Eine Replik zum Beitrag von Mareike Gebhardt
In ihrem Beitrag weißt Mareike Gebhardt auf zahlreiche Fehlentwicklungen, Widersprüche und Abgründe im gegenwärtigen Menschenrechtsdiskurs und allgemeiner im gegenwärtigen Diskurs zur Legitimität des internationalen Rechts hin. Die besondere Gefahr des Ausschlusses und der Unterdrückung, die von einem Modell ausgeht, welches partikulare Maßstäbe als universelle reklamiert, leuchtet unmittelbar ein. Dass die immense Not von Flüchtlingen vor und hinter den Grenzen des Aufnahmestaates auch mit blinden Flecken in unseren Vorstellungen von Recht und Politik einhergeht, scheint offensichtlich. Dem universellen Recht auf Leben steht eine schier unfassbare Zahl an Ertrunkenen im Mittelmeer gegenüber. Und die unantastbare Menschenwürde wurde über viele Jahre durchaus migrationspolitisch relativiert. Wie aber lässt sich eine nicht-essentialistische, republikanische Konzeption von Bürgerschaft und Menschenrechten denken?
Es wurde viel zu den Widersprüchen, die mit der Rechtsform als solcher einhergehen, geschrieben (z.B. hier und hier). Die Menschenrechte verkörpern nochmals eigene Aporien. Sie sollen unabhängig von der spezifischen Situation eines Menschen gelten, und haben doch als konkrete Formulierungen auch einen konkreten Menschen vor Augen. Ihr Inhalt bleibt also unvollständig. Und ihre Anwendung läuft regelmäßig gerade dort leer, wo Menschen tatsächlich jedes innerstaatlichen Schutzes entbehren. Zugleich geht es, so scheint es auch in Mareikes Beitrag durch, nicht um eine „Abschaffung der Menschenrechte“. Der Erklärung von universellen Rechten kommt gerade durch ihren utopischen Anspruch ein wichtiger Wert zu. Ihre Reichweite und ihr Inhalt werden in politischen Auseinandersetzungen immer neu verhandelt, und auch ihre heteronome Struktur oder ihr eurozentrischer Gehalt kann dabei bearbeitet werden.
Menschenrechte bilden ein wichtiges Vokabular für emanzipatorische Kämpfe. Andererseits findet dieses Ringen um den Gehalt von Menschenrechten unter asymmetrischen Bedingungen statt: Die institutionalisierten demokratischen Prozesse folgen im Wesentlichen der Logik (und den Ausschlüssen) des Nationalstaats. Aber auch darüber hinaus unterliegen alle Möglichkeiten, ein jeweiliges Verständnis eines Rechts zu artikulieren, den Einschränkungen, die sich beispielsweise aus prekären Lebensbedingungen oder Grenzregimen ergeben. Die Aporie der Menschenrechte besteht nicht in ihrer Unwirksamkeit, sondern in ihrer Unwahrscheinlichkeit.
Ein Fall, der diese Unwahrscheinlichkeit illustriert, ist der Fall Hirsi Jamaa et al. vor dem Europäischen Menschengerichtshof. Der Fall stellt eine der wichtigsten Entscheidungen zum Flüchtlingsschutz der vergangenen Jahre dar. Aber er ist auch die Geschichte einer Ausnahme. Am 23. Februar 2012 entschied die Große Kammer des EGMR, dass die Praxis des so genannten Push-back das Verbot der unmenschlichen Behandlung sowie das Verbot der Kollektivausweisung nach der EMRK verletze (für eine kritische Zusammenfassung mit weiteren Verweisen siehe hier). Das Urteil betraf einen Vorfall vom 6. Mai 2009, bei dem italienische Grenzschützer im Mittelmeer drei Flüchtlingsboote abgefangen, die Passagiere ohne weitere Prüfung nach Libyen zurückgeleitet und den dortigen Behörden übergeben hatten. Diese Praxis fand allein von italienischen Behörden aus über ca. zwei Jahre statt und betraf in dieser Zeit weit über tausend Personen.
Dementsprechend groß war die Wirkung des Urteils über den konkreten Fall hinaus. Symbolisch sprach es Recht in einer wichtigen Konstellation: Diejenigen, die für die europäische Öffentlichkeit meist nur in Bildern von überfüllten Booten oder in traurigen Zahlen sichtbar werden, bekamen Recht gegenüber der Regierung eines Staates der EU (und gegenüber der Haltung und Argumentation vieler weiterer europäischer Staaten). Die Menschenrechte in ihrer Anwendung durch den EGMR wurden ein Stück weit ihrem Anspruch gerecht, Ausschlüsse der nationalstaatlichen Logik anzuprangern und anzugehen.
Andererseits macht das Urteil auch deutlich, wie wenig der Schutz durch die Menschenrechte denen offensteht, deren Recht Rechte zu haben bedroht ist. Wie gesagt, die Push-back Praktiken betrafen selbst bei vorsichtiger Schätzung weit über tausend Personen. Allein bei dem Vorfall am 6. Mai 2009 befanden sich auf den drei Booten, die damals von der italienischen Küstenwache abgefangen wurden, ungefähr 200 Personen. Vor dem EGMR waren schließlich 24 Individuen als Antragssteller vertreten. Und auch dieser Antrag kam nur durch die Aktivität des Italienischen Flüchtlingsrats zustande, welcher die 24 Individuen in Lagern in Libyen aufgefunden, ihre Behandlung vor Ort untersucht und sich um die entsprechenden Anwälte gekümmert hatte.
Der Ausnahmecharakter des Hirsi-Urteils zeigt also, wie ungleich schwächer der universelle Anspruch der Menschenrechte gegenüber einer nationalstaatlichen Erzeugung von Recht ist. Einerseits schützt die EMRK Individuen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Andererseits ist die Möglichkeit, seine Rechte auch einzuklagen, alles andere als unabhängig vom Aufenthaltsort und -status einer Person. Und auch wenn wir die Betrachtung von den positivierten Rechten der EMRK lösen, wird deutlich, wie das Recht Rechte zu haben inmitten einer von Recht durchdrungenen Welt bedroht ist: Neben vielen anderen Mechanismen erzeugt das Sprechen über „echte“ und „nicht echte“ Flüchtlinge solche fundamentalen Ausschlüsse, bei denen Schutzsuchende namenlos und unsichtbar für jede demokratische Öffentlichkeit werden.
Ich stimme Mareike insoweit zu, dass wir verstärkt über die Bedingungen von Bürgerschaft nachdenken müssen. Allerdings nicht als Alternative zu Menschenrechten, sondern als ihre Voraussetzung und ihre Folgerung. Auch hier kann der Hinweis auf die Situation von Hirsi Sadik Jamaa und den 23 weiteren Antragsstellern verdeutlichend wirken: Die Forderung nach Politisierung, zum Beispiel im Sinne eines agonistischen Pluralismus à la Mouffe, hat einiges für sich, was die Probleme innerhalb territorialer Gemeinschaften betrifft. Sie verliert aber schnell an kritischem Blick, sobald es um die Fragen von Grenzen, Zugang und Mitgliedschaft geht. Die gegenhegemonialen Bewegungen und Artikulationen bedürfen der Anwesenheit und der Sichtbarkeit. Ein fernes Ziel für diejenigen, die als Asylsuchende in libyscher Haft sitzen. Ich glaube dennoch, dass wir die Fragen darüber, wie Europa seine Grenzen schützen darf, weder aus dem Feld des Politischen ausklammern noch als politische Frage lediglich innerhalb unserer non-essentialistisch definierten aber dennoch verbarrikadierten Gemeinschaft behandeln können.
Dana Schmalz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, sowie derzeit assoziierte Kollegiatin am Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Cite as: Dana Schmalz, “Hirsi Jamaa und Andere”, Völkerrechtsblog, 28 January 2015, doi: 10.17176/20170125-160248.
Dana Schmalz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg/Berlin und Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung.