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Die Berichte über den Tod des Internetvölkerrechts sind stark übertrieben

09.05.2014

Rejoinder zur Replik von Michael Riegner

Ich begrüße die Möglichkeit, über meinen „Glauben an [die] Gestaltungskraft und [das] Gerechtigkeitspotenzial des Völkerrechts“ zu diskutieren, darf aber gleich darauf hinweisen, dass bestimmte Festlegungen nötig sind, um nicht in infinite Regresse abzugleiten. Schwierig wird es, wenn selbst das Gerechtigkeitspotenzial der völkerrechtlichen Ordnung in Abrede gestellt wird. Warum noch über die konkrete Ausgestaltung des Völkerrechts reden, wenn die normativ eingehegte Ordnung ohnedies nicht gerecht sein kann – da sie „hegemonial“ beeinflusst ist.  Völkerrecht und dessen Grundsätze können und sollen diskutiert werden, seine Annahmen müssen hinterfragt werden, aber das Gerechtigkeitspotenzial des Völkerrechts kann nicht in Frage gestellt werden, ohne dem Diskurs die gemeinsamen diskursiven und normativen Grundlagen zu entziehen.

Ich stimme Michael Riegner zu, wenn er das Internetvölkerrecht als “Flickenteppich” beschreibt, der von Interessen und Macht durchwirkt ist. Die normative Ordnung, die erst in Entstehung ist, ist tatsächlich teils „widersprüchlich, hegemonial und potentiell ungerecht“.  (Wobei: potenziell ungerecht ist jede normative Ordnung.) Doch nun zu Michaels Gegen-Thesen im Einzelnen:

„1. Die Internetpolitik ist von globalen Interessenkonflikten geprägt“

Dem kann ich nur zustimmen. Doch in Abrede zu stellen, dass sich ein globales Interesse an der Integrität und Funktionalität des Internet nachweisen lässt, ist problematisch. Von den Schlussdokumenten des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft bis hin zu den Prinzipiensammlungen verschiedener Stakeholder (wie NGOs (z.B.: APC und IRP), Internetregulatoren, UNECE, CoE, OECD, EU, UNESCO, OSCE, WEF, Unternehmen, Staaten wie die USA, technische Standardsetzer) herrscht zumindest in dieser Hinsicht im Wesentlichen Einigkeit. Geltendes Völkerrecht schützt funktional die Integrität des Internets, um bestimmte Ziele – wie den Schutz der Menschenrechte und die menschliche Entwicklung – zu erreichen. Die richtige Feststellung, dass die „Realität des Internets […] von Interessenkonflikten, nicht von Interessenkonvergenz geprägt [ist]“, steht mit dem vorher Gesagten nicht im Widerspruch. Die Realität des Internets ist auch von Konflikten geprägt und nicht nur von konvergierenden Interessen.

Natürlich liegt die „Integrität des Internets“ im Interesse der Staaten – und aller anderen Stakeholder. Integrität heißt vereinfacht ausgedrückt „Funktionieren des Internets“. Es heißt nicht, dass sich Staaten der Internetzensur enthalten. Warum soll es der Integrität des Internets schaden, wenn Seiten, die der sexuellen Ausbeutung von Kindern dienen, entfernet werden? Der Kampf gegen Kriminalität und gegen Ausbeutung im Netz dient gerade der Integrität des Internets, ebenso der Kampf gegen Cyber-Angriffe und das menschenrechtlich nicht unproblematische informations- und kommunikationstechnologische Hochrüsten.

Michaels Argument, dass „„[g]roße Konzerne und kleine Internetnutzer, Start-ups und Produktpiraten, Whistleblower und Hacker“ miteinander ringen, „ohne dass sich ihre divergierenden Interessen auf den gemeinsamen Nenner des „Schutzes der Integrität des Internets“ bringen ließen“, muss genau umgekehrt werden. Das Einzige, was sie alle verbindet, ist der Schutz der Integrität des Internets. Sonst können „große Konzerne“ kein Geld machen und „kleine Internetnutzer“ keine Videos mit niesenden Pandabären anschauen (und dies in großer Zahl tun, mit 196 Millionen Views).

 „2. Dem Internetvölkerrecht fehlt es an normativem Gehalt“

Michael argumentiert, dass dem Völkerrecht der normative Gehalt fehle, um nationale Internetpolitik „determinieren“ zu können. Ich stimme ihm zu, dass es ein langsamer, evolutionärer Prozess ist. Nur ist es nicht so, dass das Internetvölkerrecht sämtliche Regeln neu erfinden müsste. Als „Internetvölkerrecht“ sehe ich auch jene menschenrechtliche relevanten Normen, die auf menschliche Tätigkeit im Netz angewandt werden. Michael müsste man also so verstehen, dass das globale Menschenrechtsschutzregime (das qua Relevanz für das Internet auch Bestandteil und sogar Fundament des Internetvölkerrechts ist) nicht in der Lage sei, staatliches Verhalten zu lenken. Damit hinterfragt man aber den Menschenrechtsschutz generell, da es ja in der Tat keinen dogmatisch wie rechtstheoretisch spannenden Unterschied macht, ob willkürliche Zensur eines Website oder einer Radiosendung völkerrechtlich untersagt wird.

„3. Die Steuerungsfähigkeit des Internetvölkerrechts ist begrenzt“

Natürlich ist empirisch schwierig, den Einfluss des Völkerrechts auf die Internetpolitik im Einzelfall nachzuvollziehen. Allerdings zeigen die oben zitierten Prinzipien-Sammlungen aller Stakeholder, dass sie sich zu völkerrechtlich beeinflussten Prinzipien zur Internet Governance bekennen. Das hat auch kürzlich der NetMundial-Gipfel mit seinem Abschluss-Statement bestätigt. Auch von der deutschen Regierung im Rahmen des NetMundial-Prozesses vorgeschlagenen Prinzipien unterstreichen, dass Staaten „must ensure full compliance with their obligations under international law“.

„4. Das Internetvölkerrecht muss Legitimitätsbedenken […] selbstkritisch begegnen“

Dem kann ich nur zustimmen. Auch bin ich ganz bei Michael, wenn er schreibt, dass nicht jede völkerrechtliche Ordnung des Internets wünschenswert ist. Deswegen habe ich ja funktional argumentiert. Das Völkerrecht schützt das Internet nicht als Ding an sich, sondern als Mittel zum Zweck und der Zweck liegt u.a. im Menschenrechtsschutz und in der Förderung menschlicher Entwicklung. Ich bin auch bei Michael, wenn er kritisiert, dass zentrale Werte wie Menschenzentriertheit  dem Internetvölkerrecht nicht a priori eingeschrieben sind, noch dessen Zukunft automatisch auf sie gerichtet sei. Genau: Nicht a priori, nicht automatisch. Die Menschenzentriertheit des Internetvölkerrechts und dessen Entwicklungsorientierung lässt sich aber aus den Commitments der Staaten im WSIS-Prozess und jenen der anderen Stakeholder in den Prinzipienerklärungen seither ableiten.

„5. Kommunikative Völkerrechtswissenschaften als Zukunftsaufgabe“

Wieder bin ich ganz bei Michael: Das Völkerrecht darf kein „juristischer Elitendiskurs“ sein. Ich würde verallgemeinern: der diskursive Entwicklungsprozesse jeder normativer Ordnung muss ein Diskurs sein, an dem sich alle beteiligen (können), die von dieser normativen Ordnung betroffen sind. Das mag jetzt nach Habermas oder Rawls klingen (und in der Tat trennt uns ein Schleier des Nichtwissens vom Internet der Zukunft), doch sind die daraus zu ziehenden Schlüsse sehr real.

Gleichwohl wird die jüngst bei der NetMundial-Konferenz aufgestellte Forderung nach „democratic, multistakeholder processes, ensuring the meaningful and accountable participation of all stakeholders” stets in einem Spannungsverhältnis zur Tendenz stehen, dass sich in allen normativen Prozessen (auf lokaler, regionaler, staatlicher, internationaler Ebene) immer eher die (Funktions-, Geld-, Macht-, Wissens-)Eliten beteiligen.

Ein Ansatz, der helfen kann, ist jener der an meiner Arbeitsstelle hier in Frankfurt am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ verfolgt wird. Wir untersuchen unter anderem wie Rechtfertigungen (und Rechtfertigungsnarrative) gesellschaftlich zur Geltung kommen und zugleich Einfluss nehmen auf den Aufbau normativer Ordnungen und diese dann in Prozesse der Kritik und Selbstreflexion verwickeln. Kritik und Reflexion ist es auch, was das Internetvölkerrecht braucht – schön, dass der Völkerrechtsbog hierfür ein Forum bietet.

Cite as: Matthias C. Kettemann, “Die Berichte über den Tod des Internetvölkerrechts sind stark übertrieben”, Völkerrechtsblog, 9 May 2014, doi: 10.17176/20170104-160210.

Autor/in
Matthias C. Kettemann

Matthias C. Kettemann ist Forschungsp­rogrammleiter am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI), Forschungsgruppenleiter am Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft, Berlin und am Sustainable Computing Lab der Wirtschaftsuniversität Wien und Vertretungsprofessur für Völkerrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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1 Kommentar
  1. Unsere bisherige Diskussion hat zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Internetvölkerrecht aufgezeigt und geschärft. Die Kommentarfunktion, die hiermit „eingeweiht“ wird, kann Argumente weiterführen und neue einbringen – vor allem auch seitens neuer Diskussionsteilnehmer!

    Die Debatte geht also weiter, und es bleiben viele Fragen zu diskutieren: Welche Gerechtigkeitstheorien ermöglichen uns ein Urteil darüber, inwieweit völkerrechtliche Regimes und Normen gerecht oder ungerecht sind? Bieten „Entwicklungsorientierung“ und „Menschenzentriertheit“ einen angemessenen Gerechtigkeitsmaßstab? Haben sie ihre dunklen Seiten? Ist die Einsicht, dass Völkerrecht im Globalen Süden historisch oftmals eine Unrechtserfahrung war, im Rahmen heutiger Ordnungsprojekte auch rechtlich anzuerkennen?

    Wie bilden sich Gemeinschaftsinteressen im Völkerrecht normativ heraus und ab? Welche Rolle spielen dabei „softe“ Prinzipiensammlungen wie die des Informationsweltgipfels, die keine völkerrechtlichen Rechtsquellen iSv. Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut sind? Ist die Integrität des Internets ein solches Gemeinschaftsinteresse? Geht es um moralisch-rechtliche Integrität (Freiheit von Kinderpornographie), um technische Integrität (das „Funktionieren“), oder beides? Und last but not least: Wie können Völkerrecht und Völkerrechtsblog niesende Pandabären schützen?

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