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Anwendung humanitärvölkerrechtlicher Normen in asymmetrischen Konflikten

Extensive Auslegung oder „Lawfare“-Methode?

23.12.2015

Es ist bei Weitem kein Novum zu behaupten, dass die Konfliktstrukturen des 21. Jahrhunderts mit denen des klassischen humanitären Völkerrechts nur noch schwer vergleichbar sind. Die Zeiten staatlicher Duellkriege sind vorüber, Handlungen nichtstaatlicher Gewaltakteure prägen heute maßgeblich die weltweite Konfliktlage und führten zu einer Anpassung nationaler Sicherheitsstrategien. So wurde am 20. September 2001 mit dem „War on Terror“ zum ersten Mal einem Phänomen der Krieg erklärt – im technischen Sinn mit Einsatz originär militärischer Mittel und nicht etwa bloß metaphorisch, wie es beim „War on Drugs“ der Fall war. Durch Bezeichnungen wie „neue Kriege“ und „asymmetrische Konflikte“ wird versucht, diese Erscheinung begrifflich einzufangen: der weltweite Kampf vor allem der Vereinigten Staaten gegen einen staatsgebietslosen, eben nicht-staatlichen Gegner. Während in der Öffentlichkeit hauptsächlich eine ausdehnende Interpretation des Selbstverteidigungsrechtes in den Bereich der unzulässigen Präventivschläge hinein (sog. Bush Doktrin) wahrgenommen wurde, erlebt die Rechtswirklichkeit auch eine weniger beachtete neuartige Auseinandersetzung mit dem humanitären Völkerrecht, die immer häufiger mit dem Begriff „Lawfare“ beschrieben wird:

[T]he war against terrorism […] requires new thinking in the law of war.

Order signed by President Bush on February 7, 2002

Während Carl von Clausewitz den Krieg des 18. und 19. Jahrhunderts als „Fortsetzung des politischen Verkehrs […] mit anderen Mitteln“ beschrieb, beobachtet Katharina Ziolkowskiheute durch den „Lawfare“-Ansatz eine „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“.

Kann das Recht eine Waffe sein? Zur „Lawfare“-Theorie

Terrororganisationen wie Al-Quaida oder ISIS führen einen „Krieg“, den sie – gemessen an der militärischen Stärke der USA – in einem offenen Konflikt schlechterdings nicht gewinnen können. Maßgeblicher Bestandteil der terroristischen Methode ist es daher, gezielt die Schwachpunkte des Gegners anzugreifen – ungeachtet der rechtlichen Zulässigkeit. Eines der Hauptprobleme hierbei ist die ungleichartige Bindung der Konfliktparteien an das humanitäre Völkerrecht (siehe hierzu den Beitrag von Marco Sassòli und die Replik von Stefanie Haumer). Durch gezielte und strategische Brüche humanitärvölkerrechtlicher Normen soll die gleichwohl bestehende Bindung für die Gegenpartei zur Bürde werden: die militärische Nutzung geschützter Objekte, das Verstecken hinter menschlichen Schutzschilden oder der Einsatz von Selbstmordattentätern sind die augenfälligsten Beispiele dieser Methode. Die rechtlichen Beschränkungen, die das humanitäre Völkerrecht auferlegt, werden damit als „Waffe“ gegen den Verpflichteten verwendet. Die gängigste Definition beschreibt „Lawfare“ daher auch als “strategy of using – or misusing – law as a substitute for traditional military means to achieve an operational objective” (hier). Diese Situation ist für den staatlichen Akteur jedoch recht unbefriedigend, sodass der Militärjurist Colonel Dunlap, auf den der Begriff „Lawfare“ in seiner heutigen Form maßgeblich zurückgeht, fragt:

Is lawfare turning warfare into unfair? In other words, is international law undercutting the ability of the U.S. to conduct effective military interventions? Is it becoming a vehicle to exploit American values in ways that actually increase risks to civilians? In short, is law becoming more of the problem in modern war instead of part of the solution?

Sollte das humanitäre Völkerrecht tatsächlich mehr Problem als Lösung heutiger Konflikte sein, steht es vor einer schwierigen Aufgabe. Unabhängig von der polemischen Frage Dunlaps zeigt jedoch bereits die bloße Existenz der „Lawfare“-Debatte, dass das humanitäre Völkerrecht in aktuellen Konflikten mehr (politisch) instrumentalisiert als im rechtlichen Sinne beachtet zu werden scheint. Das Rechtsregime läuft hierbei Gefahr, zwischen den Konfliktparteien zerrieben zu werden.

To Fight Fire with Fire – Norminterpretation und Counter-Lawfare 

Bisher noch nicht thematisiert wurde in der „Lawfare“-Debatte dagegen, dass von staatlicher Seite ebenfalls eine Art „Lawfare-Programm“ betrieben wird: Konkret bedeutet dies, dass der staatliche Akteur sich seiner humanitärvölkerrechtlichen Bindung soweit als möglich zu entziehen sucht. Eine maßgebliche Rolle kommt hierbei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zu. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sollen unbestimmte Rechtsbegriffe es ermöglichen, „das Gebot der inhaltlichen Richtigkeit und materiellen Gerechtigkeit der Entscheidung im Einzelfall zu verwirklichen“ (hier). Problematisch wird dieses System aber dann, wenn es zu einer „Politisierung“ der Auslegung kommt. Diese wird dann nicht mehr an rechtlichen Maßstäben vorgenommen, sondern erfolgt schlicht ergebnisorientiert. Dann fungiert – wie die Rechtssoziologin Doris Schweitzertreffend bemerkt – „die Unbestimmtheit […] als Einfallstor für außerrechtliche moralische und politische Wertungen respektive Ideologien […].“

Im „War on Terror“ führte dieser Ansatz bspw. zum Versuch der Einführung des „unlawful combatant“ als ungeregelten dritten Status neben dem des Kombattanten und Zivilisten. Die Folge war, dass der Kriegsgefangenenstatus entfiel und die Prinzipien der Genfer Konventionen nicht mehr von Rechts wegen, sondern nur noch „as a matter of policy“ Anwendung fanden. Gesetzliche Nachbesserungen aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken, wie der Detainee Treatment Act von 2005 (Reaktion auf Rasul v. Bush) und der Military Commissions Act von 2006 (Reaktion auf Hamdan v. Rumsfeld), markierten nur „the beginning of the continuing legal odyssey of the ‘unlawful enemy combatants‘ at Guantanamo“ (Meyerstein). Im „laufenden“ bewaffneten Konflikt droht der Ausgleich zwischen Humanität und militärischer Notwendigkeit künftig in Richtung letzterer zu kippen und auch das strenge Unterscheidungsgebot wird zunehmend in Frage gestellt.

Regimeimmanente Auslegung vs. intendierte Auslegung

Nun ist die Diskussion um die „korrekte“ Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe so alt wie diese Rechtsbegriffe selbst. Obige Beispiele zeigen jedoch, wie schnell gerade im Bereich des humanitären Völkerrechts Rechtsstaatlichkeit durch eine bloße „radical reinterpretation“ auf den Kopf gestellt werden kann, oder, wie David Cole bemerkt, „turned a world in which international law was on our side into one in which we see it as our enemy.“ In der aktuellen Debatte wird nicht wie bisher eine gewünschte Rechtsfolge durch Normauslegung erreicht, sondern der Normenkomplex wird vielmehr durch Auslegung selbst ausgehebelt. Dies stellt eine neue Qualität der Normauslegung dar, eine Instrumentalisierung des Rechts. In einem Rechtsregime, das ohne zentrale Auslegungs- und Entscheidungsinstanz auskommen muss, ist daher die staatliche Auslegungspraxis besonders kritisch zu beobachten und auf die Einhaltung der systemimmanenten Auslegungsvorgaben zu achten.

Dass dies auch tatsächlich gelingen kann, dass es nicht zwingend einer Neuinterpretation des humanitären Völkerrechts bedarf, dass es vielmehr auch in seinem gegenwärtigen Stand zu brauchbaren Ergebnissen führen kann, beweist eindrücklich das Internationale Komitee vom Roten Kreuz mit seiner „Interpretive Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law“, einer auslegungsleitenden Empfehlung orientiert an eben den grundlegenden Prinzipien und Werten des humanitären Völkerrechts.

Friedrich Nietzsche hat 1886 in seinem Werk Jenseits von Gut und Böse einmal geschrieben, „wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Ein besserer Rat kann staatlichen Akteuren im „Kampf“ gegen den internationalen Terrorismus nicht gegeben werden: lassen sie sich in den „Lawfare“ hineinziehen, ist der Schaden und Vertrauensverlust weitaus größer, als ein erhoffter Gewinn. Reaktionen amerikanischer Militärjuristen mit Aufsatztiteln wie „Oportunity Lost“, „Deconstructing Direct Participation in Hostilities“ und „No Mandate, No Expertise, and Legally Incorrect“ lassen es jedoch nicht erwarten, dass von einer intendierten Auslegung im „Counter-Lawfare“ in Bälde abgewichen werden wird.

 

Raphael Schäfer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Planck Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und Doktorand an der Universität Heidelberg.

 

Cite as: Raphael Schäfer, “Anwendung humanitärvölkerrechtlicher Normen in asymmetrischen Konflikten : Extensive Auslegung oder „Lawfare“-Methode?”, Völkerrechtsblog,  23 December 2015, doi: 10.17176/20171004-111108.

Autor/in
Raphael Schäfer

Raphael Schäfer is research fellow at the Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law, doctoral candidate at the Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, and the managing editor of the Journal of the History of International Law.

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