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Die Interdependenz von Völkerrechtswissenschaft und Historiographie

07.01.2015

Eine Replik auf die Beiträge von Alexandra Kemmerer, Jochen von Bernstorff und Markus M. Payk

Die vorzüglichen Beiträge zur Völkerrechtshistorie sind zu begrüßen, folgende ergänzende Anmerkungen können jedoch hilfreich sein.

Defizite und Stärken

Alexandra Kemmerer weist zu Recht daraufhin, dass wir fragen sollten, wie es geworden ist, das moderne Völkerrecht. Jedes System erschließt sich insbesondere durch einen Blick auf seine Geschichte. Kemmerer konstatiert auch zutreffend den traurigen Zustand, dass beide Disziplinen parallel forschen, aber nicht zusammenarbeiten.

Dies liegt jedoch nicht daran, dass Historiker die technischen Details nicht mögen, sondern vielmehr daran, dass die Ausbildung eines Historikers nicht zum sauberen dogmatischen Arbeiten befähigt. Historiker können in der Regel die Argumentationsketten des Juristen nicht in ihrer vollen Bedeutung nachvollziehen. So versteht der Historiker eventuell nicht ganz, was der Jurist sagt und sagen will, wenn er konkret über das Völkerrecht in der Geschichte spricht.

Umgekehrt fehlt dem Juristen das umfangreiche Kontextwissen des Historikers, um eventuell bereits vorhandenes Faktenwissen richtig einzuordnen.

So darf zu dem Beitrag von Jochen von Bernstorff angemerkt werden, dass das zweite Deutsche Kaiserreich nicht nur als erster deutscher Nationalstaat, sondern auch als Kolonialmacht sehr „spät kam“. Zudem verlor das Deutsche Reich seine Kolonien schon im Jahr 1918 nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Damit war das Deutsche Kaiserreich nur relativ kurz Kolonialmacht. Der abrupte Wegfall der Kolonien führte auch dazu, dass eine Dekolonisierung gegenüber Deutschland nicht stattgefunden hat. Dies mag wohl der wesentliche Grund für eine nur geringe Beschäftigung mit der völkerrechtshistorischen Bewertung der deutschen Kolonialzeit durch die deutsche Völkerrechtswissenschaft sein.

Darüber hinaus stellt das Jahr 1945 auch aus Sicht der ehemaligen Kolonien einen Wendepunkt dar. Am 8. Mai schlug eine öffentliche Feier zum Ende des Zweiten Weltkrieges in den algerischen Städten Guelma, Sétif und Kharata in eine gewaltsame Demonstration gegen die Besatzung durch die Kolonialmacht Frankreich um. Es kam zu einem für zahlreiche europäische Siedler tödlichen Aufruhr, den erst das französische Militär durch massiven Gewalteinsatz beenden konnte. Der 8. Mai wird daher als Ausgangspunkt des Algerienkriegs angesehen. Die ehemaligen Kolonien bewerten den Zweiten Weltkrieg und sein Ende anders. Für sie ist es der Beginn ihrer Befreiung von den Kolonialstaaten. Insbesondere in Teilen Asiens konnten die nationalen Befreiungsgruppen in das Machtvakuum stoßen, das die japanischen Streitkräfte hinterlassen hatten. Die europäischen Kolonialmächte haben so in einigen Kolonien nie wieder den status quo erreicht, den sie vor dem Zweiten Weltkrieg hatten. Der Zweite Weltkrieg hatte nämlich insbesondere den asiatischen Völkern gezeigt, dass ihre europäischen Besetzer nicht unbesiegbar waren.

Das dissenting vote im Urteil des Internationalen Militärgerichtshofes für den Fernen Osten (Tokyo) des indischen Richters Radhabinod B. Pal ist ein markantes Beispiel für diese andere politische und völkerrechtliche Beurteilung des Zweiten Weltkrieges.

Fragwürdige Fokussierung

Die These, dass die strukturellen Unterschiede zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden durch das Völkerrecht zementiert würden, ist nicht überzeugend. Hierfür fehlt es auch an Nachweisen. Gleichwohl ist dem Beitrag von Jochen von Bernstorff zuzustimmen und zu danken, dass er, wie Andreas Paulus in seinem Kommentar zu Recht präzisiert hat, auf diese eklatante Kluft zwischen Anspruch (Norm) und Wirklichkeit hinweist. Wenn täglich mehr als 29.000 Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung und vermeidbaren Krankheiten sterben, darf man nicht nur fragen, welchen Erfolg die lauten Proklamationen der Menschenrechte bisher hatten.

Vielmehr gilt es noch auf einen anderen Missstand hinzuweisen. Die Berichterstattung über den Irakkrieg im Jahr 2003 ist in ihrer Fülle kaum zu überbieten gewesen. Auch in deutschen Medien wurde täglich über den Fortschritt amerikanischer Truppenbewegungen ausführlich berichtet, wohingegen das tägliche Morden in barbarischster Weise wie beispielsweise mit Macheten während des Völkermordes in Ruanda fast ohne die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit stattfand. Und das tägliche Sterben von mehr als 29.000 Kindern wird so gut wie gar nicht reflektiert, weder in der Presse, noch in der völkerrechtlichen Literatur.

Die Pflicht zur Zusammenarbeit

Die von Markus M. Payk aufgeworfene Frage: „Geschichte des Völkerrechts – oder das Völkerrecht in der Geschichte?“, stellt sich nur auf den ersten Blick. Wer die Geschichte des Völkerrechts darstellen möchte, trifft damit auch Aussagen über das Völkerrecht in der Geschichte. Umgekehrt sagt jede Studie über das Völkerrecht in der Geschichte auch etwas über die Geschichte des Völkerrechts. Das eine kommt ohne das andere nicht aus –und umgekehrt. Im Ergebnis handelt es ich also um denselben Forschungsgegenstand.

Daher ist Alexandra Kemmerer zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass es entscheidend sei, dass Historiker und Juristen über (ihre) Völkerrechtsgeschichte(n) sprechen. Vielleicht sollten sie jedoch nicht streiten, sondern vielmehr miteinander reden und diskutieren, mit der permanenten Bereitschaft, sich vom jeweils anderen bereichern zu lassen. Die bereits geschilderten Defizite der jeweiligen Profession können so behoben werden und der Vorteil des jeweils anderen für die eigene Profession genutzt werden.

Hans-Georg Gadamers Lehre der Hermeneutik zeigt Historikern und Völkerrechtlern einen Weg hierfür: Das unter einer Fragestellung zu führende Gespräch, in welchem der Beitrag des Gegenübers nicht niedergemacht, sondern zuerst seine Stärke herausgearbeitet wird. So wird sich jeder der beiden Gesprächspartner die Stärken des Gegenübers zu eigen machen können. Nur dieser Weg wird zu einer Völkerrechtshistoriographie führen, die den Anspruch auf Wahrheit geltend machen darf.

Das hermeneutische Gespräch zwischen Juristen und Historikern wurde im Übrigen bereits in Ansätzen in der Praxis geführt, nämlich im Zusammenhang mit der gerichtlichen Aufarbeitung der Völkerrechtsverletzungen des Vereinigten Königreichs im Zusammenhang mit dem Aufstand der Mau-Mau.

Nach Gadamer ist die subjektive Standortbestimmung Alexandra Kemmerers als Juristin mit entsprechender subjektiver Prägung durch ihre akademische Sozialisierung zu begrüßen. Damit kann nämlich die so bewusste Vorurteilsprägung einer Prüfung durch das Gegenüber, hier durch den Historiker, unterzogen werden. Dies gilt natürlich vice versa.

Die Naturwissenschaften sind in der Zusammenarbeit über die Fachgrenzen hinweg schon deutlich weiter. Dies wird nicht nur durch die seit Ender 90er Jahre an deutschen Universitäten etablierten Studiengänge Biochemie und Bioinformatik deutlich. Vielmehr hat  den Nobelpreis für Chemie im vergangenen Jahr ein deutscher Physiker und Direktor des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen erhalten. Stefan Hell forscht zudem am Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg nach Möglichkeiten, seine Forschungsergebnisse in der medizinischen Krebsforschung einzusetzen. Wenn man davon ausgeht, dass es die Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft und der Historiographie ist, die Wahrheit zu finden, ist ihr Verhältnis interdependent. Dies verpflichtet beide Professionen zur konstruktiven Zusammenarbeit, kurzum zur Interdisziplinarität.

 

Christian Richter ist Rechtsanwalt und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

 

Cite as: Christian Richter, “Die Interdependenz von Völkerrechtswissenschaft und Historiographie”, Völkerrechtsblog, 7 January 2015, doi: 10.17176/20170125-153620.

Autor/in
Christian Richter
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