsprechende Zurechnung einzelner Klimawandelfolgen – spricht zum einen, dass sich die von deutschem Boden ausgehenden CO2-Emissionen momentan auf lediglich zwei Prozent der weltweit ausgestoßenen CO2-Menge summieren. Selbst wenn staatliche Stellen dafür sorgten, dass innerhalb des deutschen Herrschaftsbereiches zukünftig gar keine Treibhausgase mehr emittiert werden, könnte nur ein sehr begrenzter Einfluss auf die globale Klimaentwicklung genommen werden. Zum anderen kann nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob einzelne Wetterereignisse infolge einer CO2-Reduktion in Deutschland wirklich milder ausfielen. Selbst bei berechenbaren Klimawandelfolgen wie dem Anstieg des Meeresspiegels lässt sich ein entsprechender Einfluss nicht zweifelsfrei zuordnen. Zu unvorhersehbar und zu wenig linear wirken einzelne Treibhausgasemissionen in der Atmosphäre.

Die Unvorhersehbarkeit konkreter Wetterverläufe – gepaart mit dem global gesehen geringen Anteil Deutschlands an den globalen CO2-Emissionen – führt dazu, dass eine Ursächlichkeit staatlichen Handelns für potenzielle Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Klimawandel nach dem derzeitigen Stand der Technik nicht nachgewiesen werden kann. Nach den Maßstäben der bisherigen Verfassungsrechtsprechung wären die Klimaverfassungsbeschwerden daher allesamt ablehnend zu bescheiden gewesen.

Ein neuer Maßstab beim Klimaschutz

Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich: Das Gericht hat die deutsche Hoheitsgewalt dennoch als mitverantwortlich für den Klimawandel und seine Folgen angesehen. Losgelöst von seiner bisherigen Rechtsprechung zu Kausalitätsfragen im Umweltbereich statuierte das oberste deutsche Gericht eindrücklich, dass der globale Charakter des Klimawandels einer Verantwortlichkeit nicht entgegenstehe, auch wenn der deutsche Staat die Erderwärmung nicht allein beseitigen könne (Rn. 149). Die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG verpflichte den Staat, eine Lösung des Klimaschutzproblems auf überstaatlicher Ebene zu suchen und auf diese hinzuarbeiten (Rn. 199).

Begründung findet diese Entscheidung in einer zunächst sehr abstrakten wie auch weitsichtigen Betrachtung der Gesamtlage: Der genuin globale Charakter der Erderwärmung erfordere denknotwendig weltweite Klimaschutzmaßnahmen (Rn. 200), ein Entlastungsverweis auf die Treibhausgasemissionen anderer Staaten sei daher ausgeschlossen (Rn. 203). Nur wenn alle Staaten der Erde in einer gemeinsamen Anstrengung tätig werden, könne der Klimawandel erfolgreich bekämpft werden (Rn. 202). Zu einem Tätigwerden und Einhalten bestimmter Klimaziele habe sich der Gesetzgeber über die Ratifizierung des Pariser Abkommens und die Festsetzungen in § 1 S. 3 des Klimaschutzgesetzes selbst verpflichtet (Rn. 211, 213).

Noch überzeugender werden die Ausführungen mit dem Argument, der deutsche Staat könne durch internationale Einflussnahme und Kooperation einen deutlich umfangreicheren Einfluss auf die globale Klimaentwicklung nehmen, als die rechnerischen zwei Prozent es vermuten ließen (Rn. 202). Mit nationalen Klimaschutzmaßnahmen könne die Bundesrepublik eine Vorreiterrolle einnehmen und internationales Vertrauen in die erfolgreiche und lebenswerte Bekämpfung der Erderwärmung stärken
(Rn. 203).

Notwendigkeit und Weitsicht zugleich

Bei Betrachtung der vorhergehenden Ausführungen ist festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht gar nicht erst den Versuch unternimmt, eine Kausalität im herkömmlichen Sinne zu konstruieren, wohl wissend, dass mit der derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnislage eine direkte Ursächlichkeit kaum zu begründen wäre. Im Ergebnis handelt es sich bei den dargelegten Erwägungen weniger um eine Weiterentwicklung juristischer Kausalitätsüberlegungen als vielmehr um ein grundrechtlich indiziertes Verzichten auf die Notwendigkeit einer kausalen Verknüpfung im Sonderfall des Klimawandels (vgl. Rn. 202).

Handlungsleitend dürfte bei dieser Entscheidung das offensichtliche und grundgesetzlich gebotene Erfordernis gewesen sein, ein Defizit nationaler Rechtsgrundlagen auszugleichen und die Bundesregierung verbindlich in internationale Klimaschutzanstrengungen einzubeziehen. Für den effektiven Kampf gegen den Klimawandel wäre es fatal, wenn Staaten ihre rechtliche Klimaverantwortlichkeit aufgrund wissenschaftlicher Ungewissheiten und durch den Verweis auf Emissionen anderer Länder bestreiten könnten. Eine Spirale der Verantwortungslosigkeit durch gegenseitige Schuldzuweisungen wäre der Genickbruch für die Begrenzung der Klimaerwärmung, die zwingendermaßen eine gemeinsame und globale Kraftanstrengung voraussetzt. Eine entsprechend wegweisende Bedeutung hat der Beschluss daher auch über nationale Grenzen hinweg. Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich mit seiner Entscheidung an einem internationalen Rechtsprechungstrend für gesteigerte Klimaverantwortlichkeit (vgl. Rn. 203) und setzt starke Anreize für den Ausbau des Dialogs zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen.

Ein hoffnungsvoller Ausblick

Deutschlands höchstes Gericht erkennt die einzelstaatliche Mitverantwortung trotz globaler Gesamtverantwortung für den Kampf gegen den Klimawandel in klaren Worten und bestens nachvollziehbar an. Auch wenn Unsicherheiten über konkrete Vorgänge und zukünftige Entwicklungen bestehen, schließen diese die Verantwortlichkeit deutscher Hoheitsgewalt für die globale Erderwärmung nicht aus.

Öffentlich-rechtliche Klimaschutzverfahren vor deutschen Gerichten werden somit in Zukunft eine bedeutende Hürde weniger zu überwinden haben – eine weitere Stufe im Ringen um effektiven Grundrechtsschutz vor den Gefahren des Klimawandels ist dank der Weitsicht des Bundesverfassungsgerichts erfolgreich erklommen. Doppelte Brisanz erhält diese Entscheidung durch ihre Vorbildfunktion über nationale Grenzen hinweg. Weltweit werden Gerichte den Beschluss genau unter die Lupe nehmen und sich im besten Fall zu ähnlich mutigen Entscheidungen motivieren lassen.

 

Dieser Text wurde im Rahmen des KlimaEssay Wettbewerbs des Bundesverbands rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. mit dem Sonderpreis des Völkerrechtsblogs für ein ausgezeichnetes Essay mit völkerrechtlichen Bezügen ausgezeichnet. Weitere prämierte Texte werden in Kürze bei FAZ Einspruch, im Bucerius Law Journal und in den Hamburger Rechtsnotizen erscheinen. Nähere Informationen und noch weitere Texte finden Sie auf der Website des Wettbewerbs (www.bundesfachschaft.de/klimaessay).

Autor/in
Conrad Julius Oelke

Conrad Oelke studiert Rechtswissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen. Während seines Auslandsaufenthaltes an der Leiden Law School beschäftigte er sich intensiv mit dem Europa- und Völkerrecht. Er ist Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes.

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