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Alterität und Menschenrechte

Webfehler in der juridico-politischen Matrix

26.01.2015

Wie kann eine Demokratie in den Zeiten globalisierter Märkte ihre staatliche Integrität und politische Souveränität wahren ohne die Anderen zu missachten? Strengere Gesetzgebungen zu Migrations- und Flüchtlingspolitiken sind sicherlich eine offensichtliche Form des Umgangs mit Alterität – verstanden als eine kulturspezifische und/ oder soziopolitische Fremd- und Andersheit. In ihnen steckt jedoch immer schon der Geist, Alterität auflösen zu wollen. So verweigert die Demokratie unter dem neoliberalen Diktat den Anderen immer öfter die Zugehörigkeit zu einer staatlichen Gemeinschaft und den Zugang zu zentralen Bürger_innenrechten. Trotz ihres Selbstverständnisses persönliche Freiheit und rechtliche Gleichheit zu versöhnen, entwickelt die neoliberale Demokratie zur Wahrung ihrer Werte Exklusionsmechanismen, die auf verschiedene Formen der Auflösung von Alterität zielen. Dieser illegitime Umgang mit Alterität wird insbesondere in zeitgenössischen Diskursen über Menschenrechte virulent. Jenseits des neoliberalen Triumphzugs etabliert sich hier eine Debatte, die sich aus dem terminologischen und argumentativen Fundus des klassischen Republikanismus speist, sich allerdings einer postmodernen Perspektive zuwendet. Dadurch wird das nationalstaatliche Einheitsdenken des klassischen Republikanismus gesprengt und seine essentialistische Färbung aufgehoben.

Meine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Demokratie und Menschenrechten beginnt deshalb mit einer Kritik an einer Verwechslung: der neoliberalen Verwechslung von Anerkennung und Anpassung. Die Moderne zelebriert ihre Fähigkeit zu einer Einbeziehung des Anderen (Habermas) als eine Errungenschaft. Allerdings steigert sich der moderne Anspruch auf Anpassung zu einer Forderung nach der Aufgabe von Alterität. Übersetze ich die These von der Inklusivität neoliberaler Demokratien in eine kosmopolitische Vision, dann erhalte ich im besten Falle Habermas’ Weltinnenpolitik ohne Weltregierung; im schlechtesten Falle führt dieser Gedanke zu einer Auslöschung der Anderen auf globaler Ebene. Die liberale Demokratie möchte ‚alle‘ einbeziehen. Sie umarmt den Anderen, um ihn jedoch nicht mehr loszulassen: Der Andere muss Teil des demokratischen Wir werden. Er wird soweit integriert und inkludiert, dass seine Konturen verschwimmen, er seine Alterität allmählich verliert und sich Uns annähert bis er ‚einer von uns‘ ist. Doch in einer globalisierten Welt voller Diversität und Dissens ist es gefährlich, die inner- und außerstaatlichen Anderen weder zu sehen noch zu hören: sie in ihrer Andersheit nicht ernst zu nehmen. Dieser Gefahr begegnen die Menschenrechte nicht; sie verstärken sie vielmehr. Ihr Ideal, allen Menschen ohne Ansicht der Person oder des Bürger_innenstatus gleiche Rechte zu gewähren, ist vom Verlauf der Geschichte radikal erschüttert worden. Ihr Sinn und ihre Geltung sind besonders in der republikanischen Tradition prominent hinterfragt worden. In drastischen Worten konstatiert Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, dass die hehre Idee universaler Menschenrechte während des 20. Jahrhunderts „zum Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsinnigen Idealismus“ wurde. Denn trotz seiner Versicherung, alle Menschen in ihrem bloßen Menschsein zu schützen, enthält der Universalismus der Menschenrechte subtile Exklusionsmechanismen. Diese Baufehler in der menschenrechtlichen Matrix subsumiere ich unter die Begriffe des Eurozentrismus, der rechtlich-politischen Privilegierung des nationalstaatlichen Bürgerkonzepts und schließlich der heteronormativen Struktur der Menschenrechtsdiskurse.

Insbesondere in Bezug auf die Beziehung zwischen Menschenrechten und Staatszugehörigkeit zählt Hannah Arendts Analyse der Erosion des Nationalstaats zu den eindrucksvollsten Erörterungen über die Aporien der Menschenrechte. Die Katastrophe des Ersten und Zweiten Weltkrieges hatte verheerend gezeigt, dass die Dreifaltigkeit aus Volk, Territorium und Staat zerstört worden war. Millionen von Flüchtlingen hatten nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre staatliche Zugehörigkeit verloren. Auch jetzt fühlt sich kein Akteur der internationalen Politik für die Ausgestoßenen verantwortlich: Ihre anklagenden Stimmen verhallen im dunklen Raum internationaler Regelungen. Das Völkerrecht trifft kaum Maßnahmen zum Schutz derjenigen, die keinem rechtlich definierten Volk angehören. Ohne institutionelle Zugehörigkeit fallen die Staatenlosen noch immer durch das Raster geltenden Rechts hindurch. Die Menschenrechte erweisen sich in dieser Situation als wenig schlagkräftig: Diejenigen, die ohne Platz und ohne Papiere sind, können nicht auf die Verteidigung ihrer grundlegenden Rechte hoffen. Die displaced persons und die sans papiers führen der Weltgemeinschaft dramatisch vor Augen, wie rechtlos diejenigen sind, die keiner rechtlichen Einheit angehören. Keine Menschenrechte ohne Rechtssubjekt. Diese fundamentale Dysfunktion der Menschenrechte wird erst in dem Moment virulent, in dem sie eigentlich greifen sollen: im Moment des Verlusts jeglicher Rechte. Im Moment des bloßen Menschseins.

Die objektive Moralität (Derrida) der europäischen Aufklärung hatte die Autor_innen und Adressat_innen der Menschenrechtserklärungen im Glauben gelassen, eine im Menschen selbst wohnende Schutzwürdigkeit begründe seinen rechtlichen Status. Es hat sich jedoch herausgestellt, und stellt sich immer wieder, an jedem Tag heraus, dass sich neoliberale Politik und reines Recht wenig für die Menschen, für jeden Einzelnen von ihnen, interessieren. Der Flüchtling, der der Andere und daher ohne Namen und rechtliche Subjektivität ist, ist der Mensch, der – in Anlehnung an Agambens homo sacer – getötet werden darf (von den widrigen klimatischen Umständen seiner Flucht oder dem Mittelmeer) ohne jegliche rechtliche Sanktionierung. Die momentanen Flüchtlingszahlen haben nahezu den Stand nach den beiden Weltkriegen erreicht. Arendts Erörterungen über die Verfehlungen der Menschenrechte sind mehr als 60 Jahre alt, erhalten allerdings gerade jetzt ungeheuerliche Brisanz: Die Gemeinschaft der Staaten kämpft momentan mit dem Problem, die nationalstaatlichen Dysfunktionalitäten supranational auffangen zu müssen. In Europa und an anderen Orten werden die Flüchtlingslager zu den Symbolen eines scheiternden transnationalen Umgangs mit den Anderen. Auch diese Vertriebenen der Jetztzeit sind ohne Stimme, ohne rechtliche Vertretung. An wen sollten sie sich wenden? Denn um in der Lage zu sein, sich auf eine rechtliche Instanz zu berufen, benötigt der Einzelne nationalstaatliche Zugehörigkeit. Diese bauliche Unzulänglichkeit ist im philosophischen Eurozentrismus und im Universalismus der Menschenrechtserklärungen zu identifizieren. Dieser hat die Garantie der Menschenrechte an ethische Ideale gebunden, die eine objektive Gültigkeit reklamieren, die weder faktisch noch normativ gegeben ist.

Betrachtet man die beiden historisch bedeutendsten Menschenrechtserklärungen – die amerikanische von 1776 und die französische von 1789 – werden alle drei Konstruktionsfehler offensichtlich. Die Orte dieser Erklärungen befinden sich im Herzen des ‚Abendlandes‘, woraus sich ihre eindimensionale Ausrichtung auf westliche Werte erklärt. Darüber hinaus werden an ihrer Formulierung die anderen beiden Webfehler sichtbar. Die Déclaration des droits de l´homme et du citoyen trägt die rechtlich-politische Privilegierung des männlichen Bürgers – der zugleich Mensch ist – bereits im Titel; diese Privilegierung wird auch im berühmtesten Satz der Declaration of Indepedence deutlich: „We hold these truths to be self-evident, that all Men are created equal, that they are endowed […] with certain unalienable Rights […].“ Die unklare Verbindung zwischen Individuum, Mensch- und Bürgersein wird hier evident. Sind diese Deklarationen an den Menschen als Bürger adressiert, oder: an ein Individuum, das in seiner aufgesplitterten Existenz zunächst Mensch und – sozusagen nach dem ‚Vertragsschluss‘ – Bürger ist? Die republikanische wie auch die postmoderne Theorie haben auf diese Frage eine klare Antwort: Menschenrechte sind tatsächlich nur zu garantieren, solange der Bürger_innenstatus desjenigen bzw. derjenigen, der bzw. die sie einfordert, geklärt ist. Nicht nur theoretisch macht allein diese Verknüpfung Sinn. Vielmehr hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass die Garantie und der Schutz der Menschenrechte nur für diejenigen gelten, deren Staat für diese individuellen Rechte eintritt.

Die Postmoderne hat darüber hinaus einen weiteren Webfehler aufgedeckt, der von der republikanischen Tradition aufgrund ihrer Vernachlässigung der ‚Frauenfrage‘ unentdeckt bleiben musste: Die heteronormative Struktur der Menschenrechte. Sie ist ebenfalls eklatant sichtbar in der Formulierung der beiden Männerrechtserklärungen, die den Menschen mit dem Mann, genauer: dem heterosexuellen, weißen Mann identifizieren. Die Diskussion postmoderner Autor_innen um die Frage, ob die Menschenrechte genügend Sensibilität für Fragen der Sexualität aufweisen, hat erste Erfolge erzielt. Die Resolution 1820 Women, Peace, and Security des UN-Sicherheitsrates vom Juni 2008 hat erwirkt, dass sexuelle Gewalt – gegenüber „Frauen und Mädchen“ – als Kriegsverbrechen anerkannt wird und in Zukunft durch den Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden kann. Die rechtliche Anerkennung von Vergewaltigung als Kriegsverbrechen ist sicherlich ein erster wichtiger Schritt, der Blindheit der formalistisch-prozeduralen Menschenrechte in Fragen der Sexualität zu begegnen. Allerdings weisen die bisherigen rechtlichen Regelungen eine heteronormative Prägung auf. Kriegsverbrechen werden eindeutig geschlechtsspezifisch konnotiert: Männer als Täter diffamiert, Frauen als Opfer auf einen passiven Stereotyp reduziert – „that women and girls are particularly targeted by the use of sexual violence […]“ (Resolution 1820). Trotz des Fortschritts, sexuelle Gewalt auch im internationalen Rechtsrahmen sanktionieren zu können, sind die internationalen Regelungen ausschließlich heteronorm imprägniert. Sie erweisen sich als unfähig, die traditionelle Geschlechterordnung aufzuheben. So sind die Menschenrechte, wenn sie zu Frauenrechten werden, negativ und heteronorm. Akte homosexueller Gewalt im Kontext von Krisen und Kriegen sind in den Termini des internationalen Rechts noch gar nicht zu fassen.

Zu konstatieren bleibt, dass die bauliche Konstruktion der Menschenrechte von einer dreifachen Privilegierung gekennzeichnet ist: von der des weißen, männlichen Staatsangehörigen. Das Konzept des männlichen Bürgers ist demnach heteronorm und geopolitisch eingetrübt. Durch ihren Rückbezug auf die philosophische Tradition der Aufklärung werden Idealismus, Universalismus und Menschenrechte zu eurozentrischen Erfindungen. Mit dieser geopolitischen Perspektive geht eine Konzentration auf liberale Werte einher, die sich aus ethischen Idealen des Westens herleiten und auf den weißen Mann rekurrieren. Die Menschrechte haben also immer schon einen ethischen Kern, der ihre liberal-individualistische Lesart begründet und rechtfertigt. Durch ihren universalen Anspruch und ihren vermeintlichen Triumphzug nach dem Ende der bipolaren Weltordnung geraten die Kulturen und Wertsphären der Anderen unter Druck. Die philosophische, historische und rechtliche Logik hinter den Menschenrechten soll nun nicht mehr Allgemeingültigkeit reklamieren, sondern als alternativlos gelten. Damit schwelt die Gefahr eines menschenrechtlichen Imperialismus im Angesicht der Globalisierung. Die Anderen bleiben auf der Strecke – sie verschwinden im transnationalen Vakuum des juridico-politischen Komplexes.

 

Mareike Gebhardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg.

 

Cite as: Mareike Gebhardt, “Alterität und Menschenrechte”, Völkerrechtsblog, 26 January 2015, doi: 10.17176/20170125-155854.

Autor/in
Mareike Gebhardt
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2 Kommentare
  1. Ich bin nicht ganz einverstanden. Meiner Ansicht nach gelten die Menschenrechte dort, wo irgendjemand sie für sich reklamiert und seine Anerkennungskämpfe mit ihnen begründet. Dass sie historisch eingebettet sind, ist unbestritten, aber sie enthalten einen utopischen Überschuss, den ich im Beitrag vermisse.

  2. Danke für Deinen Beitrag – ich muss selbstverständlich widersprechen, obwohl ich Deinen Grundgedanken sehr sympathisch finde. Ich halte den utopischen Überschuss, den Du für die Menschenrechte reklamierst, nicht nur für illusorisch, sondern für gefährlich für die politische wie auch rechtliche Gültigkeit der Menschenrechte. Denn wo niemand den Schrei nach den Menschenrechten hört, verhallen sie ungehört…ich denke, das ist genau das, was “wir” (die zeitgenössische politische Theorie wie auch die Rechtswissenschaften) gerade erleben – und was ich in meinem Beitrag hervorzuheben suche. Die Gültigkeit der Menschenrechte mag global sein, jeder Staat mag die Deklaration anerkannt haben, aber: die normative oder rechtliche Anerkennung ist das eine, die Befolgung das andere. Solange die Menschenrechte “einfach so” – überall, und damit auch nirgendwo – gelten ohne tatsächliche Durchschlagskraft entfalten zu können, wird die Durchsetzung der Menschenrechte Utopie bleiben. Was haben Menschen, die im Hier und Jetzt auf die Gültigkeit der Menschenrechte verweisen, von einer Utopie? Und noch dazu einer Utopie, die so viele inhärente Fallstricke birgt… bestenfalls sind die Menschenrechte eine eurozentrische Utopie, die eine schöne, neue Welt erdichtet. Meine Motive für den Beitrag liegen darin, das hässliche Gesicht dieser Utopie zu entdecken, ihre verborgene (diskriminierende) Matrix.

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