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Wer hat Angst vor dem Völkerrecht?

Die Untätigkeit der nationalen Gesetzgeber als Herausforderung (auch) für die Völkerrechtler

11.08.2014

Eine Replik auf Evelyne Schmid

Evelyne Schmid plädiert in ihrem Beitrag dafür, dass sich Völkerrechtler*innen stärker mit den Unterlassungen durch nationale Gesetzgeber befassen sollten. Sie weist dabei zu Recht auf einen weißen Fleck in der – ansonsten doch reichen und umfassenden – Diskussion über das Verhältnis zwischen Völker- und Landesrecht hin. Schreiben völkerrechtliche Verträge gesetzgeberische Massnahmen durch die einzelnen Staaten vor, sieht sich die Legislative oft gar nicht bemüssigt, entsprechende Umsetzungsmassnahmen zu treffen. Es droht ein empfindlicher implementation gap.

Warum aber sollten gerade Völkerrechtler*innen sich mit den Unterlassungen der nationalen Gesetzgeber befassen? Schließlich sind sie gemäß der klassischen Arbeitsteilung zwischen Völker- und Landesrecht nicht die primären Ansprechpersonen für die Beurteilung der Tätigkeit der nationalen Gesetzgeber. Und: hat nicht die demokratisch gewählte und entsprechend legitimierte nationale Legislative das letzte Wort im Staat? Dass (auch völkerrechtliche) Verträge einzuhalten sind und völkerrechtliche Verpflichtungen durch nationales Recht umzusetzen sind, sind andererseits Binsenwahrheiten. Warum also dieser Fokus und was ist genau Gegenstand der von Schmid geforderten rechtsdogmatischen, theoretischen und soziologischen Auseinandersetzung? Man darf gespannt sein auf Schmids weitere Analysen. Zu bedenken ist dabei in praktischer Hinsicht – noch vor den Fragen nach der Staatenverantwortung und den Sanktionsmechanismen, welche das Völkerrecht kennt, wenn ein Staat den entsprechenden Pflichten nicht nachkommt – stets die Unbestimmtheit vieler völkerrechtlicher Normen. So ist es oftmals ganz unklar, welches der genaue Inhalt der Verpflichtung ist. Zudem befördert wohl die ursprüngliche Kompetenz von Vertragsparteien, völkerrechtliche Verträge auszulegen, den von Schmid aufgedeckten Missstand. Jedenfalls lässt sich Schmids Beitrag auch als Plädoyer dafür verstehen, die ohnehin nicht mehr mögliche, strikte Arbeitsteilung zwischen Völkerrecht und nationalem Recht noch stärker aufzubrechen. Denn das Problem, das hinter der monierten Untätigkeit der nationalen Gesetzgeber steckt und auf das Schmid den Finger legt, entspringt genau einer rigorosen Realisierung dieser Arbeitsteilung. Es geht bei der Frage, warum sich Völkerrechtler*innen mit den Unterlassungen nationaler Gesetzgeber befassen sollten, deshalb nicht nur um das das Zusammenspiel zwischen Völkerrecht und nationalen Rechtsordnungen, sondern letztlich auch um die Bedeutung des Völkerrechts an sich und um das Verständnis von staatlicher Souveränität sowie Staatlichkeit überhaupt. Wird das Völkerrecht nicht mehr nur als Recht der Kooperation zwischen souveränen Staaten, sondern mehr und mehr als eine objektive Rechtsordnung mit vertikaler Wirkung verstanden („Konstitutionalisierung des Völkerrechts“), erweitert sich auch dessen Anwendungs- und Einflussbereich im staatlichen Bereich. Der Aufruf von Schmid erscheint vor dem Hintergrund dieser Auffassung nur folgerichtig. Dabei zeigt Schmid anschaulich die Widersprüchlichkeiten auf, die mit dem Eingehen völkerrechtlicher Verpflichtungen in Kauf genommen werden, sind fehlende effektive Durchsetzungsmechanismen des Völkerrechts doch von den Staaten oftmals so gewollt.

In der Schweiz entspricht das Plädoyer von Schmid einem dringlichen Anliegen. Dies belegt nicht nur das von Schmid angeführte Beispiel der mangelnden Bereitschaft zur umfassenden Umsetzung der UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, welche zusätzliche legislatorische Massnahmen im Bereich des Diskriminierungsschutzes verlangt. Auch beispielsweise der Schutz vor Rassendiskriminierung ist in der Schweiz nach wie vor rechtlich nicht ausreichend gesichert, wie der Ausschuss der UNO zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD) in seinen Concluding observations vom 13. März 2014 bemängelte. Zeit für die Umsetzung dieser nicht neuen Desiderate stand dem schweizerischen Gesetzgeber ausreichend zur Verfügung: Die Antirassismuskonvention trat für die Schweiz am 29. Dezember 1994 in Kraft.

Schmids Appell für eine bessere Umsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch die Gesetzgeber ist angesichts der aktuellen politischen Auseinandersetzung über die Bedeutung des Völkerrechts in der Schweiz keineswegs belanglos. Das politische Klima erscheint hier in letzter Zeit geradezu als völkerrechtsfeindlich. Skepsis gegenüber dem Völkerrecht, immer öfters als „fremdes Recht“ bezeichnet, wird insbesondere durch die Schweizerische Volkspartei in populistischer Manier seit längerem, neuerdings auch durch andere etablierte Parteien mit zweifelhaftem Erfolg geschürt. Dies belegen die Resultate verschiedener Volksabstimmungen wie etwa der Verwahrungsinitiative (2003), der Minarettverbotsinitiative (2009), der Ausschaffungsinitiative (2010) und jüngst der Masseneinwanderungsinitiative (2014). Das Argument, dass diese Volksbegehren mit völkerrechtlichen Normen kollidieren, hinderte die Mehrheit der Stimmbürger*innen sowie der Stände nicht daran, die Initiativen anzunehmen. Manche Medien haben dabei eine unrühmliche Rolle gespielt und die Stimmung aufgeheizt. Sie kritisieren beispielsweise missliebige oder schwer umsetzbare Urteile des EGMR harsch, was wiederum von politischer Seite aufgegriffen wird, um die „fremden Richter“ und das „fremde Recht“ als solches anzugreifen. Dass die Europäisierung und Internationalisierung der Rechtsordnungen nicht nur einen Kompetenz- und Souveränitätstransfer mit sich bringen, sondern auch zu neuen Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen für die einzelnen Staaten führen, scheint in mehrheitsfähigen Kreisen in der Schweiz in Vergessenheit zu geraten. Es ist daher zu hoffen, dass das Plädoyer von Schmid hier auf fruchtbaren Boden fällt und sich (auch) die Völkerrechtler*innen vermehrt ihrer Verantwortung hinsichtlich der nationalen Gesetzgebung bewusst werden.

 

Dr. Anne Kühler, LL.M. (Columbia) ist Oberassistentin am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich und forscht derzeit insbesondere zu Fragen der Europäisierung des Rechts.

 

Cite as: Anne Kühler, “Wer hat Angst vor dem Völkerrecht?: Die Untätigkeit der nationalen Gesetzgeber als Herausforderung (auch) für die Völkerrechtler”, Völkerrechtsblog, 11. August 2014, doi: 10.17176/20170105-180017.

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Anne Kühler
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