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Jenseits der Staatsraison

Wie historische Verantwortung, strategische Interessen und Völkerrecht in Einklang gebracht werden können. Expertenpapier für eine nahostpolitische Wende.

02.10.2025

Dieser Beitrag erscheint in der Kategorie ‚Offene Briefe und Stellungnahmen‘. 

 

Die andauernde umfassende Verwüstung des Gazastreifens und das Aushungern seiner Bevölke­rung durch den Staat Israel erfordern dringend ein Handeln seitens der internationalen Gemein­schaft. Diese menschengemachte Katastrophe ist ein Affront gegen die Menschlichkeit und gegen alles, wofür die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union stehen.

Die vage definierte politische Doktrin, die den vordemokratischen Begriff der ‚Staatsraison‘ wiederbelebt hat, hat die Unterstützung für die israelische Regierung über die rechtlichen und moralischen Verpflichtungen Deutschlands, über nationale und europäische Interessen, die Grundrechte der Palästinenser,[1] das Schicksal der israelischen Geiseln und regionale Friedens­bemühungen gestellt. Der von der Hamas angeführte Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 hätte all denjenigen als Weckruf dienen sollen, die dachten, das Managen des Status quo sei ein trag­fähiger Ersatz für eine Konfliktregelung. Die seitdem täglich zu beobachtenden Gräuel zeigen, dass die Priorisierung der kurzfristigen Sicherheit einer Besatzungsmacht auf Kosten eines ernst­haften Engagements für Frieden und die Einhaltung des Völkerrechts weder Frieden noch Sicher­heit bringen kann. Israels Zerstörung des Gazastreifens in den vergangenen zwei Jahren hat die Unvereinbarkeit der Doktrin mit dem Grundgesetz sowie Deutschlands weiterer historischen Verantwortung immer deutlicher gemacht. Es ist Zeit für einen Neuanfang.

Dieses Papier präsentiert einen breiten, überparteilichen Konsens unter Nahostsachverständigen und Experten in anderen relevanten Bereichen hinsichtlich der dringenden Notwendigkeit eines neuen Politikansatzes für Deutschland, auch innerhalb der Europäischen Union. Viele der Empfehlungen gelten gleichermaßen für andere Staaten und internationale Akteure. Das Papier ist geleitet von einem festen Bekenntnis zum Völkerrecht und zum Grundgesetz, einem Bewusstsein für historische Verantwortung und tief empfundener Empathie für die unzähligen unschuldigen Opfer der humanitären Katastrophe im Nahen Osten. Dazu gehören Israelis, die am 7. Oktober 2023 von der Hamas und anderen militanten Gruppen getötet, misshandelt und entführt wurden, sowie die große und stetig wachsende Zahl von Palästinensern, die seitdem von Israel getötet, misshandelt und ohne ordentliches Verfahren inhaftiert wurden.

1. Völker- und EU-Recht durchsetzen

Die Missachtung des Völkerrechts und der zu seiner Wahrung geschaffenen Institutionen droht, im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen und hybriden Bedrohungen, einen Rückfall in uneingeschränkte Großmachtpolitik zu befördern. Das vorrangige Ziel der deutschen und europäischen Außenpolitik muss sein, die Errungenschaften der Nachkriegsordnung zu verteidigen und fortzuentwickeln, auch in den Beziehungen zu Verbündeten. Die Wahrung des Völkerrechts beginnt mit dessen strikter Einhaltung und seiner konsequenten Durchsetzung.

Die Bundesregierung sollte:

1.1. Das Völkerrecht als Grundlage der deutschen (und EU-)Politik, dem Grundgesetz und internationalen Verpflichtungen entsprechend, bekräftigen und bestehende Inkonsistenzen bereinigen, insbesondere im Umgang mit schweren Verstößen gegen das humanitäre Völker­recht und internationale Menschenrechtsnormen.

1.2. Umgehend Maßnahmen ergreifen, um den rechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der Genozidkonvention ergeben, vollumfänglich nachzukommen. Im Lichte seiner besonderen historischen Verantwortung und Rechtspflicht zur Verhinderung von Völker­mord sowie laufender Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) zur Lage in Gaza, auch gegen Deutschland, gilt dies insbesondere für die Durchsetzung der rechtsver­bindlichen Anordnungen des IGH vom Januar, März und Mai 2024.

1.3. Für die unverzügliche Aussetzung des Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel eintreten. Grundlage hierfür sind die Feststellung der Europäischen Kommission, dass Israel gegen Artikel 2 des Abkommens verstößt, sowie Israels Missachtung unter anderem der verbindlichen IGH-Anordnungen vom 24. Mai 2024.

1.4. Für ein EU-Importverbot für israelische Siedlungsprodukte eintreten, analog zu bestehenden Einfuhrverboten für Produkte aus von Russland besetzten ukrainischen Gebie­ten, um die EU-Politik mit dem IGH-Gutachten vom 19. Juli 2024 in Einklang zu bringen und ihre Glaubwürdigkeit hinsichtlich der Illegalität der Siedlungen sowie ihres Bekenntnisses zum Völkerrecht zu stärken. Weitere Schritte zum Verbot von Geschäftsbeziehungen mit Siedlungen sollten folgen.

1.5. Sicherstellen, dass das geplante Online-Einreise-/Ausreisesystem (EES) für visumfreie Einreise in den Schengen-Raum Bewohner von Siedlungen in den besetzten Gebieten ausschließt, und dass diese nicht am geografisch nicht zuständigen Konsulat der Botschaft Tel Aviv Visa beantragen oder konsularischen Dienstleistungen erhalten können.[2]

1.6. Rechtliche Verpflichtungen gemäß Waffenhandelsvertrag (ATT) und dessen nationalen Umsetzungsgesetzen vollständig einhalten. Deutschland ist als Vertragsstaat des ATT einerseits verpflichtet, Waffenlieferungen – auch an Israel – zu verbieten, wenn es Kenntnis davon hat, dass diese Lieferungen zur Begehung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schweren Verstößen gegen die Genfer Konventionen, Angriffen auf zivile Objekte oder Zivilisten oder anderen Kriegsverbrechen verwendet werden könnten (Art. 6 Abs. 3 ATT); andererseits darf es keine Genehmigung für Waffenexporte erteilen, wenn ein „überwiegendes Risiko” besteht, dass diese Waffen „Frieden und Sicherheit untergraben oder dazu beitragen“ oder dazu verwendet werden könnten, schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die internationalen Menschenrechtsnormen oder Handlungen, die internationale terroristische oder grenzüberschreitende organisierte Straftaten darstellen, „zu begehen oder zu erleichtern“ (vgl. Artikel 7 Absatz (1) (3) ATT). Diese rechtlichen Ver­pflichtungen unterliegen nicht dem Ermessen und können nicht durch politische Erwägung­en außer Kraft gesetzt werden. Dementsprechend muss Deutschland ein sofortiges und umfassendes Ausfuhrverbot für alle Waffen und dual-use Güter gegenüber Israel verhängen, die zur Begehung oder Erleichterung solcher Verbrechen verwendet werden könnten, einschließlich in Bezug auf laufende vertragliche Verpflichtungen.

1.7. Die Unterstützung für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ausbauen, um ihn wirksam gegen extraterritoriale Auswirkungen von Sanktionen Dritter zu schützen und die volle Einhaltung des Rom-Statuts zu gewährleisten, einschließlich der Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joav Gallant. Ein wichtiger erster Schritt wäre die umgehende Aktivierung des EU Blocking Statute. Weitere Maßnahmen sind erforderlich und möglich, da der IStGH in der EU seinen Hauptsitz hat, insbesondere ein effektiver institutioneller Schutzschirm für den Gerichtshof und sein Personal im internationalen Finanzverkehr. Die EU sollte sich der Vertragsstaaten­versammlung anschließen, um den IStGH vor jeglicher Form externer Einflussnahme zu schützen, sei es durch Sanktionen oder auf andere Weise.

1.8. Für wirksamere Mechanismen zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts eintreten, wenn dieses wiederholt und eklatant verletzt wird, einschließlich einer Konferenz der Vertragsparteien der Genfer Konventionen, wie von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2024 gefordert.

2. Bei Friedensbemühungen gleiche Rechte und Selbstbestimmung priorisieren

Jahrzehntelange Lippenbekenntnisse zur Zweistaatenlösung (2SL) ohne Umsetzung sowie die israelische Siedlungspolitik haben die Glaubwürdigkeit der 2SL in der öffentlichen Wahrnehmung ausgehöhlt. Zwar bleibt der Zweistaatenansatz die – auch in zahlreichen UN-Resolutionen verankerte – Standardoption, um das Selbstbestimmungsrecht sowohl von Palästinensern als auch Israelis zu verwirklichen. Gleichzeitig darf die 2SL jedoch nicht als Feigenblatt dienen, um die asymmetrische Verweigerung palästinensischer Rechte, einschließlich des Selbstbestim­mungsrechts, auszublenden. Die Umsetzung der 2SL zu verfolgen, bedeutet auch nicht, alternative Modelle auszuschließen, sofern diese auf den Prinzipien der Gleichberechtigung, gegenseitigen Anerkennung und friedlichen Koexistenz beruhen und zwischen souveränen Parteien vereinbart werden. Die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft besteht darin, sicherzustellen, dass beide Parteien ernsthaft, auf Augenhöhe und im Rahmen des Völkerrechts verhandeln.

Die Bundesregierung sollte:

2.1. Die Arabische Friedensinitiative (API) als Eckpfeiler für regionalen Frieden hervorheben und betonen, dass dieses seit mehr als zwei Jahrzehnten von den Mitgliedstaaten der Arabischen Liga und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit beständig bekräftigte Friedensangebot im Einklang mit der EU-Position und dem Völkerrecht steht. Initiativen, die auf der API aufbauen, auf Gleichberechtigung und gegenseitiger Anerkennung beruhen und ihre Parameter insbesondere hinsichtlich der Realisierbarkeit der Zweistaatenlösung weiterentwickeln, verdienen sorgfältige Prüfung und Unterstützung.

2.2. Den Staat Palästina innerhalb der Linien von 1967 unverzüglich anerkennen, um das Bekenntnis zur Zweistaatenlösung glaubwürdig zu untermauern. Dieser Schritt ist überfällig.

2.3. Das wegweisende IGH-Gutachten vom 19. Juli 2024 zu rechtlichen Konsequenzen der israelischen Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten operationalisieren. Es enthält zahlreiche rechtliche Verpflichtungen sowohl für Israel als auch für Drittstaaten, deren Umsetzung erforderlich ist, um sicherzustellen, dass die Politik und Handlungen der EU und der Mitgliedstaaten dazu beitragen, die rechtswidrige Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel zu beenden. Dazu gehört insbesondere, dafür zu sorgen, dass von Europa finanzierte Zusammenarbeit, Handelsbeziehungen oder andere wirtschaftliche Aktivitäten nicht den Siedlungen zugutekommen.

2.4. Den palästinensischen Staatsaufbau weiter unterstützen, auch durch finanzielle Anreize für Reformen, die die Palästinensische Autonomiebehörde rechenschaftspflichtiger, effizienter in der Leistungserbringung, legitimer als Kraft für palästinensische Einheit und damit perspektivisch demokratischer machen.

2.5. Die Globale Allianz für die Umsetzung der Zweistaatenlösung sowie den von Frankreich und Saudi-Arabien im Juli 2025 in New York ins Leben gerufenen Prozess aktiv unterstützen, um positive Anreize für Frieden zu schaffen, diplomatische und andere Bemühungen zu koordinieren, Erfahrungen auszutauschen und einen politischen Impuls für eine Endstatusregelung zu erzeugen.

3. Zivilgesellschaftliches Engagement für Frieden und Versöhnung stärken

Neben der Bearbeitung von Konfliktursachen und Ungerechtigkeiten, gehört zum kleinen Einmaleins effektiver Friedenspolitik, in beiden Lagern – politische wie zivilgesell­schaftliche – Stimmen der Vernunft und der Versöhnung zu identifizieren, diese zu verstärken und als bevorzugte Ansprechpartner zu ertüchtigen. Dabei gilt es insbesondere denjenigen, die sich für Frieden und Versöhnung auf der Basis von gleichen Rechten einsetzen, Gehör zu verschaffen. Die Zivilgesellschaft spielt eine entscheidende Rolle bei der Förderung von Friedensnarrativen und der Gestaltung des öffentlichen Diskurses und damit der Beeinflussung von Regierungspolitik. Der palästinensische ‚Armistice Plan‘ sowie die ‚Standing Together‘-Bewegung sind Beispiele dafür.[3] Darüber hinaus kann Zivilgesellschaft Brücken bauen, wo Regierungen versagen, und zeigen, dass es auf der ‚anderen Seite‘ Menschen gibt, die für Frieden und gemeinsame Werte kämpfen. Da die Netanjahu-Regierung jedwede Friedensbereitschaft vermissen lässt, sollte das Engagement der israelischen Zivilgesellschaft für palästinensische Rechte in arabischen und muslimischen Ländern hervorgehoben werden.

Die Bundesregierung sollte:

3.1. Die politische und finanzielle Unterstützung für die Zivilgesellschaft erhöhen und „bottom-up“-Friedensbemühungen fördern, etwa gemeinsame israelisch-palästinensische Initiativen oder kulturelle Aktivitäten, die auf Gleichberechtigung und gegenseitiger Anerkennung beruhen. Solche zivilgesellschaftlichen Initiativen sollten eine breite gesellschaftliche Repräsentation über Altersgruppen, ethnische, religiöse und soziale Zugehörigkeit hinweg ermöglichen, ebenso wie die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen gemäß UN-Sicherheitsratsresolution 1325. Internationale Bekenntnisse zur institutionalisierten Förderung der Zivilgesellschaft sollten zügig umgesetzt werden.[4]

3.2. Zivilgesellschaftliche und akademische Bemühungen zur Formulierung und Verbreitung eines gemeinsamen historischen Narrativs fördern, das sich an wissenschaftlichen Standards und Debatten orientiert und auf Erfahrungen mit Wahrheits- und Versöh­nungskommissionen in anderen Post-Konfliktsituationen aufbaut.

3.3. Menschenrechtsverteidiger vor Ort aktiv unterstützen, sowohl politisch als auch finanziell, und vor Kriminalisierung und Repression schützen.

4. Spoiler[5] effektiv und konsequent entgegentreten

Die Überwindung des hartnäckigen Widerstands von Hardlinern und ‘Spoilern‘, die sich über Jahrzehnte in ihren Positionen eingegraben haben, erfordert erheblichen Druck von innen wie von außen. Dieser kann von „Naming & Shaming“ und anderen Formen politischen Drucks bis hin zu Einreiseverboten, Einfrieren von Vermögenswerten oder anderen Sanktionen reichen.

Da es auf beiden Seiten des Konflikts Spoiler gibt, ist ein konsequentes, einheitliches Vorgehen basierend auf objektiven – völkerrechtszentrierten – Maßstäben essenziell, da inkonsistenter Druck letztlich die Spoiler auf beiden Seiten stärkt. Trotz der bereits bestehenden Asymmetrie der Situation und der Rechtswidrigkeit der Besatzung hat sich die Politik der Bundesregierung und der EU bislang fast ausschließlich auf palästinensische Spoiler konzentriert. Diese als ungerecht empfundene Einseitigkeit hat dazu geführt, dass sich mehr Palästinenser mit ‚ihren‘ Spoilern solidarisieren. Sie hat gleichzeitig die Glaubwürdigkeit gemäßigter Israelis untergraben. Deren Argument gegenüber israelischen Hardlinern, dass die Weltgemeinschaft diesen oder jenen Völkerrechtsbruch nicht akzeptieren werde, wurde immer wieder durch das Ausbleiben von Konsequenzen widerlegt.

Die Bundesregierung sollte:

4.1. Spoilern und Extremisten entgegentreten, die Friedensaussichten untergraben – auf Grundlage kohärenter, objektiver und konsistent angewandter Kriterien, wo immer möglich auf EU-Ebene sowie durch koordinierte nationale Maßnahmen. Diese Maßnahmen sollten der Schwere der Tat angemessen sein und von diplomatischen Boykotten auf politischer Ebene für alle Akteure, die offen das Selbstbestimmungsrecht der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe leugnen, bis hin zu nationalen oder EU-weiten Einreiseverboten bei Hetze und Hassrede reichen.

4.2. Kommunikationskanäle mit Spoilern offenhalten. Ein diplomatischer Boycott bedeutet keineswegs, das Gespräch zu verweigern, sondern die protokollarische Sichtbarkeit. Nicht-öffentliche Kontakte, ggf. auf niedrigerem protokollarischen Niveau, sind unerlässlich.

4.3. Straftaten, die Friedensaussichten untergraben, konsequent verfolgen – darunter Kriegsverbrechen, Terrorismus, Hassrede und Volksverhetzung sowie Angriffe auf Vermittler. Dies sollte durch konsequente Strafverfolgung, wo immer möglich, bzw. restriktive Maßnahmen der EU, einschließlich Einfrieren von Vermögenswerten, erfolgen. Nationale Gesetzgebung zur Verhinderung von Taten Einzelner, die nach nationalem oder internationalem Recht Straftaten darstellen, sollten konsequent angewandt werden, insbesondere Gesetze, die den Beitritt zu Söldnertruppen oder anderen illegalen bewaffneten Gruppen bzw. illegale Handlungen im Konflikt verbieten, einschließlich Siedlergewalt.

4.4. Für ein Spoiler-Sanktionsregime der EU für den Nahen Osten eintreten, wie in anderen internationalen Kontexten bereits existierend. Die jeweiligen Sanktionsmaßnahmen sollten dabei den zur Behinderung von Friedensbemühungen eingesetzten Mittel entsprechen, angefangen mit politischer Obstruktion und Aufwiegelung, zu der auch die Leugnung des Selbstbestimmungsrechts des jeweils anderen Volkes zählt, bis hin zu kriminellen Handlungen oder Gewalt gegen Zivilisten.

4.5. Die Einstufung der „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS)-Kampagne als „gesichert extremistisch“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz aufheben. Meinungs­freiheit bedeutet auch, Ansichten zu tolerieren, denen man nicht zustimmt, solange diese nicht gegen das Grundgesetz oder geltendes Strafrecht verstoßen. Diese Forderung ist nicht als Befürwortung von BDS Es ist jedoch weder etwas offensichtlich Rechtswidriges in der von der Bewegung formulierten politischen Zielsetzung zu erkennen,[6] noch verstoßen gewaltfreie Formen des Widerstands gegen eine illegale Situation, wie Boykott, Desinvestition und Sanktionen, gegen geltendes Recht. Die Ächtung gewaltfreier Formen des Widerstands gegen eine völkerrechtswidrige Besatzung ist mit Deutschlands Bekenntnis zum Völkerrecht sowie mit verfassungsmäßig garantieren Grundrechten nicht vereinbar und fördert indirekt Radikalisierung, da sie Gewalt oder Auswanderung als einzig verbleibende Alternativen hinterlässt.

4.6. Mit der BDS-Bewegung in einen kritischen und konstruktiven Dialog treten, um sicherzu­stellen, dass Boykotte nicht rassistisch, diskriminierend oder antisemitisch sind, indem sie eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als Ganzes treffen, und dafür eintreten, dass klare, einheitlich angewandte Ausnahmekriterien definiert werden, einschließlich einer eindeutigen Verpflichtung zu Gleichberechtigung, gegenseitiger Anerkennung und friedlicher Koexistenz auf der Grundlage des Völkerrechts.

4.7. Dieselben Kriterien auf Entscheidungen über öffentliche Fördermittel für zivilgesell­schaftliche Akteure im In- und Ausland anwenden und den Ausschluss von Organisationen, die zu Boykotten aufrufen, einstellen. Diese Praxis fügt dem über Jahrzehnte aufgebauten Ansehen Deutschlands sowie internationalen zivilgesellschaftlichen Partnerschaften massiven Schaden zu.

5. Die Vereinten Nationen schützen und Multilateralismus stärken

Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, den Multilateralismus zu stärken, wie seine Initiative zur Gründung der globalen “Allianz für Multilateralismus” zeigt. Seit dem 7. Oktober 2023 stellen eine Reihe von Entscheidungen und Stellungnahmen diese Zielsetzung jedoch in Frage. Angesichts seiner einzigartigen Position und Einflussmöglichkeiten fällt Deutschland eine zentrale Rolle dabei zu, das multilaterale System effizienter, effektiver und widerstandsfähiger gegen die oben skizzierten Bedrohungen zu machen.

Die Bundesregierung sollte:

5.1. Die Allianz für Multilateralismus wiederbeleben und stärken, um so eine internationale Koalition zu schaffen, die multilaterale Zusammenarbeit stärkt und die Institutionen schützt, die mit der Aufrechterhaltung des Völkerrechts betraut sind.

5.2. Spoilern des Multilateralismus und der Friedensmediation in Wort und Tat entschieden entgegentreten, um diese Institutionen gegen Einschüchterung, Sanktionen, Bedrohungen oder den Einsatz von Gewalt zu schützen. Dies könnte verschiedenste Maßnahmen umfassen, von öffentlichen Erklärungen und diplomatischem Boykott bis hin zu Einreiseverboten und/oder dem Einfrieren von Vermögenswerten.

5.3. Strategische Kommunikation und zivilgesellschaftliches Engagement ausbauen und stärken, um Desinformation gegen die UN entgegenzuwirken und die Bedeutung des Multilateralismus einer breiteren Öffentlichkeit, sowohl in Partnerländern als auch im eigenen Land, besser zu vermitteln.

5.4. Den Schutz von UN-Personal in Konfliktgebieten stärken und zusätzlichen Druck ausüben, um deren sicheren Zugang, insbesondere nach Gaza, sicherzustellen. Die Tötung von UN-Personal, die in Gaza in alarmierendem Ausmaß zu beobachten ist, ist entschieden zu verurteilen.

5.5. Finanzielle und politische Unterstützung für UNRWA ausbauen und ihre unverzichtbare Rolle betonen, die auch im Colonna-Bericht hervorgehoben wird.[7] Dabei klarstellen, dass die Lösung der Flüchtlingsfrage im Rahmen eines Endstatusabkommens, das die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge berücksichtigt, der einzige akzeptable Weg zur zukünftigen Auflösung UNRWAs ist.

5.6. Multilaterale Sicherheitskooperation im Nahen und Mittleren Osten fördern, einschließlich der Schaffung eines regionalen Sicherheitskooperationsrahmens, der das Ziel einer Region ohne Massenvernichtungswaffen verfolgt.

6. Die Relevanz der EU stärken 

Die Gaza-Krise hat die Schwächen der Entscheidungsprozesse in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU offengelegt. In einem sich schnell entwickelnden Politikfeld, in dem verspätet getroffene Entscheidungen oft wenig wirksam sind, ist es notwendig, Wege zu finden, um die lähmende Wirkung des Vetorechts sämtlicher 27 EU-Mitgliedsstaaten zu überwinden. Angesichts einer zweiten Trump-Präsidentschaft und zunehmend durchsetzungsstärkerer BRICS-Staaten, kann es sich die EU nicht leisten, auf ihr enormes Einflusspotential zu verzichten. Der Schutz der internationalen regelbasierten Ordnung sowie der Werte und Interessen der EU durch die vollständige Ausschöpfung ihrer Einflussmöglichkeiten ist ein strategischer Imperativ.

Die Bundesregierung sollte:

6.1. Den „europäischen Reflex“ in der deutschen Außenpolitik wiederbeleben, um eine gemeinsame europäische Position zu entwickeln und zu stärken, statt unilaterale Politik zu verfolgen.

6.2. Die Einführung des qualifizierten Mehrheitsprinzips (QMV) bei Abstimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU gemäß Artikel 31 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zur Priorität machen. Falls hierzu kein Konsens unter EU-Mitgliedsstaaten zu erreichen ist, sollten interessierte EU-Staaten alternative Optionen zur Erreichung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der GASP verfolgen, wie etwa die verstärkte Zusammenarbeit gemäß Artikel 20 EUV. Eine solche „GASP+“ könnte alle einschlägigen Instrumente der GASP umfassen, einschließlich Gemeinsamer Standpunkte, restriktive Maßnahmen (Sanktionen) und ziviler Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).

6.3. Eine umfassende Überprüfung der Hebel, die der EU im Nahostkontext zur Verfügung stehen anregen (einschließlich SWOT-Analyse). Offensichtliche Beispiele sind die Assoziierungsabkommen mit ihren Menschenrechtsklauseln, Handelspräferenzen und einem breiten Portfolio der Zusammenarbeit mit beiden Konfliktparteien, einschließlich über das Horizon Europe Programm, sowie die Befreiung von der Visumpflicht.

7. Verzerrte Narrative korrigieren und einen faktenbasierten Diskurs fördern 

Ein umfassendes Verständnis der Situation, das die Perspektiven und Narrative aller Konfliktparteien einbezieht, ist die Grundlage ausgewogener Politik. Dafür muss das von selektiver Wahrnehmung und Desinformation geprägte Narrativ, auf dem die derzeitige Staatsräson-Doktrin beruht, ausgeglichen werden. Dazu gehört in erster Linie die Fehlannahme, dass es keinen palästinensischen bzw. arabischen Partner für Frieden gäbe und das Entstehen von Hamas die Ursache – und nicht die Folge – einer seit viel zu langer Zeit andauernden völkerrechtswidrigen Besatzung sei. Als erklärte Verfechterin der Pressefreiheit und der bürgerlichen Grundrechte sollte Deutschland eine ausgewogene und wahrhaftige Diskussion über den Konflikt fördern, die mit einer umfassenden, unabhängigen und unparteiischen Überprüfung von Fakten beginnt.

Es sollte selbstverständlich sein, dass Informationen von Kriegsparteien grundsätzlich mit Vorsicht zu behandeln sind und niemand Richter und Angeklagter zugleich sein darf. Deshalb ist unabhängige und unparteiische Aufklärung durch internationale Organe, spezialisierte Sachverständige und unabhängige, professionelle Medien unverzichtbar. Wenn ein Staat verbindliche Anordnungen des IGH, Transparenz herzustellen und mit UN-Ermittlungsmissionen zusammenzuarbeiten, missachtet, internationalen Medien den Zugang nach Gaza wehrt, und zudem eine historisch beispiellose Anzahl von lokalen Journalisten und anderen unverzicht­baren Zeugen mutmaßlicher Kriegsverbrechen, wie Sanitäter und Ersthelfer, getötet hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser in gutem Glauben handelt. Dennoch wird den Behauptungen Israels weiterhin die gleiche oder gar höhere Glaubwürdigkeit zugeschrieben als den Aussagen von UN-Gremien oder lokalen Medien.

Die Bundesregierung sollte:

7.1. Offizielle Stellungnahmen und Positionen auf solider Faktenbasis Wo widersprüchliche Darstellungen existieren, sollten Informationen und Einschätzungen durch unabhängige mandatierte Kontrollorgane Vorrang vor anderen Quellen haben. So muss etwa die Feststellung der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) vom August 2025 zu einer Hungersnot (IPC-Phase 5) ernst genommen werden.

7.2. Desinformation und Fehlinformation bekämpfen, Aufhetzung und Entmenschlichung juristisch verfolgen, insbesondere, wenn diese von Mandatsträgern oder anderen öffentlichen Personen ausgehen.

7.3. Die Forderung an die israelische Regierung priorisieren, allen von zuständigen UN-Organen mandatierten Untersuchungskommissionen und Ermittlern im Zusammenhang mit Völkermordvorwürfen ungehinderten Zugang zu Gaza zu gewähren und den rechtsverbind­lichen IGH-Anordnungen in diesem Zusammenhang nachzukommen.

7.4. Den Schutz von Journalisten sowie von humanitärem und medizinischem Personal und anderen unentbehrlichen Zeugen mutmaßlicher Kriegsverbrechen so stärken, dass sie ohne Einschränkungen ihrer Arbeit nachgehen können, einschließlich einem ungehinderten Zugang nach Gaza. In den bilateralen Beziehungen mit Staaten, die sich auf demokratische Werte berufen – einschließlich Israel –, muss zudem auf einer konsequenten Aufarbeitung der gegen diese Gruppen begangenen Kriegsverbrechen bestanden werden.

7.5. Professionelle, transparente und unparteiische Wahrheitsfindung in allen relevanten Bereichen aktiv unterstützen: Faktenchecks und Bekämpfung von Desinformation, investigativer Journalismus, akademische Forschung, strafrechtliche Ermittlungen sowie Historiografie, Forensik und Archäologie. Jede dieser Disziplinen verfügt über eigene Verifikationsmethoden und kann einen wichtigen Beitrag leisten, durch interdisziplinäre Zusammenarbeit ein möglichst vollständiges Gesamtbild zu gewinnen.

8. Umfassende historische Verantwortung übernehmen 

Deutschlands historische Verantwortung für den Holocaust bedeutet, Antisemitismus zu bekämpfen und jüdisches Leben zu schützen – in erster Linie im eigenen Land, aber auch in seinen außenpolitischen Beziehungen. „Nie wieder“ bildet das Fundament für die verfassungs- und völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands, die stets den Rahmen für politisches Handeln bilden müssen. Wiedergutmachung darf kein Vertrag zu Lasten Dritter sein. Dies bedeutet einerseits, dass die bisherige Unterstützung für Israel weder losgelöst von ihren indirekten Auswirkungen auf Andere betrachtet werden kann, die keine Verantwortung für den Holocaust tragen, noch das weitere historische ‚Vorstrafenregister‘ im Namen Deutschlands oder seiner Verbündeten begangener Völkermorde und anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausblenden darf. Deutschland trägt eine universelle historische Verantwortung, das Völkerrecht zu wahren und die Menschenrechte ohne Diskriminierung zu schützen. Selektive Anerkennung historischer Verantwortung bedeutet, Selbstgerechtigkeit über Integrität zu stellen, nicht nur zulasten der Rechte von Palästinensern, sondern auch der langfristigen Interessen Israels und des jüdischen Volkes sowie der internationalen Glaubwürdigkeit Deutschlands.

Die Bundesregierung sollte:

8.1. Hervorheben, dass die einzigen, anderen Erwägungen wie der Staatsraison überzuordnenden Leitprinzipien der Schutz der Menschenwürde und Grundrechte sowie das Völkerrecht Diesen ist in allen Politikfeldern, einschließlich der Außenpolitik, Vorrang einzuräumen.

8.2. Die besondere Verpflichtung zum Kampf gegen Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens bekräftigen, im Bewusstsein, dass die aus der Schoah erwachsende Verantwortung in erster Linie Menschen gilt, nicht einem Staat oder einer Regierung.

8.3. Daran erinnern, dass „nie wieder“ nur als universelles Prinzip verstanden werden kann und muss. Während Deutschland eine besondere, freundschaftliche und unterstützende Beziehung zu Israel und seiner Bevölkerung anstreben sollte, muss die aus der einzigartigen historischen Versöhnung hervorgegangene Partnerschaft fest in universellen Werten und internationalen Normen verankert sein.

8.4. Anerkennen, dass sowohl die Gründung des Staates Israel im Nachgang des Holocaust als auch die anschließende deutsche Unterstützung Israels gravierende Sekundäreffekte für die Palästinenser sowie für benachbarte arabische und andere einheimische Bevölkerungen der Region hatten – einschließlich jüdischer Gemeinschaften im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika. Deutschland trägt daher auch eine historische Verantwortung dafür, dem palästinensischen Volk die volle Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung zu ermöglichen und Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung in der Levante zu fördern.

8.5. Deutschland sollte seine Bereitschaft bekunden, die Anerkennung seiner Sekundärverant­wortung in konkrete Maßnahmen umzusetzen und substanzielle Beiträge zur Konfliktlösung und zu einem dauerhaften Frieden zu leisten. Dazu könnte gehören: (i) als Anreiz für Frieden anzubieten, einen Teil der Reparationen zu übernehmen, die Israel gemäß dem IGH-Gut­achten vom 19. Juli 2024 für die natürlichen oder juristischen Personen durch seine auf Grund von völkerrechtswidriger Besatzung entstandenen Schäden schuldet; (ii) eine offizielle Entschul­digung für die Mitverantwortung an den Umständen, die Juden und Araber im Nahen Osten gegeneinander stellten, aufbauend auf den bereits erfolgten Entschuldigungen für die Judenverfolgung durch Nazi-Deutschland; (iii) der Aufruf an Israel und andere Beteiligte, ihren Anteil an historischer Verantwortung anzuerkennen – insbesondere für die Nakba von 1948 – und sich bei allen betroffenen einheimischen Bevölkerungen zu entschuldigen, nach den jüngsten Beispielen Kanadas und Australiens; sowie (iv) substanzielle Beiträge zu einer gerechten Lösung der Frage der palästinensischen Flüchtlinge, etwa durch Entschädi­gungen, im Rahmen einer friedlichen Beilegung des Konflikts.

9. Konfliktgetriebene Polarisierung ganzheitlich angehen 

Einseitige Ansätze bei der Bekämpfung konfliktbedingter Feindseligkeit zwischen oder gegenüber bestimmten Gemeinschaften sind nicht nur wirkungslos, sondern im schlimmsten Fall kontraproduktiv. Der Kampf gegen konfliktbedingten Antisemitismus und Rassismus kann nur erfolgreich sein, wenn der Konflikt selbst als zentrale Triebkraft berücksichtigt wird. Antisemitismus wird dabei auf drei Ebenen befeuert: (i) das zunehmende Leid der Palästinenser erzeugt Wut und Ressentiments gegen Israel, die pauschal auf alle Juden übertragen werden; (ii) der inflationäre Missbrauch diffamierender Antisemitismusvorwürfe, um Kritiker Israels und seiner Politik zu diskreditieren, entwertet und verharmlost einen schwerwiegenden Vorwurf; (iii) die pauschale Gleichsetzung israelischer und jüdischer Identität in Verbindung mit Israels Straflosigkeit bei Völkerrechtsverstößen nährt antisemitische Verschwörungstheorien. Umgekehrt befeuert der durch den Konflikt angeheizte gewaltsame Extremismus, häufig im Namen des Islam, antimuslimischen oder antiarabischen Rassismus.

Die Bundesregierung sollte:

9.1. Eine umfassende und ganzheitliche Strategie zur Überwindung konfliktbedingter Feindseligkeit gegenüber und zwischen Juden, Arabern und Muslimen unter Einbeziehung von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Medien entwickeln und umsetzen.

9.2. Menschliche Begegnung zwischen jüdischen, arabischen, muslimischen und Mehrheits­gesellschaften in Deutschland und Europa gezielt fördern, um den dringend benötigten Raum für Austausch und Debatte zu schaffen, anstatt bestehende Gräben weiter zu vertiefen. Direkte menschliche Begegnung bleibt das wirksamste Mittel, um Vorurteile abzubauen und Entmenschlichung entgegenzuwirken. Gerade mit Blick auf soziale Medien, deren Algorithmen selektive Wahrnehmung befeuern und durch „rage bait“ gesellschaftliche Polarisierung anheizen, ist die Förderung von Verständnis für die Belange Anderer für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu einer politischen Notwendigkeit geworden.

9.3. Sicherstellen, dass im Kampf gegen Antisemitismus klar unterschieden wird zwischen verfassungsmäßig geschützter Meinungsäußerung, die auch scharfe Kritik an politischen Institutionen und Ideologien sowie der Verwendung juristischer Begriffe wie „Völkermord“ einschließt, und verbotener rassistischer Hassrede. Mehrere Beispiele der IHRA-Definition von Antisemitismus enthalten eine problematische Vermischung. Die Annahme dieser Definition durch den Deutschen Bundestag in seiner Resolution vom 7. November 2024, die unter anderem von einer breiten Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen vehement kritisiert wurde, trägt weder zu einer wirksamen Bekämpfung des Antisemitismus noch zum Schutz grundlegender Rechte bei. Alternative Referenzrahmen wie die Jerusalem Erklärung zum Antisemitismus sollten daher in Betracht gezogen werden.

9.4. Der Kampf gegen Antisemitismus, der nicht im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt steht und weiterhin die Kriminalitätsstatistiken in Deutschland anführt, muss konsequent intensiviert werden.

10. Eine Kultur gemeinsamer humanistischer Werte fördern 

Der im Grundgesetz verankerte Schutz der Menschenwürde und Grundrechte ist das Fundament allen staatlichen Handelns. Einschränkungen der Meinungs-, Versammlungs-, Wissenschafts- und anderer Freiheiten, die seit dem 7. Oktober 2023 unter dem Vorwand der Antisemitismus­bekämpfung verhängt wurden, stehen im Widerspruch zu diesen verfassungsmäßig garantierten Rechten.

Die Bundesregierung sollte:

10.1. Zivilgesellschaftliche Initiativen, die auf die Förderung humanistischer Werte abzielen aktiv unterstützten, wie die vom Europäischen Institut für das Mittelmeer (IEMed) im Oktober 2024 organisierte Konferenz „Reclaiming our Shared Humanity“.

10.2. Entmenschlichende Äußerungen von politischen Meinungsführern, in Europa wie außerhalb, aufgrund von ethnischer, nationaler, religiöser oder Geschlechtsidentität, konse­quent verurteilen, auch durch strategische Kommunikation und zivilgesellschaftliches Engagement.

10.3. Humanistischen Prinzipien in Lehrplänen im deutschen und europäischen Schulwesen einen höheren Stellenwert einräumen, einschließlich der Lehren, die aus dem Gaza-Krieg infolge des 7. Oktobers und der fehlgeleiteten Staatsräson-Doktrin zu ziehen sind, um die Universalität der Menschenwürde breiter und fester zu verankern und jeder Form der Entmenschlichung entgegenzuwirken.

 

 

Dieses Expertenpapier wurde von einem Kernteam um Philip Holzapfel und Dr. Muriel Asseburg initiiert, verfasst und koordiniert, mit der wertvollen Unterstützung von Daniel Gerlach und dem Deutschen Levante-Verlag sowie von Xenia Kelemen, Paula Martini, Daniel Sen und P.F. Es wurde von zahlreichen Nahostsachverständigen fachlich begleitet und wird (in persönlicher Eigenschaft) mitgetragen, die (1) langjährig beruflich mit der zeitgenössischen Politik der Region, einschließlich Israels und Palästinas, auseinandergesetzt haben – etwa in Wissenschaft, auswärtigem Dienst, Think Tanks, politischen Stiftungen, Entwicklungsorganisationen oder durch andere relevante Tätigkeiten; (2) umfangreiche Erfahrung aus erster Hand gesammelt und in der Region, einschließlich Palästina und Israel, gelebt und gearbeitet haben; (3) sich in mehr als einer Sprache des Nahen Ostens wenigstens Grundwissen angeeignet haben. Neben dieser Kerngruppe haben auch Fachleute aus anderen relevanten Bereichen, insbesondere Völker- und Verfassungsrecht, Politikwissenschaft und internationale Beziehungen, an dem Papier fachlich mitgearbeitet und tragen es mit.

 

 

[1] Dieses Papiers ist genderinklusiv zu lesen. Wo ein geschlechtsspezifischer Plural existiert, wird im Sinne der Lesbarkeit die maskuline Form generisch verwendet.

[2] Analog zur geografischen Nichtzuständigkeit konsularischer Vertretungen, die bei der Russischen Föderation akkreditiert sind, für die von Russland völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Gebiete.

[3] https://cambridgepeace.org/wp-content/uploads/2025/06/Palestinian-Armistice-Plan.pdf; https://www.standing-together.org/en

[4] Beispielsweise die G7-Erklärung vom September 2024 und die Erklärung aus New York aus dem September 2025: https://www.auswaertiges-amt.de/en/newsroom/news/2677180-2677180 und https://docs.un.org/en/A/CONF.243/2025/1/Add.1

[5] Als „Spoiler“ gelten politische Akteure, die durch Worte und/oder Taten gezielt versuchen, Friedensaussichten auf Grundlage internationaler Parameter zu untergraben.

[6] https://bdsmovement.net/what-bds

[7] https://www.un.org/unispal/wp-content/uploads/2024/04/unrwa_independent_review_on_neutrality.pdf

 

 

Webseite mit Kontaktdaten: staatsraison.net

 

 

Begleitet und in persönlicher Eigenschaft mitgetragen von:

  • Amany Abdelrazek, Adjunct Lecturer an der Humboldt-Universität zu Berlin; Vorstandsmitglied des Ibn Rushd Fund for Freedom of Thought
  • Aljoscha Albrecht, Politikwissenschaftler
  • Layla Al-Zubaidi, Anthropologin und Islamwissenschaftlerin
  • Dr. Kai Ambos, Professur für Straf- und Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung, internationales Strafrecht und Völkerrecht, Georg-August-Universität Göttingen
  • Muriel Asseburg, Senior Fellow, Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten, Stiftung Wissenschaft und Politik
  • Gertraud Auer Borea, Senior-Beraterin für internationalen Dialog
  • Dr. Hanan Badr, Associate Professor für Nahoststudien, Bard College Berlin
  • Kilian Bälz, Rechtsanwalt, Berlin
  • André Bank, GIGA Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien
  • Manon Barthod, Nahostberaterin des ehem. Präsidenten des Europäischen Rats (2021-2024)
  • Julia Bartmann, Politikwissenschaftlerin
  • Omer Bartov, Dean’s Professor für Holocaust- und Genozidstudien, Brown University
  • Ilan Baruch, Policy Working Group (PWG) – Israel
  • Gershon Baskin, Middle East Director, International Communities Organisation; Co-Head, Alliance for Two States
  • Bauke Baumann, Politikwissenschaftler
  • Dr. Martin Beck, University of Kurdistan Hewlêr; GIGA Associate
  • Dr. Thomas Bierschenk, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
  • Sophie Borel
  • Josep Borrell, ehem. Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik; ehem. Außenminister Spaniens; Präsident des Barcelona Center for International Relations CIDOB
  • Kristian Brakel, Politischer Analyst
  • Martin Breidert, Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V.
  • Dr. Doris Bühler-Niederberger, Bergische Universität Wuppertal
  • Avraham Burg, ehem. Sprecher der Knesset
  • Hikmat Bushnaq-Josting, Ibn Rushd Fund for Freedom of Thought
  • Helen Clark, Mitglied The Elders; ehem. Premierministerin Neuseelands; ehem. Leiterin des UN Entwicklungsprogramms
  • Tsafrir Cohen, Geschäftsführer, medico international, Frankfurt am Main
  • Sebastian Damm, Jurist und Historiker
  • Eitan Diamond, Manager und Senior Legal expert, Israel & Palästina, Diakonia International Humanitarian Law Centre
  • Janina Dill, Universität Oxford
  • Christoph Dinkelaker, Islam- und Politikwissenschaftler
  • Asiem El Difraoui, Director of Jasmine Conseils; Initiative “Media Literacy for the Mediterranean”
  • Schams El Ghoneimi, ehem. Außenpolitik und MENA-Berater, Europäisches Parlament
  • Dörthe Engelcke, komm. Leiterin des Kompetenzzentrums für das Recht arabischer und islamischer Länder, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht
  • Dina Fakousa, Wissenschaftliche Beraterin und Analystin zur Region Naher Osten, Nordafrika und Golfregion
  • Andrew Feinstein, ehem. Abgeordneter der südafrikanischen Nationalversammlung
  • Deborah Feldman, Autorin und Publizistin
  • Nimrod Flaschenberg, Israelis für Frieden, Berlin
  • Dr. Naika Foroutan, Humboldt-Universität zu Berlin; Deutsches Zentrum für Integrations- & Migrationsforschung (DeZIM)
  • Benedikt Fries, Sozialarbeiter
  • Marc Frings, Generalsekretär, Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK)
  • Christiane Fröhlich, GIGA Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien
  • Daniel Gerlach, Deutscher Levante Verlag GmbH
  • Andrew Gilmour, ehem. CEO, Berghof Foundation; ehem. stv. UN-Generalsekretär für Menschenrechte
  • Ori Goldberg, Politischer Analyst
  • Robert Grabosch, Rechtsanwalt und Menschenrechtsexperte
  • Bettina Gräf, Ludwig-Maximilians-Universität München
  • Ariela Groß, MA Middle Eastern Studies
  • Dr. Kai Hafez, Abteilung für Medien- und Kommunikationswissenschaften, Universität Erfurt
  • Mariam Hamad, Expertin für internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Politik
  • Adham Hamed, Universität Wien; Austrian Centre for Peace
  • Dr. Cilja Harders, Freie Universität Berlin
  • Sonja Hegasy, Islamwissenschaftlerin
  • Marie-Christine Heinze, Islamwissenschaftlerin
  • Kristin Helberg, Journalistin und Politikwissenschaftlerin
  • Sophia Hiss, Hertie School of Governance Berlin
  • Anja Hoffmann, Politikwissenschaftlerin
  • Shai Hoffmann, Sozialunternehmer, Aktivist und Moderator
  • Dr. Sophia Hoffmann, Universität Erfurt
  • Sabine Hofmann, Westasienwissenschaftlerin, Berlin
  • Philip Holzapfel, ehem. MENA-Berater für den Hohen Vertreter der EU Dr Josep Borrell
  • Daniela Huber, Roma Tre University
  • Simon Ilse, Internationaler Rechtsanwalt
  • Dalal Iriqat, Associate Professor, Arabisch-Amerikanische Universität Palästina
  • Alma Itzhaky, Israelis für Frieden, Berlin
  • David Jalilvand, Politikwissenschaftler
  • Dr. Uffa Jensen, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin
  • Hina Jilani, Mitglied The Elders; Anwalt und Demokratieförderer
  • Cora Josting, Ibn Rushd Fund for Freedom of Thought
  • Prof Annette Jünemann, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg
  • Kristina Kausch, Politikwissenschaftlerin
  • Dr. Eberhard Kienle, Sciences Po Paris
  • Dr. Katharina Kilian-Yasin, Professorin International Business für Ingenieure, Hochschule Pforzheim; interkulturelle Beraterin für arabische Länder
  • Heinrich Klassen, Kulturdiplomat, Orchestermusiker und Oboist
  • em. Menachem Klein, Professor emeritus Bar-Ilan University
  • Florian Kohstall, Center for International Cooperation, Freie Universität Berlin
  • Martin Konecny, European Middle East Project (EuMEP)
  • Kirsten Krampe, Islamwissenschaftlerin und Politologin
  • Prof em. Gert Krell, Politikwissenschaftliches Institut, Goethe-Universität Frankfurt a.M.
  • Sven Kühn von Burgsdorff, ehem. EU-Botschafter in Kuba, Südsudan, Mosambik und Palästina
  • Wolfram Lacher, Wissenschaftler, Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten, Stiftung Wissenschaft und Politik
  • Munir Lada’a, Politikwissenschaftler und Historiker; Deutsch-Palästinenser
  • Georgia Langton, Hertie School of Governance Berlin
  • Dr. Elad Lapidot, Professor für Hebräische Studien, Université de Lille
  • Michael Lüders, Publizist und Politikwissenschaftler
  • Ahmed-Anders Lundgren-Bekov, ehem. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V.
  • Dr. Itamar Mann, Rechtsanwalt
  • Saskia Marsh, Almizan Advisors; Nahostexpertin
  • Daniel Marwiecki, Universität Hong Kong
  • Daniel McCormack, Sozialwissenschaftler
  • Eva Menasse, Autorin und Publizistin
  • Barbara Mittelhammer, Wissenschaftliche Beraterin und Analystin
  • Dr. Susan Neiman, Direktorin, Einstein Forum
  • Achinoam Nini, Sängerin und Friedensaktivistin
  • Ulrich Nitschke, Vorsitzender, Partnerschaftsverein Bonn-Ramallah e.V.
  • Neda Noraie-Kia, Politikwissenschaftlerin
  • Eliyahu Osheroff, Regional Thinking Forum
  • Trita Parsi, Executive Vice President, Quincy Institute for Responsible Statecraft
  • Tim Petschulat, Experte in demokratischer Regierungsführung
  • Hanna Pfeifer, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg
  • Julia Pickhardt, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Centre on Conflict, Peacebuilding and Development, Graduate Institute Geneva (IHEID)
  • Sophie Pornschlegel, Universität Maastricht
  • Mary Robinson, Mitglied (und ehem. Vorsitzende) The Elders; ehem. Präsidentin Irlands, ehem. Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte
  • Alon Sahar, Analyst, Filmemacher und Chief Editor von Staatsräson Monitor
  • Salam Said, Wirtschaftswissenschaftlerin
  • Ilyas Saliba, Associate Fellow, Center for Applied Research in Partnership with the Orient Bonn
  • Juan Manuel Santos, Vorsitzender The Elders; ehem. Präsident Kolumbiens; Friedensnobelpreisträger
  • Mithu Sanyal, Autorin, Journalistin, Kulturwissenschaftlerin
  • Bente Scheller, Politikwissenschaftlerin und Publizistin
  • Ingo Schendel, Nahost-Experte
  • Prof Oliver Schlumberger, Eberhard Karls Universität Tübingen
  • Dr. Thomas Schmidinger, University of Kurdistan Hewlêr; Universität Wien
  • Moritz Schmoll, Assistant Professor für Politikwissenschaft, University Mohammed VI Polytechnic
  • Marcus Schneider, Politikwissenschaftler
  • Stefanie Schüler-Springorum, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin
  • Alexander Schwarz, European Center for Constitutional and Human Rights
  • Melanie Schweizer
  • Daniel Seidemann, Terrestrial Jerusalem
  • Alexandra Senfft, Autorin und Journalistin
  • Katja Setzkorn, Anthropologin
  • Muhammad Shehada, Palästinensischer Autor und Analyst aus Gaza; Visiting Fellow beim European Council on Foreign Relations
  • Sebastian Sons, Politik- und Islamwissenschaftler
  • Christian Sterzing, Autor und Publizist; Mitglied des Deutschen Bundestages a.D.
  • Friederike Stolleis, Ethnologin und Islamwissenschaftlerin
  • Simone Susskind, Gründerin von Actions in the Mediterranean; ehem. Mitglied des Brüsseler Regionalparlaments; Doctor Honoris Cause der Université Libre de Bruxelles
  • Tobias Thiel, Experte Naher / Mittlerer Osten und Afrika
  • Dr. Hanan Toukan, Universität Salzburg
  • Achim Vogt, Politikwissenschaftler
  • Gabriele vom Bruck, Fachbereich Anthropologie, School of Oriental & African Studies, University of London; PhD, London School of Economics; zur Zeit Emerita
  • Hanna Voß, Politikwissenschaftlerin und Journalistin
  • Alexander Weber, Humboldt-Universität zu Berlin
  • Irene Weipert, PRIF Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt a.M.
  • Isabelle Werenfels, Senior Fellow, Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten, Stiftung Wissenschaft und Politik
  • Charlotte Wiedemann, Journalistin und Autorin
  • Dr. Peter Wien, University of Maryland, College Park, USA
  • René Wildangel, Historiker, Autor und Nahost-Analyst, Berlin
  • Dr. Eckart Woertz, GIGA Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien
  • Dr Anna Würth, Islamwissenschaftlerin
  • Anja Zorob, Islam- und Staatswissenschaftlerin
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