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Komplexitäten und Parforce-Ritte

06.09.2021

Mit dem Buch “Die konkrete Utopie der Menschenrechte” wollte ich kein fertiges Konzept vorlegen, sondern einen Beitrag in einem offenen Diskussionsprozess. Diese Einladung zur Debatte scheint – auch dank des Völkerrechtsblogs – aufgegangen -, wobei wir alle künftig über die Menschenrechts- und juristische Community hinaus mehr mit Künstler*innen, Feminist*innen, de-kolonialen Kritiker*innen und Klimaschützer*innen ins Gespräch kommen müssen.

Auch als Menschenrechtspraktiker*innen bedürfen wir der kritischen Begleitung: Janne Mende zitiert zurecht als meinen programmatischen Anspruch, „die komplexeren Zusammenhänge sowie systemische und strukturelle Ursachen von Menschenrechtsverletzungen adressieren zu wollen“. Dies jedoch ist weder von mir noch von unserer Organisation, dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), alleine zu leisten. Im Gegenteil: Der Spagat zwischen notwendiger Komplexitätsreduktion und ausziselierter juristischer Argumentation fällt schwer.

Mitunter gebietet es die Logik des juristischen Verfahrens, gerade nicht unsere über den Einzelfall hinausgehenden Motive offen auszusprechen, da Gerichte daran oft Anstoß nehmen, zumal bei explizit politischen Verfahrenszielen. Aber auch der gemeinnützigen Menschenrechtsorganisationen inhärente Druck, Ressourcen wie finanzielle Förderung und öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren, gerät oft genug in Konflikt mit den Ansprüchen, die juristische Arbeit in einen größeren Kontext einzubetten, interdisziplinär zu agieren und an theoretische Diskurse anzuschließen.

Umso wichtiger sind dieses und andere Symposien und die ständige kritische Reflexion von Fällen, die wir und andere Netzwerke einreichen. Juristische Mittel zur Durchsetzung von Menschenrechten zu nutzen kann nur gelingen, wenn wir gemeinsam die politische und die juristische Situation immer wieder analysieren und schnell auf veränderte Konditionen reagieren. Denn, was gestern als wirksames juristisches Instrument zur Verfolgung eines bestimmten Ziels erschien, muss heute mitnichten richtig sein.

Spannend war für mich Mendes Unterscheidung zwischen additiver und reflexiver Komplexität. Denn der von Mende so titulierte Parforce-Ritt durch Themen und historische Zeiträume in meinem Buch und in unserer sonstigen Arbeit ist ein ständiger Balanceakt, auch weil sich die diversen Diskurse um Menschenrechte durch ein hohes Maß an Ungleichzeitigkeit auszeichnen.

Das eine tun, ohne das andere zu lassen: Den einen muss noch erläutert werden, warum sich syrische Folterer vor dem Oberlandesgericht Koblenz zu verantworten haben, also dass das Prinzip der universellen Jurisdiktion die juristische Aufarbeitung bestimmter extraterritorialer Sachverhalte erlaubt. Andere erkennen in der Linie der Nürnberger Prozesse und des Pinochet-Falls sowie des IStGH die Justiziabilität der politischen und bürgerlichen Menschenrechte an, sind aber weitgehend in einem machtunkritischen Diskurs verhaftet und reproduzieren koloniale Denk- und Handlungsmuster wie das von Makau Mutua aufgezeigte Saviour-Syndrom. Die Durchsetzbarkeit wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte sind im juristischen Diskurs – immer noch nicht – akzeptiert; die erfolgreichen Bemühungen südafrikanischer und indischer Menschenrechtsbewegungen nicht nur individuelle, sondern kollektive Rechte durchzusetzen, in Deutschland weitestgehend unbekannt.

Das alles in die Gesellschaft hinein zu übersetzen, wie es Mende zurecht als Herausforderung formuliert, stößt immer wieder auf Unbill der juristischen Expert*innen, die ein derartiges Anliegen zu undifferenziert und zu ungenau finden. Juristische Laien beklagen wiederum, dass zu wenig erklärt wird und von den Universitäten kommt oft der Vorwurf der Unterkomplexität.

Maurice Stierl hat meine Schwierigkeiten, während der aktuellen multiplen Krise, ein angemessen optimistisches Buch zu schreiben auf den Punkt gebracht. Er verweist zudem auf das Konzept von “Subaltern Cosmopolitan Legality” von Boaventura de Sousa Santos und César Rodríguez-Garavito. Beides würde eine weitergehende Diskussion verdienen, zumal beide Autoren durchaus in der praktischen Menschenrechtsarbeit aktiv sind und es daher besonders spannend zu erfahren wäre, wie sie Theorie und Praxis in Einklang zu bringen versuchen.

Und dann spricht Stierl die wichtige Frage der Rolle des Rechts im „struggle field of migration and borders in the mediterranean context“, für die er wichtige Leitlinien benennt, wenn nämlich das Recht, Foucault folgend, als „neither the thruth of power nor its‘ alibi“, sondern als „instrument of power, which is at once complex and partial“ bezeichnet wird. Auch wieder so eine Frage, die nicht pauschal und situationsunabhängig beantwortet werden kann, hat sich doch gerade in den letzten zehn Jahren europäisches Recht auf diesem Feld sowohl als schützend und später als politisches Instrument erwiesen.

Raphael Oidtmann geht dann ebenso wie Magdalena Baran-Szołtys und Christian Berger auf die Frage des Scheiterns ein, und benennt damit einen der neuralgischen Punkte praktischer Menschenrechtsarbeit. So richtig es ist, die Fixierung auf Sieg oder Niederlage in juristischen Verfahren zurückzuweisen, so wenig sollten sich Praktiker*innen der Auseinandersetzung um die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit unserer Arbeit entziehen.

Um dies zu gewährleisten schlage ich vor, zusätzlich zu der ein wenig abgegriffenen und nicht immer zutreffenden Kategorie von ‚Strategic Human Rights Litigation‘ die Kategorie ‚rechtliche Intervention‘ einzuführen (S.13ff., 90ff.). Denn oft sind nicht so sehr die einzelnen Klagen strategisch, sondern eher opportunistisch, wenn smarte Akteure sich bietende Gelegenheiten wie im Pinochet-Fall 1998 und im Filártiga Case in den USA 1981 nutzen.

Strategisch ist demnach der Einsatz von Ressourcen in vom Mainstream unterbelichteten Feldern. Als Beispiele aus der Arbeit des ECCHR fällt mir die 2008 begonnene Arbeit zu Wirtschaft und Menschenrechten ein, ein damals von der Menschenrechtscommunity wenig beachtetes Thema und die Fokussierung auf menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten, später die Menschenrechtsverletzungen an EU-Außengrenzen oder die juristische Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen. In all diesen Feldern war der Zugang der Betroffenen zum Recht bisher in keiner Weise hergestellt. Deswegen zielten die Bemühungen von uns und anderen darauf ab, unsere Argumente zunächst im juristischen Diskurs vorzubringen, um anschließend auch den politischen Diskurs voranzutreiben. Das ist, wie Oidtmann zurecht feststellt, oft Sisyphosarbeit.

Allerdings haben wir die Hoffnung auf “unvorstellbare Geschichten” nicht verloren, also größere Sprünge in der Rechtsentwicklung, wie eben in den Fällen von Pinochet und Filártiga. Bei den von Oidtmann angesprochenen Syrienfällen, gemeint ist vor allem der derzeit laufende Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz, ist entgegen der Ansicht des Kommentators das Resultat des Verfahrens von ungemeiner Bedeutung. Denn die Bundesanwaltschaft hat enorme Ressourcen in die Aufarbeitung der syrischen Staatsverbrechen und die Auswertung der Caesar-Fotos investiert und prescht damit europaweit voran. Ein Scheitern dieses Strafverfahrens hätte durchaus schwerwiegende Auswirkungen. Genau deswegen müssen sich Menschenrechtsakteure immer wieder kritisch mit ihrem Umfeld auseinandersetzen, um genau diese Abwägung zu treffen. Wer juristisch riskante oder experimentelle Argumente gegen mächtige Akteure ins Feld führt, sollte sich vorher Gedanken über die Konsequenzen gemacht haben. Wie aus unserem eigenen Litigation record hervorgeht, scheuen wir nicht vor solchen riskanten Fällen gegen mächtige Akteure zurück. Dem geht allerdings immer ein sorgfältiger Abwägungsprozess mit ganz unterschiedlichen Stimmen voraus.

Wenn ein Beitrag damit beginnt, dass den Autor*innen das Lesen meines Buch Spaß bereitet hat und dass Menschenrechtsarbeit genauso funktionieren soll, geht mir natürlich das Herz auf. Denn so selbstverständlich es ist, dass weder das Schreiben über noch das Vertiefen von verschiedenen Menschenrechtsproblemen als solches Spaß machen, so sehr gehören zur Menschenrechtsarbeit auch Gefühle, weil Gefühle zum Leben gehören und genau darum geht es für mich in dem Buch.

Warum aber habe ich mich der feministischen Kritik des Rechts nicht mehr gewidmet, wie es mir Magdalena Baran-Szoltys und Christian Berger vorhalten? Zwar fordere ich in der Schlussfolgerung ausdrücklich, Menschenrechtsarbeit auch feministisch zu konzipieren (S. 144, 146) und gehe auf die traditionelle (S. 65ff.) wie die neue Frauenbewegung (S. 66ff.) ein sowie die von letzterer problematisierte „weitreichende Diskriminierung und Abwertung von weiblicher Arbeit auf allen Ebenen der Gesellschaft, also auch für alle Arbeiten von Haus-, Sorge- und Reproduktionsarbeit“.

Aber es stimmt: Ich hätte Catharine A. MacKinnons These des „War on Women“ in das Buch aufnehmen sollen, zumal angesichts der Zunahme häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder in diesen pandemischen Zeiten. Vor allem aber hätte ich in der Tat mehr “Untold Stories” aus der feministischen Menschenrechtsarbeit und -kritik erzählen können.

Wir, und da nehme ich unsere Organisation, das ECCHR, mit in die Pflicht, werden dies hoffentlich in der nächsten Zeit nachholen. Dazu planen wir mit Theoretiker*innen und Aktivist*innen zu kooperieren. Etwa mit Verónica Gago aus Argentinien, von deren Thesen zum feministischen Streik und ihre Ausrichtung gegen häusliche und systemische Gewalt in der menschenrechtlichen Szene sowie ihrem Versuch die so unterschiedlichen Kämpfe miteinander zu verbinden wir viel lernen können. Ebenso werden wir mit Alejandra Ancheita aus Mexico eine neue Nord-Süd-Kooperationen entlang entsprechender Fallkonstellationen entwickeln – natürlich in der Hoffnung auf kritische Kommentierung und Beteiligung des Völkerrechtsblogs.

Autor/in
Wolfgang Kaleck

Wolfgang Kaleck ist Fachanwalt für Strafrecht und Generalsekretär des ECCHR.

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